VON JÜRG GLAUSER UND SUSANNA FLÜHMANN
Als Adeline Rittershaus im Mai 1920 ihre Entlassung aus dem Lehrkörper der Universität Zürich beantragte, hatte sie die Schweiz schon verlassen und dachte «nur mit sehr verbitterten Gefühlen an dieses Land & speziell an Zürich» zurück. Während achtzehn Jahren hatte sie hier zuvor als erste Privatdozentin an der Philosophischen Fakultät I alt- und neuisländische Sprache und Literatur und neuere skandinavische Literatur gelehrt. Ihre universitäre Laufbahn, fast drei Jahrzehnte Frauengeschichte, bietet deshalb zugleich Einblick in die Anfänge der Nordistik an der Universität Zürich.
Adeline Rittershaus
setzte sich für eine bessere Schulbildung der Mädchen ein.
Geboren wurde Adeline Rittershaus 1867 im deutschen Barmen (Rheinland). Dort besuchte sie die zehnjährige Höhere Töchterschule, später ein Pensionat in Frankfurt am Main. Ab 1892 bereitete sie sich mit Privatunterricht auf die Maturitätsprüfung vor, die sie zwei Jahre später in Zürich ablegte. An der Universität Zürich studierte sie anschliessend Germanische Philologie und Pädagogik. Daneben studierte sie Griechisch, das sie 1897 mit einer Prüfung abschloss, und während 5 Semestern Sanskrit. 1898 promovierte sie bei Professor Bachmann mit der Arbeit «Ausdrücke für Gesichtsempfindungen in den altgermanischen Dialekten». Im selben Jahr reiste sie zum ersten Mal für längere Zeit nach Island, wo sie sich in den folgenden Jahren dem intensiven Studium der neuisländischen Märchen widmete. Weit über hundert «kerlingasögur», «Alte-Weiber-Geschichten», wie Märchen in Abgrenzung zu den verehrten Sagas auf Island lange Zeit verächtlich genannt wurden, stellte sie in ihrer umfangreichen Arbeit «Die neuisländischen Volksmärchen. Ein Beitrag zur vergleichenden Märchenforschung» vor, mit der sie sich im Sommer 1901 um die Habilitation bewarb. Da die «I. Sektion der H. Philosophischen Fakultät» bei der Behandlung einer «Vorfrage über Frauenhabilitationen» dazu tendierte, § 132 des Unterrichtsgesetzes, der nur «wissenschaftlich gebildete Männer» als Privatdozenten vorsah, wörtlich auszulegen, dauerte das Habilitationsverfahren länger als damals üblich. Nachdem aber Professor Bachmann Rittershaus aufgrund ihrer fachlichen Qualifikationen unbedingt empfahl und sich auch die Erziehungsdirektion für Frauenhabilitationen ausgesprochen hatte, erhielt sie die Venia legendi für alt- und neuisländische Sprache und Literatur am 20. Januar 1902. Eine Woche später, an einem Samstag, hielt sie mit ihrer Antrittsvorlesung über «Die erste Entdeckung Amerikas ums Jahr 1000 nach den isländischen Berichten» triumphalen Einzug in die heiligen Hallen. Laut einer Zeitungsnotiz im «Tages-Anzeiger» war der für den Vortrag vorgesehene Hörsaal schon lange vor Beginn der Veranstaltung überfüllt, und auch das grösste Auditorium der Universität, in das nachher gewechselt wurde, «konnte die mehrhundertköpfige Menge nicht fassen», die gekommen war, um die neue Privatdozentin, nach der Juristin Emilie Kempin-Spyri erst die zweite an der Universität Zürich, zu hören. Der «Tages-Anzeiger» weiter: «Ihre gediegenen und interessanten Ausführungen, die von grosser Sachkenntnis und fleissigen Quellenstudien Zeugnis ablegen, finden am Schlusse lebhaften Beifall, der bemerkenswerterweise von den Professorenbänken ausging. Ein an unserer Universität neues Ereignis.»
In ihrer fast zwanzig Jahre dauernden Lehrtätigkeit betreute Rittershaus zunächst den gesamten Bereich der altisländischen Sprache, Literatur und Mythologie. Später konzentrierte sie sich mehr auf die neueren skandinavischen Literaturen, ein Gebiet, auf dem sie an der Universität Zürich als Pionierin gelten kann. Von den Schwierigkeiten, einen universitären Fachbereich neu aufzubauen, zeugt u. a. ihr Gesuch an die Erziehungsdirektion im April 1908, ihr Kolleg über schwedische Literatur auf das folgende Wintersemester verschieben zu dürfen. Sie sei mit ihren Vorbereitungen im Rückstand, da sie alle Bücher und Schriften erst aus Schweden kommen lassen müsse.
Adeline Rittershaus begnügte sich nicht damit, ihre Universitätskarriere als ausserordentliches Privileg zu verstehen, sondern setzte sich engagiert für eine bessere Schulbildung der Mädchen und jungen Frauen ein. 1901 erschien ihre Schrift «Ziele, Wege und Leistungen unserer Mädchenschulen und Vorschlag einer Reformschule», in der sie sich für eine umfassende und nicht an den «rein weiblichen Anlagen» orientierte Erziehung und Bildung aussprach. Sie befand sich auch mehrere Male auf Vortragsreisen in Deutschland. Dass sie dies «zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts» tat, wie sie in einem Urlaubsgesuch festhält, wirft zudem etwas Licht auf ihre private Lebenssituation. Sie hiess zu jener Zeit Rittershaus-Bjarnason, hatte also irgendwann (aus den im Universitäts- und dem Staatsarchiv zugänglichen Akten ist davon nichts zu erfahren) den Isländer Bjarnason geheiratet. Mit ihm hatte sie auch eine Tochter, Ingeborg, für die sie zum Zeitpunkt ihrer Habilitation wahrscheinlich mehr oder weniger allein aufkommen musste. Später heiratete Rittershaus einen Mann namens Oberländer, von dem sie sich in einem sehr nervenaufreibenden Prozess um die Jahre 1915/16 wieder scheiden liess. Dies schien ihrem Ruf weit mehr zu schaden als seinem Folgen einer Logik, denen Scheidungsprozesse in der Schweiz noch bis weit in die sechziger Jahre hinein unterlagen. Rittershaus wurde nahegelegt, sich während des Prozesses für zwei Semester beurlauben zu lassen. Da ihr zu jener Zeit ausserdem ein Herzleiden zu schaffen machte und sie sich während einiger Semester krankheitshalber beurlauben lassen musste, wurde sie bei der alle drei Jahre, so auch im Sommer 1917, fälligen Erneuerung ihrer Venia legendi erneut mit Widerständen konfrontiert. Der Dekan, Professor Ermatinger, hielt dann in einem Brief an die Erziehungsdirektion allerdings doch fest, die Fakultät habe sich «auf den Standpunkt gestellt, dass diese moralisch-juristische Seite der Frage nicht ihre Sache sei und dass sie es lediglich mit der Prüfung der wissenschaftlichen Tätigkeit der Gesuchstellerin zu tun habe». Da Rittershaus' fachliche Qualitäten nie in Zweifel gezogen wurden ihre damaligen Vorlesungen über Björnstjerne Björnson, August Strindberg und Henrik Ibsen waren gut besucht , wurde sie als Privatdozentin bestätigt. Inzwischen hatte sich ihr frauenpolitisches Engagement auch in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit niedergeschlagen: Im Frühjahr 1917 erschien eine Arbeit mit dem Titel «Altnordische Frauen», in der sie die Situation der Frauen im Hochmittelalter in Skandinavien anhand der Beschreibungen in altisländischen Sagatexten untersucht und einzelne herausragende weibliche Saga-Persönlichkeiten porträtiert. Eine Vorlesung vom Wintersemester 1918/19 über skandinavische Frauenliteratur musste sie im Dezember aufgrund ernsthafter gesundheitlicher Probleme abbrechen.
Es sind deshalb sicher gesundheitliche Gründe, die sie am 21. Mai 1920 schliesslich dazu veranlassten, ihre Entlassung aus dem Lehrkörper der Universität Zürich zu beantragen. Allerdings hoffte sie, in Deutschland noch einige wissenschaftliche und literarische Arbeiten veröffentlichen zu können. Es wird in einem Abschiedsbrief an den damaligen Universitätssekretär Rüegger aber auch deutlich, dass sie die Anfeindungen und mangelnde moralische Unterstützung im Zusammenhang mit ihrem Scheidungsprozess noch nicht überwinden konnte, wenn sie schreibt: «Ich hatte immer gehofft, dass sich schliesslich doch noch ein tapferer und gerecht denkender Mann finden würde, der nach so vielen Jahren gemeiner Verleumdungen und Verfolgungen für mich eintreten & mir zu meinem nun so lange vorenthaltenen Recht verhelfen würde. Es scheint ein Traum bleiben zu sollen & so muss ich warten, bis ich durch meine ferneren Leistungen eine hoffentlich weite Öffentlichkeit aufkläre & Gerechtigkeit finde.»
Adeline Rittershaus starb am 6. September 1924 in Berlin an einem Herzschlag.
Bewertet man die drei wichtigsten Schriften Adeline Rittershaus' zur germanischen und nordischen Philologie aus heutiger Sicht, so ergibt sich etwa folgendes Bild: Nach der sehr soliden, traditionellen Doktorarbeit über altgermanische Ausdrücke für Sinnesempfindungen, die 1899 in Zürich erschien, legte sie mit der Habilitationsschrift «Die neuisländischen Volksmärchen» 1902 im renommierten Max Niemeyer Verlag ein Buch im Umfang von über 500 Druckseiten vor, das zu einem «noch heute unentbehrlichen Werk» (der Münchner Märchenforscher Kurt Schier 1983), zu einem eigentlichen Handbuch für die Arbeit mit den skandinavischen Märchen geworden ist. Rittershaus unterzog 127 isländische Märchentypen einer vergleichenden Analyse und konnte mit dem Hinweis auf dieses umfangreiche Material die vor allem vom Indologen Benfey vertretene These des indischen Ursprungs aller indoeuropäischen Volksmärchen wirkungsvoll widerlegen. Rittershaus' Darstellung war nicht zuletzt deshalb so wertvoll, weil sie sich auf ungedruckte Aufzeichnungen in isländischen Archiven abstützte, die erst Jahrzehnte später im Druck zugänglich gemacht wurden. Forschungsgeschichtlich interessant an dieser Arbeit ist auch, dass sie die von Konrad Maurer («Isländische Volkssagen der Gegenwart», Leipzig 1860) begründete Tradition der deutschen Bemühungen um die skandinavische und besonders die isländische Volksliteratur fortführte und gleichzeitig in gewisser Weise auf den Forschungs- und Publikationsschwerpunkt Europäische Volksliteratur an der Zürcher Fakultät, der später so energisch von Max Lüthi und Rudolf Schenda vertreten wurde, vorauswies.
Weniger eindeutig positiv wird das Urteil über ihre populärwissenschaftliche Schrift «Altnordische Frauen» (Frauenfeld und Leipzig 1917) ausfallen. In diesem so philologisch fundierten wie zeittypisch problematischen Buch entwirft Rittershaus auf der Grundlage der isländischen Sagaliteratur des 13. und 14. Jahrhunderts ein skizzenhaftes «Bild der altnordischen Frau [...] in den verschiedenen Phasen ihres Lebens». Da sie souverän über die gesamte altnordische Literatur verfügt, gelingen ihr immer wieder präzise Darstellungen zur rechtlichen, sozialen, mentalen Stellung von Mädchen und Frauen im wikingerzeitlichen Norden, und sie kann auf zahlreiche Aspekte aufmerksam machen, die erst in jüngster Zeit von der frauengeschichtlich orientierten Forschung aufgegriffen werden. Fragwürdig wird Rittershaus' Buch jedoch dort, wo die Autorin auch hierin der völlig unkritischen Nordistik und Altgermanistik der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts folgend von der historisch präzis zu datierenden Überlieferung im isländischen Mittelalter auf Zustände in einem bereits sehr viel vageren nordischen Altertum schliesst, um die derart aus fiktiven Texten abstrahierten Figuren als idealtypische Verkörperungen überzeitlich germanischer Werte zu postulieren und diesen Aussagekraft und Handlungsrelevanz für die Gegenwart zuzuschreiben. In ihren eigenen Worten liest sich dies dann beispielsweise wie folgt: «So steht zu hoffen, dass mehr und mehr auch im Leben die Frau aller germanischen Länder das wieder zu sein vermag, was unter viel primitiveren Kulturverhältnissen die altnordischen Frauen einst sein konnten: kraftvolle, selbstbewusste und stolze Weib-Persönlichkeiten, die tapfer jedes Recht zu verteidigen und jedem Unrecht sich entgegenzustellen wagten [...]» (S. 88). Und wenn sie ihre Darstellung mit einem Porträt der schwedischen Königstochter Ingigerdr beendet, deren «eine Eigenschaft [...] wir mit Stolz als eine echt germanische Eigenschaft ansprechen dürfen: Die Treue» (S. 235), dann ist in solch pathetisch-unreflektierten(?) Formulierungen einiges an missverstandener Germanenaktualisierung angelegt, was nur wenige Jahre später in anderen Zusammenhängen willig angenommen und folgenschwer pervertiert werden sollte.
Die AutorInnen:
Dr. Jürg Glauser (jglauser@ds.unizh.ch) ist ordentlicher Professor für Nordische Philologie, und lic. phil. Susanna Flühmann (sflueman@ds.unizh.ch) ist Wissenschaftliche Assistentin für Nordische Philologie am Deutschen Seminar der Universität Zürich.