VON MIREILLE SCHNYDER
Die Abteilung der Älteren Deutschen Literatur in Zürich befasst sich mit der deutschen Literatur von ihren Anfängen bis 1700. Eine scheinbar klare Definition, die aber schon bei einem kurzen Blick auf andere Universitäten nicht mehr ganz so selbstverständlich ist. Denn die an allen anderen deutschsprachigen Universitäten gängige Einteilung in Literatur bis 1500 und Literatur ab 1500 ist hier in einmaliger Weise gebrochen. Eine Abweichung vom verbreiteten Muster, die mehr oder weniger auf einen Zufall zurückgeht: eine Regelung ad personam zwei Professorengenerationen früher hat sich nun seit Jahrzehnten eingebürgert und bewährt. So bewährt, dass sie im In- und Ausland immer wieder einmal vorbildhaft zitiert wird. Denn im Zusammenhang mit der Epochendiskussion, einer alten und immer neuen Thematik, im Zusammenhang mit der Frage nach Tradition und Innovation, wird diese Zürcher Lösung plötzlich interessant. Nicht, weil sie eine gültigere Trennung vollziehen würde, sondern weil sie eine andere Trennung vollzieht, dadurch die eingeschliffene aufbricht und durchlässig macht. Die Zwischenstellung dieser Zeit «zwischen Renaissance und Aufklärung», zwischen höfischer und bürgerlicher Kultur, zwischen katholischem und protestantischem Gedankengut, lässt sie immer wieder zur Randzeit werden, zur nicht mehr ganz scharf ins Auge gefassten Peripherie des Blickfeldes. Es ist eine Zeit, mit der sich überall sonst die Neuere Literatur beschäftigt, hier nun aber vor allem die Mediävistik die Arme ausstreckt und sich in ihrem Rahmen eine eigentliche Barockforschung entwickelt hat. Diese Zeit als Wunder-Anfang der Neuzeit, als Geburtsstunde des Individuellen und Keimling der Moderne zu feiern, losgelöst von der Tradition, fällt dadurch etwas schwerer. Denn wenn man in Zürich die Frühe Neuzeit erforscht, so ist man im Bann des Mittelalters und im Band der Tradition eingebunden und umgekehrt: Wenn man in Zürich Mediävistik betreibt, so hat man das frühneuzeitliche Perspektiv schon auf die Zukunft gerichtet. So dass durch das Zürcher Modell des Germanistik-Studiums eine strenge Epochisierung schon im Studienaufbau zumindest in Frage gestellt wird.
Der personenbedingte Zufall hat sich so zum inhaltlich relevanten Spezialfall entwickelt.
Wenn in Zürich das Studium also in einmaliger Weise das Barock noch der Älteren Literatur zuzählt, wenn in Zürich die Frühe Neuzeit noch am Mittelalter hängt, so ist das eine Chance. Denn nicht nur wird einem dadurch die Willkür solcher Trennungen bewusst, sondern vielmehr wird die eingeschliffene Anknüpfung und Lesart des Barock als Vorstufe der Aufklärung respektive Anfang der Neuzeit zumindest für die Kürze eines Gedankens gelöst.
Und genau da, in dieser Schrecksekunde sozusagen, sitzt das Interesse der neuesten literaturwissenschaftlichen Forschung. In der Frage nach dem Wandel, vielleicht auch Bruch, der sich da vollzogen hat, der Frage nach der Art, wie hier traditionelle Formen die nur im Blick auf die Tradition verstanden werden können aufgebrochen werden, unterwandert werden. In der Frage nach der Subversivität in der Literatur.
Die Autorin:
Dr. Mireille Schnyder (mschnyd@ds.unizh.ch) war Wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich.