Geisteswissenschaften ohne Geist

Einst bezeichnete der Homo sapiens das Geschäft des Weisen, der die richtige Mitte zwischen Allgemeinem und Besonderem findet. Als der Homo faber und der Homo oeconomicus sich aus dem Verbund mit dem Homo sapiens lösten, begann die Geschichte des eindimensionalen Menschen. Und heute? Ein Plädoyer für den Homo oecologicus als postmodernen Nachfolger des Homo sapiens.

VON ANNEMARIE PIEPER

Unser abendländisches Menschenbild hat sich in den knapp drei Jahrtausenden, für die uns schriftliche Zeugnisse überliefert sind, stark gewandelt. Dies lässt sich am Ideal des Weisen, wie es noch in der griechischrömischen Antike hochgehalten wurde, exemplarisch veranschaulichen.

Für Platon und seinen Schüler Aristoteles sowie für die Stoiker Seneca und Epiktet ist der Typus des Weisen keineswegs mit der Vorstellung eines ganz der Meditation hingegebenen Mannes verbunden, der sich in klösterlicher Abgeschiedenheit ausschliesslich auf den Fluss seiner Gedanken konzentriert. Vielmehr zeigt sich Weisheit – wie es der Name Philosophie signalisiert – gerade darin, dass man sie nie auf vollkommene, unübertreffliche Weise besitzt wie der Gott, sondern sie in einem Prozess lebenslangen Lernens nur erstreben kann.

Solches methodisch angeleitetes, wissenschaftliches Lernen bezieht sich auf den Nahbereich der Polis und deren Interaktionsstrukturen, aber auch auf den Kosmos und die Prinzipien des Seienden insgesamt. Es war vorzüglich der Metaphysiker, der im Entwurf von Ganzheits- und Einheitskonzepten die Totalität dessen, was ist und was gilt, systematisch zu ordnen versuchte, indem er die verschiedenen Formen des Wissens mitsamt ihren unterschiedlichen Gegenstandsbereichen in ein Modell integrierte, das es erlaubte, eine an sich heterogene Vielfalt zu einem Sinnganzen zusammenzufassen.

Ein ganzheitlicher Generalist

Homo sapiens ist nach antiker Auffassung der Name für einen Generalisten, der das Allgemeine nicht um des Allgemeinen willen in abstrakter Abgehobenheit für sich reflektiert, sondern um dem Besonderen seinen Platz im Konzept eines Ganzen anzuweisen, das die Folie abgibt, auf welcher dem Besonderen Sinn zugeschrieben werden kann. Weise ist danach derjenige, der es versteht, zwischen Besonderem und Allgemeinem hin und her zu gehen und dabei jene dialektische Mitte zu finden, in welcher sich die Vision des Allgemeinen auf je besondere Weise konkretisiert und empirische Gestalt annimmt.

Das Finden der richtigen Mitte zwischen Allgemeinem und Besonderem, normativem Entwurf und faktischem Sachverhalt ist sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht das Geschäft des Weisen, je nachdem ob er zum Beispiel Prozesse des Entstehens und Vergehens mittels des Prinzips der Bewegung erklärt oder in bezug auf gegebene politischsoziale Verhältnisse die Idee eines gerechten Staats entwickelt.

Das Erkenntnisvermögen, dessen sich der Weise bei der Ausübung seiner dialektischen Wissenschaft bedient, heisst traditionell Geist oder Vernunft (griechisch: nous). Die Tätigkeit des Geistes ist keine eigenständige; sie erfolgt nicht losgelöst von den übrigen Formen kognitiver Aneignung von Wissen, insbesondere von sinnlicher Wahrnehmung und Verstand. Mittels geistiger Prozesse werden im Gegenteil die durch die Wahrnehmung bereitgestellten empirischen Daten auf Verstandesbegriffe bezogen und in ein Gesamtkonzept von Wirklichkeit eingeordnet.

Der Geist behält demnach stets die Perspektive jenes übergeordneten Ganzen im Auge, das eine Gesamtsicht der Dinge repräsentiert; diese überschreitet die beobachtbare und die rational rekonstruierbare Welt hinsichtlich eines dieser Welt kontrafaktisch unterstellten Sinns. Zusammenfassend könnte man also sagen: Der antike Weise zeichnet sich durch eine umfassende Allgemeinbildung und durch Urteilskraft aus; dadurch besitzt er eine geistige Beweglichkeit sowohl in theoretischen wie in praktischen Angelegenheiten.

Der eindimensionale Mensch

Nun hat sich mit der zunehmenden Spezialisierung des Wissens die geistige Perspektive des Homo sapiens immer mehr verflüchtigt. Homo faber und Homo oeconomicus haben sich aus dem Verbund mit Homo sapiens gelöst und ihre Perspektiven technischen beziehungsweise zweckrationalen Handelns verabsolutiert und damit jenen Typus des eindimensionalen Menschen zum Ideal erhoben, von dem Herbert Marcuse 1964 gesprochen hat. Aber schon Friedrich Schiller hatte den Verlust der Ganzheit des Menschen in seinen Briefen «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» heftig beklagt. So heisst es im 6. Brief:

Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoss und, wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurde jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens.

Schiller beschreibt hier eindrücklich die Geistlosigkeit des Homo faber und des Homo oeconomicus mittels der Maschinenmetapher. Technische Instrumentalität in höchster Perfektion und wirtschaftliche Nutzenerwägungen auf der Grundlage des Rationalisierungsprinzips haben Homo sapiens die Weisheit ausgetrieben, indem sie das antike Ganzheitsideal durch das Ideal eines von selbst sich steuernden Mechanismus ersetzten, der kein Zuviel kennt und, einmal in Gang gesetzt, reibungslos funktioniert.

Ohne Ideen keine Visionen

Die aus dieser Reduktion menschlicher Tätigkeiten auf maschinelle Abläufe hervorgegangene Verarmung ist heute in allen Dimensionen unserer Lebenswelt spürbar. Kreative Entwürfe einer metaphysischen Gesamtwirklichkeit haben im Bereich theoretischen Wissens ebenso abgedankt wie im Bereich praktischen Wissens die utopischen Konstrukte einer humanen Weltgesellschaft.

Doch der Verlust ihrer sinnstiftenden Orientierungsfunktion wird durch Wissenschaft, Wirtschaft und Technologien nicht wettgemacht, denn diese ermangeln des Geistes und der Weisheit, insofern sie nicht das Ganze im Auge haben, auf dessen Folie Ziele gesetzt werden können, welche dem Menschen und der Natur gerecht werden.

Kantisch gesprochen ist es der Bereich der Vernunftideen, der als verzichtbar erachtet wird. Ohne Ideen jedoch – Ideen wie Gott, Seele, Welt, Freiheit, Menschenwürde – bleiben Visionen aus, in denen der Mensch ganz Mensch ist, weil ihm mit Schiller gesagt ein Freiraum eröffnet wird, in dem er spielen kann.

Das Spiel als Metapher für den künstlerischgestaltenden Umgang des Menschen mit seinesgleichen und seiner Umwelt rückt eine Gegenwelt zu der durch die Maschinenmetapher charakterisierten Lebensform in den Blick, in welcher der einzelne nur noch als Rädchen fungiert, ohne von dem Ganzen eine Vorstellung zu haben, geschweige denn an der Konzeption dieses Ganzen beteiligt gewesen zu sein.

Ein Beispiel aus unserer Alltagswelt soll dies verdeutlichen. Es gibt heute kaum noch Allgemeinmediziner. Wer unter komplexen Beschwerden leidet, wird von einem Spezialisten zum anderen geschickt, die allesamt aus ihrer Perspektive ein Urteil abgeben. Aber niemand bringt all die Befunde und Daten zusammen und beurteilt sie wie noch der vielgerühmte Hausarzt alter Schule in Kenntnis der Persönlichkeit des Patienten. So landet dieser am Ende in der Psychiatrie, weil sich niemand für zuständig für seine Kopfschmerzen erklärt.

Ideologisches Nutzenprinzip

Nun kennt das szientistische Generalistentum, das naturwissenschaftliches Verfügungswissen und technisches Know-how mit ökonomischen Rationalisierungskonzepten verbindet, durchaus auch ein Allgemeines, das es mit verschiedenen Argumenten verteidigt.

Zum einen seien die Gedankengebäude der antiken und der mittelalterlichen Metaphysik aufgrund der veränderten Weltsicht des modernen Menschen, der nicht mehr an Gott glaubt, sondern sich als Produkt eines Evolutionsprozesses begreift, überflüssig geworden. Zum anderen hätten sich die geistigen Konstrukte des Homo sapiens allesamt als ideologieanfällig erwiesen, so dass der Verzicht auf utopische Gesamtentwürfe ein Gebot der Redlichkeit sei. Entsprechend müsse sich der enttäuschte, seiner Illusionen beraubte Mensch in den ideologiefreien Raum der Wissenschaft begeben, um die überbordende theoretische und praktische Vernunft mittels zweckrationaler Massstäbe rigoros zu beschneiden und auf das Nutzenprinzip als das für Homo faber verbindliche Allgemeine einzuschwören.

Davon abgesehen, dass auch die Reduktion aller menschlichen Verrichtungen auf das Nutzenprinzip eine ldeologie ist, insofern sie die Perspektive eines im mathematischen Kalkül aufgehenden Verstandes verabsolutiert, stellt sich die Frage, ob die Einwände gegen die Ganzheitsprojektionen von Homo sapiens, so plausibel sie im einzelnen sein mögen, zu der Forderung berechtigen, solche Konstrukte durch Modelle zu ersetzen, die den technisch-ökonomischen Verstand befriedigen.

Ohne bestreiten zu wollen, dass die Errungenschaften von Homo faber und Homo oeconomicus unser Weltbild zutiefst geprägt haben und dass die Menschheit, um zu überleben, auf sie angewiesen ist, scheint mir eine Wiederanbindung der technisch- instrumentellen Rationalität an die ideellen Leistungen einer ganzheitlich ausgerichteten theoretischen und praktischen Vernunft dringend nötig, um einen normativen Horizont zurückzugewinnen, vor dem menschliche Zielsetzungen als sinnvoll eingesehen werden können.

Ob wir gänzlich neue Ideen brauchen oder alte Ideen wiederbeleben können, wäre zu prüfen. Zum mindesten ist es kurzschlüssig, die einem humanistischen Ideal verpflichteten Konzepte von Homo sapiens deshalb für gescheitert zu erklären, weil ihre Umsetzungen fatale Folgen gehabt haben. Ideen als normative Ganzheitskonzepte verlieren ihre Gültigkeit nicht durch misslungene Umsetzungsversuche. Sonst müssten wir zum Beispiel auch einräumen: Die meisten Menschen haben ihren eigenen Vorteil im Auge, den sie mit allen Mitteln zu maximieren trachten; verzichten wir also auf das Prinzip der Gerechtigkeit, wenn sich ohnehin kaum einer danach richtet. Oder: Die wissenschaftliche Forschung, etwa im Bereich der Medizin, legitimiert sich durch gesellschaftlich erwünschte Therapiemöglichkeiten, in Wirklichkeit geht es jedoch nur um Prestigegewinne und damit verbundene Marktvorteile; also streichen wir das Ethos des Wissenschaftlers, der um des Wohls kranker Menschen willen forscht.

Selbstreflexivität der Geisteswissenschaften

Mein Plädoyer für die Geisteswissenschaften läuft darauf hinaus, dass man ihr Potential besser nutzt, um die Probleme, die uns heute weltweit bedrängen, in den Griff zu bekommen. Damit könnte dem szientistischen Missverständnis begegnet werden, dass allein kausalmechanische Erklärungsmuster Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben dürfen und nur sie geeignet sind, unsere globalen Konflikte zu lösen.

Auch die Geisteswissenschaften haben ihre Methoden, mit denen sie ihre Gegenstände aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten: hermeneutische, dialektische, analogische, teleologische Methoden zum Beispiel. Diese Methoden als unwissenschaftlich abzuqualifizieren, ist ein Fehler, der sich längst gerächt hat.

Der Gesichtspunkt der Selbstreflexivität, der für geisteswissenschaftliche Methodenüberlegungen und Argumentationsformen konstitutiv ist, kann wissenschaftstheoretisch gar nicht genug gewürdigt werden, denn er erinnert ständig an die je neu zu entwerfende, einvernehmlich zu umreissende Idee des Ganzen, die als normatives Konstrukt respektive als Sinnkonzept notwendig unterstellt werden muss, damit Problemlösungsvorschläge gerechtfertigt werden können.

Wie können wir die Dimension der Weisheit des Homo sapiens wieder stärken, die nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in den Geistes, Sozial- und Kulturwissenschaften immer mehr verloren geht, weil auch letztere ihr Erbe einer universalen Bildung über Bord werfen, um nicht unter die Räder der Effizienzkriterien zu kommen?

Wie kann man, mit Pestalozzi gesprochen, die Tätigkeiten von Kopf, Herz und Hand wieder in einem ganzheitlichen Sinn kooperieren lassen, nachdem Homo faber vom Kopf nur die Zweckrationalität und Homo oeconomicus von der Hand nur die Bedienungsfunktion abstrahiert haben, wobei sich beide darin einig sind, dass das Herz in einer mechanistisch materialistisch orientierten Denkform funktionslos ist und allenfalls im Privatbereich noch eine Bedeutung hat?

Vorschläge für die Praxis

Ich plädiere für den Homo oecologicus als postmodernen Typus des Homo sapiens. Er bezieht, nicht nur um seiner selbst willen, sondern auch in Verantwortung gegenüber den späteren Generationen den oikos, den Aufenthaltsort des Menschen, mit in seine Überlegungen ein und reflektiert das gesamte Netzwerk mit, in welches die Menschheit eingeflochten ist.

In Anbetracht dessen, dass die schmale Kompetenz, die man den Frauen in patriarchalen Gesellschaften zugebilligt hat, auf den oikos bezogen war, sollte man sich die Weisheit der Frauen zunutze machen, so wie einst Parmenides sich durch Dike über die Voraussetzungen der Wahrheit und Sokrates sich von Diotima über das Wesen des Eros belehren liessen.

Die drei genannten Strategien sollen dazu beitragen, dass der Geist in die Wissenschaften zurückkehrt, indem das Spezialistentum seine Grenzen anerkennt und damit der Weisheit wieder eine Chance gibt.

Leicht gekürzter Nachdruck aus «Zukunft der Geistes- und Sozialwissenschaften». Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, November 1997.


Prof. Dr. Annemarie Pieper ist ordentliche Professorin für Philosophie an der Universität Basel.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 22.12.98