VON CHRISTINE TRESCH
Der englische Fotograf Paul Graham meinte unlängst, dass die humanistische Tradition, welche die Dokumentarfotografie der Nachkriegszeit dominiert habe, im Begriff sei, sich selber zu überwinden. Graham, der zu den grossen Gegenwartsfotografen zählt, vertritt damit eine wichtige Strömung in der modernen Fotografie.
Fast anachronistisch muten in diesem Zusammenhang die Fotoarbeiten an, die wir in diesem Heft vorstellen. Sie folgen ganz der Tradition der klassischen Dokumentarfotografie. Nicht die künstlerische Kreativität steht in ihrem Zentrum, sondern absolute Präzision. Jede Aufnahme für sich allein genommen erscheint unspektakulär, oft sogar beliebig. Erst im Ensemble mit Bildern vom selben Ort, die sich einzig durch die Zeit ihres Entstehens unterscheiden, entfaltet sich eine Dynamik, der sich die BetrachterInnen nicht mehr entziehen können.
Der Zahn der Zeit
Hin und her geht der Blick fast so wie bei den Bilderrätseln, bei denen man die zehn Unterschiede herausfinden soll , man sucht die Differenzen, macht Spuren der Veränderung fest, erkennt den Zahn der Zeit.
Hier werden Eingriffe in die Landschaft festgehalten, die sich dem schnell an Neues gewöhnten Auge schon wieder entzogen haben: Fotografien als Stellvertreter für unsere brüchige Erinnerung; Fotografien als Spurensicherung alter Landschaftsverläufe, Siedlungsstrukturen oder Verkehrswege; Fotografien aber auch als Beleg dafür, dass nicht jeder Eingriff, der in einer Landschaft vorgenommen wird, a priori zu einer Verschandelung der Gegend führen muss.
Egal, ob hier die Entwicklung einer Agglomeration seit den siebziger Jahren verfolgt wird oder das Bild eines Bauernhofs im Emmental anfang Jahrhundert es wurde noch Torf gestochen mit einer heutigen Ansicht derselben Gegend konfrontiert wird: schon die ursprünglichen Bilder zeigten Landschaft, keine unberührte Natur. Es geht in diesen Aufnahmen nie um das Beschwören von Idyllen, sondern um das Bewahren und Aufheben von Wissen über die Umgebung, in der wir leben.
Diese systematischen Bestandesaufnahmen stammen von der gemeinnützigen Stiftung documenta natura. Über 25 000 Bilder aus allen Regionen der Schweiz haben sich im öffentlich zugänglichen Archiv der Stiftung in Bern in den elf Jahren ihres Bestehens schon angesammelt. Acht BerufsfotografInnen sind rund ums Jahr in der Schweiz unterwegs, arbeiten an fotografischen Langzeitstudien, erfassen neue Standorte, suchen nach historischem Material.
Die Kantone nehmen die Dienste der Stiftung in Anspruch, etwa wenn es um Aufforstungsprojekte geht; die SBB wollen im Zusammenhang mit NEAT und Bahn 2000 von documenta natura Landschaftsveränderungen festgehalten haben, um für die Renaturierung nach den Bauarbeiten wichtige Anhaltspunkte zu erhalten; Behörden und private Bauherren erleichtert die Arbeit der Stiftung ökologische Erfolgskontrollen.
Arbeit für die Zukunft
So konventionell die Arbeiten der Stiftung sein mögen im Vergleich zur zeitgenössischen Fotografie, wie sie in Museen und Galerien zu finden ist, so aktuell und eingebettet erscheinen sie im gesamtgesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs, wie er die neunziger Jahre beherrscht.
Fotoserien der Stiftung waren schon im Fotomuseum Winterthur zu sehen gewesen. Das belegt nicht nur den Interventionscharakter dieses Projekts, sondern auch, dass es sie sich in einem künstlerischen Umfeld, das die Interaktion von Kunst und Gesellschaft ins Zentrum stellt, behaupten kann.
Ein Projekt wie documenta natura ist auf Dauer angelegt und auf Nachhaltigkeit. Der Wert der Sammlung der Stiftung wächst mit jedem Jahrring, der einer Fotoserie zugefügt wird. Mit der Arbeit an Vergehendem wird in die Zukunft investiert.
Neuste Untersuchungen des Bundesamtes für Statistik sagen, dass in der Schweiz pro Sekunde ein Quadratmeter Land verbaut wird. Wenn wir uns dereinst fragen werden, was mit diesen Flächen alles passiert ist, werden bei documenta natura Antworten zu finden sein.
Stiftung documenta natura. Schauplatzgasse 26, 3001 Bern. Archiv: Muesmattstrasse 15, Bern. Telefon 031 302 98 28.
unipressedienst
Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 22.12.98