Fragmente einer Sprache des Körpers

Die Legenden, Sprichwörter und Schwänke über die Unzulänglichkeiten des menschlichen Körpers gehören genauso zu unserer Kulturgeschichte wie seine vielen anatomischen Erkundungen durch die Medizin und die Kunst. Rudolf Schendas vergnügliches Buch «Gut bei Leibe» zeugt davon.

VON CHRISTINE TRESCH

Rudolf Schenda: Gut bei Leibe. Hundert wahre Geschichten vom menschlichen Körper. C.H. Beck Verlag, München, 1998. 437 Seiten. Fr. 44.50.

Die Ausstellung «Corps à vif – art et anatomie», die diesen Sommer im Genfer Musée d‘art et d‘histoire zu sehen gewesen war, bot einen aufschlussreichen Querschnitt durch die Geschichte des zerlegten Körpers in der bildenden Kunst. Eine hochdotierte kulturgeschichtliche Anatomiestunde, die aufzeigte, dass Chirurgen und Künstler sich durch die Jahrhunderte mit nicht abnehmender Intensität und Neugier dem menschlichen Körper genähert haben.

Wenn der emeritierte Ordinarius für Europäische Volksliteratur Rudolf Schenda in seinem neuen Buch «Gut bei Leibe. Hundert wahre Geschichten vom menschlichen Körper» medizinische Berichte, Sprichwörter und literarische Episoden über den Körper zu einem unterhaltsamen und vielschichtigen Textkörper webt, dann liefert er zu den Bildern, wie sie in Genf zu sehen waren, mehr als nur das Wort, nein, eine ganze Kulturgeschichte dazu.

Die Genfer Ausstellung und das Buch von Rudolf Schenda zeigen aufs deutlichste, dass der Körper seit der Aufklärung die Geister beschäftigte. Der heutige Körperkult hat seine Wurzeln also auch in der Vergangenheit, verändert hat sich im 20. Jahrhundert vor allem sein medial vermittelter, globaler Absolutheitsanspruch.

Mit Haut und Haar bei der Sache

Rudolf Schenda verfolgt keinen analytischen Ansatz. Der ungeheure Fundus, aus dem er schöpfen kann, macht es ihm leicht, ein Buch vorzulegen, das in erster Linie unterhalten will. In einem ausführlichen Vorwort legt der Autor dar, wie er dazu gekommen ist, die «höchst wechselhafte, ja geradezu wetterwendische Angelegenheit» Körper, Gesundheit und Krankheit in einem «historischen und geografischen Kulturvergleich» zu betrachten. Ihm Folgen zehn Kapitel, angefangen mit «Haut und Haar» – der Hülle, die diesen Körper zusammenhält –, «Kopf und Kragen» bis zu «Gemächt und Geschlecht» und «Hand und Fuss», die Schenda wiederum nach Stichworten unterteilt.

Essig gegen Kopfschmerzen

Der Gedanke, dass hier Roland Barthes «Fragmente(n) einer Sprache der Liebe» Fragmente einer Sprache des Körpers beigesellt werden, ist vom methodischen Vorgehen sowie von der Materialfülle naheliegend. Der Autor erzählt mit Humor und Ironie alte Geschichten und zeitgenössische Stadtsagen, er teilt Seitenhiebe aus, wo sie angebracht sind, etwa gegen die Pharmaindustrie und ihre Kasse machenden Antischmerzmittel, und berichtet von alten Rezepten, denen nachzugehen sich manchmal sogar zu lohnen scheint. So empfahl etwa der Medizinmann Arnau von Villanov in einem Rezeptbüchlein um 1300: «Gegen die Kopfschmerzen machst du dir folgendes Mittel: Zur Hälfte Speiseessig und zur Hälfte Rosen- oder Veilchenessig; das nimmst du morgens, bevor es dich bedroht; wird gut nützen, und das Kopfweh wird vergehen.»

Aber auch LiebhaberInnen des Obskuren, wenn nicht sogar Grausligen kommen in «Gut zu Leibe» auf die Rechnung. Auch hier lohnt der Verweis aufs Museum. Juan de Valverde de Hamusco (1525 bis 1587) stellte in einem Bild einen skalpierten Mann dar, der in der linken Hand eine Schere hält und in der rechten seine Körperhaut wie eine Siegestrophäe. Beim Betrachten dieses Bildes muss man sich den historischen und metaphorischen Kontext selber erschliessen.

Mit den Füssen voran

In Schendas Buch lassen sich dazu Legendbildungen nachlesen, wie die des Apostels Bartholomäus, dem die Hagiographen zuschrieben, er sei vom grausamen König Astyages geschunden worden, und der deshalb in Gemälden mal mit einem scharfen Messer, mal mit dem eigenen Fell auf dem Arm dargestellt wird. Den identitäts- und lebensvernichtenden Enthäutungsmythen fügt Schenda ein Schwankmärchen aus dem Mittelmeerraum bei – eine hässliche Alte will geschunden werden, dass sie wieder so schön aussieht, wir ihre Schwester –, das im wörtlichen Sinn unter die Haut gehen.

Es liegt auf der Hand, dass es in dieser umsichtig gestalteten Kulturgeschichte Körperpartien gibt, die dem Spott mehr ausgesetzt sind als andere. So interessiert der Kopf die Allgemeinheit bei weitem mehr als etwa der Bauch, der den Medizinern überlassen wird. Vom Alpha zum Omega geht dieses unterhaltsame Buch, folgerichtig kommen am Schluss die Zehen dran: «Denn am Ende kommen die Füsse zuerst.»


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 22.12.98