Wenn die Energien zu fliessen beginnen

Studentinnen und Studenten konnten sich im Sommersemester 1998 im Blockseminar «Kreativität beim wissenschaftlichen Arbeiten» mehr als nur Anregungen holen für ihre eigenen wissenschaftlichen Arbeiten. Enge fachliche Vorgaben wurden relativiert und persönliche Kompetenzen freigesetzt. Ein Bericht aus der Kreativitätswerkstatt.

VON BRUNO KRAPF

Wer kreatives Arbeiten unterstützen will, wird versuchen, die elementaren Aussagen aus der Kreativitätslehre zu berücksichtigen. Dazu gehören insbesondere psychologisch begründete Statements. Es ist wichtig, dass die Menschen ihre eigene Balance zwischen Sicherheit und Risiko in der realen Situation finden können. Sicherheit vermitteln kann das Private, das Sprechen mit den Mitstudierenden. Sicherheit entsteht auch dort, wo die Menschen ihre eigenen Entscheidungen treffen können, und dort, wo sie Zeit haben, in Ruhe das zu tun, was für sie angemessen ist.

Daher bat ich die Studentinnen und Studenten, die im Sommersemster 1998 am Blockseminar «Kreativität beim wissenschaftlichen Arbeiten» teilnahmen, nachdem ich sie am grossen runden Tisch im Seminarraum begrüsst hatte, sie möchten doch mit jemandem Kontakt aufnehmen und etwas aus der eigenen Projektarbeit berichten. Was und wie, das blieb offen. Es war auch möglich, ins Nebenzimmer zu gehen, den Raum zu verlassen oder im Haus herumzuwandern.

Nach einiger Zeit erzählten die Zuhörerinnen und Zuhörer der Runde, was sie soeben vernommen hatten. So entstanden erste Fremdbeschreibungen eigener wissenschaftlicher Projekte. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten feststellen, wie anders die Berichte aus fremdem Munde, aus einer anderen Sicht tönten. «Es gibt gar nichts zu verändern und zu verbessern – ausser der eigenen Sichtweise», schreiben Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke im Buch «Krankheit als Weg».

Die Idee der Tiefung

Wir wussten jetzt über unterschiedlichste Themen Bescheid, hatten jedoch nur wenig Ahnung, wie wichtig das jeweilige Thema für die betreffende Person ist.
Kreatives Arbeiten – das eine Arbeitshypothese – kommt dort eher zustande, wo die Gesamtpersönlichkeit für die Arbeit zur Verfügung steht. Energie muss fliessen. Die Lebensgeschichte und gegenwärtige Wertvorstellungen, intellektuelle Ausrichtung und Bedeutungshorizont sind wesentliche Aspekte, die der wissenschaftlichen Arbeit Sinn geben.

Wieder versuchten wir, diese Aspekte gestaltend einzulösen. Einige Interessengruppen hatten sich schon gebildet. Themen schienen besondere Bedeutung zu haben, weil sie vielleicht ähnlich oder gerade extrem unähnlich waren. In diesen Gruppen wurde versucht, im Sinne einer analytischen Tiefung zu erkennen, was denn Person und Thema miteinander zu tun haben könnten. Überrascht von der vordergründigen Banalität der Wirklichkeit, liessen wir nicht nach, über die Feststellung «Mir wurde die Arbeit aufgetragen» hinauszukommen. Wo, fragten wir, sehe ich den Sinn meiner Tätigkeit? Wo betrifft sie mich als Person? Und was verschafft mir jenen Energiefluss, von dem in den Arbeiten zur Kreativität immer wieder die Rede ist?

Wertorientierung oder Erwartungsorientierung?

Die Werte, die bei den verschiedenen Arbeiten zählten, waren meist von persönlicher und objektiver Bedeutung. Die Erwartungen spiegelten die Art und Weise, wie Studierende gelernt hatten, sich in der wissenschaftlichen Welt zurechtzufinden. Es ging um Theorien, um Methoden und um die vorschriftsgemässe Art der Darstellung.

Forschen hiess bei vielen, sich ganz den objektiven Gegebenheiten unterordnen. Und nun war da plötzlich spürbar, dass vielleicht dieses Nichtbeachten der eigenen Person zu der offensichtlichen Schwerfälligkeit beim Arbeitsverlauf geführt hatte. Die Hypothese lautete: Je mehr sich die Person mit dem Forschungsgegenstand verbunden fühlt, desto grösser ist der Einfallsreichtum, die Methodensicherheit und die Qualität der Ergebnisse.

Die Orientierung an den wertvollen Aspekten der einzelnen Arbeiten führte zu einer weiteren sichtbaren Veränderung in der Gruppe. Je länger, je mehr zeigte es sich, welche individuellen Qualitäten hier repräsentiert waren.

«Ich kann das Wesentliche vom Unwesentlichen sicher unterscheiden.»
«Ich kenne mich in der Literaturrecherche aus.»
«Ich kenne die Textgestaltungsvorschriften.»
«Ich kann Texte nach kurzer Einarbeitung perfekt wiedergeben.»

Solche Fähigkeiten waren in grosser Zahl vorhanden. Sie brauchten nur genutzt zu werden.

Bald entstanden Kleingruppen, in denen je eine Person ihre besonderen Fähigkeiten unter Beweis stellte und sie auch gleich anderen Interessierten zugute kommen liess. Wertorientierung führt offensichtlich dazu, dass Solidarität vor Wettbewerb zu stehen kommt.

Nur ein einziges Mal hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars erlebt, was es heisst, so viele Fähigkeiten auf einmal zur Verfügung zu haben, und schon begannen sie sich selbständig zu organisieren. Die Arbeiten wurden herumgeboten und Ideen, die andernorts entstanden waren, den eigenen Bedürfnissen angepasst, in ungewohnter Weise kombiniert, bis auf ein Merkmal reduziert oder im Sinne der Teilveränderungsmethode angepasst. Es war leicht, die Kreativmethoden unmittelbar an den Tätigkeiten der einzelnen Personen abzulesen.

Kreativitätstheoretische Analyse

Wird das Seminargeschehen insgesamt analysiert, ergeben sich neben den bereits erwähnten Hypothesen, die die Gestaltung der Arbeit wesentlich beeinflusst hatten, noch ganz andere Eigenheiten.

Auffallend ist das Entstehen einer Struktur und das sukzessive Erscheinen eines Zielhorizontes. Erst im Laufe der Arbeit ist klar geworden, welche Inhalte in der Gruppe strukturbildend wurden. Indem die Beiträge der verschiedenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Flipchartformat visualisiert wurden, ergaben sich durch Zusammenarbeit intellektuelle Strukturen, die die Einzelleistungen bei weitem übertrafen.

Ziele wurden in einem allgemeinen Zielhorizont sichtbar und hatten bis zum Schluss eine unterschiedliche Prägnanz. Strukturbildung und Zielfindung sind in der Kreativitätslehre von besonderer Bedeutung. Vorgegeben führen sie notwendigerweise zur Anpassung. Dem Entstehen anvertraut, spinnt sich zusehends eine Vernetzung von hoher Komplexität.

Zeitraum und Bewegungsraum unterstützten das Verweilen. Die Langsamkeit, die sich bei der Kleingruppenarbeit einstellte, war überall dort hilfreich, wo die Verbindung zwischen Person und Sache erst angebahnt werden musste. Es war Raum da für Bewegung. Bewegung in der Betrachtungs- und Erlebniswelt, Bewegung aber auch beim Wandern, grossformatigen Zeichnen, bei der Nutzung von Symbolgegenständen, ja auch durch den Einbezug von fremden Personen. Hier war es leicht, die eigenen Konzepte für eine Weile warten zu lassen, dem Ankommen Zeit zu lassen oder gar nein zu sagen. Raum lässt vieles zu, was im Lehrgang keine Beachtung findet.

Fraktales Lernen

Offensichtlich kommen in einem so gestalteten Lernraum viele Eigenheiten zur Geltung, die auch in der Theorie der fraktalen Geometrie diskutiert werden. Die Tiefung führte bald einmal dazu, dass in ganz unterschiedlichen Themen analoge Erfahrungen gemacht wurden. Vergleicht man die Gesamtkonzeption der Arbeit mit Teilen aus der Arbeit, verblüfft die Selbstähnlichkeit des Ganzen mit Fraktalen (gebrochenen Teilen) in einzelnen Abschnitten. Auf diese Ähnlichkeiten aufmerksam geworden, tauchten Selbstähnlichkeiten zu früheren Arbeiten auf, und von da an war der Weg nicht weit, Selbstähnlichkeit auch in fremden Texten zu entdecken.

Selbstähnlichkeit wird dann am ehesten gefunden, wenn die Komplexität eines Untersuchungsgegenstandes oder eines Textes erhalten bleibt. Beim Versuch, den analytischen Weg zu vermeiden, entsteht eine Wahrnehmungsdifferenzierung, die die «gleiche» Sache in immer neuem Lichte und in immer neuer Distanz, einmal näher, einmal entfernter betrachten hilft und dazu führt, dass aus der Tatsache eine Menge von «Sachen» entstehen.

Das System wird selbstreferentiell und generiert aus sich selbst unerwartete Erkenntnisse. Erst jetzt ist es möglich, die Dynamik zu erkennen, die zwischen den Betrachtungsweisen wirkt. Damit wird eine Qualität entdeckt, die im eigentlichen Sinne unvorhersehbar war. Dass in einem solchen System selbst mikroskopische Störungen zu einer völlig neuen Einschätzung der Bedeutung des Sachverhalte führen, sei hier nur ergänzend erwähnt, weil ja diese «Störungen» insbesondere dort auftreten, wo eine Person ihre eigenen Vorstellungs- und Denkmuster verändern muss.

Persönlichkeitsvariablen und Lernausrichtung

Konsultiert man die Kreativitätshypothesen aus ganz verschiedenen Theoriekonzepten, lassen sich immer wiederkehrende Akzente erkennen. Kreativität soll sich dann einstellen, wenn

Mihaly Csikszentmihalyi hat versucht, die Persönlichkeitsvariablen zu finden, die für kreative Menschen von Bedeutung sein sollen. Im Vergleich zu den «Wenn-Forderungen» von oben ergibt sich ein hoher Grad von Übereinstimmung. Neu ist vielleicht, dass Kreativität gegensätzliche Haltungen und Fähigkeiten bei der gleichen Person in markanter Ausprägung verlangt.

Wenn wissenschaftliche Erkenntnis Bedeutung hat, dann hat sie es, weil die Regeln zur Erkenntnisgewinnung klar sind und damit das Ergebnis nachvollziehbar oder sogar wiederholbar ist. Darauf gründet der Erfolg der Wissenschaft.

Kreativität hat für viele Menschen den Charakter des Zufälligen. Der Glückspilz Friedrich August Kekulé, so wird es mindestens erzählt, hat den Benzolring im Jahre 1865 im Traum entdeckt. Das Heureka im Munde des Forschers sei anekdotisch, wird argumentiert, und es habe mit der harten täglichen Arbeit in der Forschung nichts zu tun.

Gleichzeitig wird hingenommen, dass die Erfindung neuer Instrumente in der Forschung zu ganz neuen Erkenntnissen führen kann. So sind die Hirnforscher seit der Erfindung des Computertomographen und seiner Nachfolgegeräte heute in der Lage, Erkenntnisse zu formulieren, die den bisher gültigen Naturgesetzen widersprechen. Wir wissen aus der Wissenschaftsgeschichte, dass zahlreiche Nobelpreisträger den Preis für eine Entdeckung bekommen haben, nach der sie nie gesucht hatten.

Mut zur Wahlfreiheit

Diese Beobachtungen weisen darauf hin, dass wissenschaftliche Erkenntnis nicht mit Wahrheit an sich gleichzusetzen ist. Wissenschaftliche Forschung führt dazu, dass aufgrund präziser Arbeit und kritischer Auseinandersetzung eine grosse Übereinstimmung bei der Interpretation von Phänomenen und den Folgerungen zu einem Sachverhalt erzielt wird. Unter den gegebenen Bedingungen und den zur Verfügung stehenden Methoden darf man sagen, dass die betreffende Aussage gilt.

Damit ist das Feld frei für Kreativität beim wissenschaftlichen Arbeiten. Es ist Platz da für ganz neue Methoden, für neue Sichtweisen, es ist erlaubt, etwas so zu sehen, wie es noch nie gesehen wurde. Ernst von Glasersfeld hat am Konstruktivismuskongress in Heidelberg im Juni dieses Jahres umfassend dargestellt, wie die wissenschaftliche Forschung keine «Verdoppelung» der Wirklichkeit erzeugen könne, sondern, in Anlehnung an Jean Piaget, stets dabei sei, Wirklichkeit als Ergebnis der Anpassung zu konstruieren. Dass dabei mit grösster Sorgfalt, mit Ausdauer und Gewissenhaftigkeit vorgegangen wird, dafür möchte ich mich im Sinne der wissenschaftlichen Verantwortung einsetzen.

Damit geben wir unvermerkt die Gewissheit der Erkenntnis auf. Das Forschungsergebnis steht in einer ungewissen Distanz zur Wirklichkeit. Und die Voraussagbarkeit des Geschehens wird zur Illusion. «Man muss erkennen», schreibt Paul Davies, «dass der Determinismus dem neuen Paradigma zufolge keine Rolle spielt: Das Universum ist seiner Natur nach unvorhersagbar. Es hat sozusagen eine gewisse ‹Wahlfreiheit›, die dem herkömmlichen Weltbild vollkommen fremd ist. Immer wieder entstehen Umstände, unter denen sich viele mögliche Entwicklungspfade, die nach den zugrundeliegenden Gesetzen der Physik zulässig sind, eröffnen. Damit ergibt sich das Element des Neuen und der Kreativität, aber auch der Ungewissheit.»

Es kann natürlich nicht sein, dass das beschriebene Seminar mit dem Titel «Kreativität beim wissenschaftlichen Arbeiten» zur Nachahmung empfohlen wird. Das widerspräche dem Grundgehalt der Aussage. Der Beitrag möchte dazu aufmuntern, einen eigenen, kreativen Weg zu entdecken. Selbstähnlichkeit könnte sich dabei dennoch einstellen, selbst wenn Ungewöhnliches und Neues Wirklichkeit würde.


LITERATUR


Dr. Bruno Krapf ist Titularprofessor für Pädagogik, besonders pädagogische Psychologie und Didaktik der Erwachsenenbildung an der Universität Zürich.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 21.12.98