Magazin der Universität Zürich Nr. 4/95 - Deutsches Seminar. Unterwegs zu Sprachen

Medientexte als «Intertexte»

VON HARALD BURGER

Was in der Literaturwissenschaft seit zwei Jahrzehnten unter dem Titel «Intertextualität» intensiv diskutiert wird, ist als Phänomen ­ in der Literatur, aber auch im «Alltag» ­ keineswegs neu: die Tatsache nämlich, dass Texte, die wir rezipieren und die wir selber produzieren, in aller Regel eingewoben sind in ein Netz anderer Texte, auf die sie sich beziehen, von denen sie nehmen und denen sie geben. Die Massenmedien sind allerdings ein Kommunikationsbereich, in dem diese Intertextualität und die mit ihr verbundene Auflösung der Idee des einen Textes, der von einem Autor stammt, immer dramatischere Formen annimmt. Insofern die Massenmedien meinungsbildend wirken und das Publikum weitgehend ausserstande ist, den JournalistInnen in die Karten zu sehen, kann diese Entwicklung bedenkliche politische Konsequenzen haben.

Fernseher Das Zitieren im Fernsehen ist ein hochdifferenziertes Phänomen, da Sichtbares und Hörbares getrennt zitiert werden können. Bei Sportnachrichten nimmt der Zuschauer das oft seltsame Zitier-Puzzle kaum wahr.

Im Jahre 1989 fand eine Tagung von Sprachwissenschaftlern statt, die der Sprache im Fernsehen gewidmet war. Im Rahmen der Tagung wurde eine Podiumsdiskussion veranstaltet. Den Teilnehmern der Diskussion lag das Thesenpapier eines Linguisten vor, das am Abend vorher schon einem Journalisten zu Gesicht kam. Er machte daraus für seine Nachrichtenagentur einen «Bericht» über die Diskussion, bevor sie tatsächlich stattgefunden hatte, und lieferte ihn den Zeitungen, die ihn ihrerseits zur Berichterstattung weiterverwendeten. Der Pseudo-Bericht ist formuliert, wie wenn mehrere Votanten in einer faktisch abgelaufenen Diskussion kontroverse (mündliche) Beiträge abgegeben hätten, und enthält keinerlei Indizien dafür, dass es sich in Tat und Wahrheit nur um die Wiedergabe eines einzigen (schriftlichen) Textes handelt. Was hier zu offenkundiger Irreführung der Zeitungsleser führt, ist nur ein spektakulärer und in der Fachliteratur ausführlich untersuchter Extremfall von ­ in der Regel harmloseren ­ Textbearbeitungsprozessen, wie sie tagtäglich in allen Medien vor sich gehen, ohne dass dies den Lesern bewusst wäre. Texte ­ gesprochene oder geschriebene ­, wie sie sich in den Medien präsentieren, sind in den seltensten Fällen das einmalige Produkt einer einmaligen Texterzeugung, sondern im Normalfall das Resultat vielstufiger Umwandlungen von Texten in immer neue Texte.

In der Literaturwissenschaft nennt man solche Vorgänge «intertextuell», und von jedem Stück Literatur gilt, dass es als «Intertext» eingewoben ist in das nicht abgrenzbare Geflecht von Texten ­ vergangenen, gegenwärtigen, künftigen. Doch ist das Phänomen der Intertextualität keineswegs auf literarische Texte beschränkt. Dass Texte sich auf andere Texte beziehen, ist in alltäglicher Kommunikation eine Selbstverständlichkeit. Ich erzähle jemandem, wie mich der Mantafahrer beschimpfte, der mir gerade den Kotflügel demoliert hatte; der Einfamilienhausbesitzer mit Komposthaufen weist schriftliche Beschwerden des Nachbarn wegen Geruchsbelästigung zurück, indem er aus Verlautbarungen der Gesundheitsbehörde über die optimale Abfallverwertung zitiert. Das sind alles bekannte Erscheinungen, die in der Sprachwissenschaft seit langem unter dem Titel «Redewiedergabe» untersucht werden und die nicht mit dem neuen Etikett «Intertextualität» modisch aufgeputzt werden müssten. In den Medien jedoch haben sich Formen des Umgangs mit Fremd-Texten herausgebildet, die das aus der Alltagskommunikation Bekannte nicht nur an Quantität und Dichte übertreffen, sondern die eine neue Qualität gewinnen, die mit den herkömmlichen Begriffen nur noch unzureichend fassbar wäre. Ein paar Beispiele ganz unterschiedlicher Art:

Schon die herkömmlichen Verfahren der Redewiedergabe werden vielfach nicht so praktiziert, wie wir es aus unserer eigenen Rede- und Schreibpraxis gewohnt sind. In BLICK, BILD und ähnlichen populären Blättern wimmelt es von Redestücken prominenter Persönlichkeiten oder auch von Leuten wie du und ich. Bis in die Schlagzeilen hinein findet sich direkte Rede: D. J. BoBo's Frau: «Ich will eine Familie, keinen Superstar!» Sogar die Zeitung selbst spricht: Aeschbi, das war Quatsch! Dabei kommt es oft gar nicht so sehr darauf an, was die- oder derjenige gesagt hat. Wichtig ist nur, dass die Reporterin/der Reporter am «Tatort» gehört und gesehen hat, was (angeblich) tatsächlich passiert ist. Selbst was Lady Diana ihrem letzten Liebhaber ins Ohr geflüstert hat, wird in wörtlicher Rede wiedergegeben. Damit wird das Augenzeugenprinzip ad absurdum getrieben.

Das Magazin «Der Spiegel» hat eine eigene, durchwegs ironisierende Zitiertechnik entwickelt, in der auch kleinste Bruchstücke fremder Rede scheinbar originalgetreu wiedergegeben werden. Doch werden dem Leser oft gar keine oder nur ungenaue oder in die Irre führende Signale dafür mitgeliefert, aus welcher Originalsituation das Zitierte stammt:

Wenn Heiner Geissler an seinen früheren Arbeitsplatz im Bonner Konrad-Adenauer-Haus denkt, überkommt ihn Wehmut: «Der Apparat ist zerschlagen», klagt der ehemalige CDU-Generalsekretär, «die Partei ist nicht mehr kampagnenfähig.» (6/1994).

So beginnt ein Artikel, und man erfährt weder hier noch später etwas darüber, wann, wo und gegenüber wem Geissler gesagt hat, was ihm da in den Mund gelegt wird. In vielen Fällen, das kommt hinzu, unterstellt der neue Textzusammenhang, in den das Zitierte eingefügt ist, dem Zitierten einen Sinn, den es im Original möglicherweise gar nicht gehabt hat.

Zitieren im Fernsehen

Das Zitieren im Fernsehen ­ zum Beispiel in Nachrichtensendungen ­ ist ein hochdifferenziertes Phänomen, da die beiden Kanäle ­ Sichtbares und Hörbares ­ getrennt zitiert werden können. Beispielsweise sieht man eine Originalszene, in der jemand spricht; auf dem akustischen Kanal aber hört man die Stimme eines Reporters, der das Gesprochene zusammenfasst oder kommentiert. Vielleicht ist sogar ein wichtiger Teil des (mündlichen) Textes als eingeblendete Schrift ins Bild integriert. Besonders bei den privaten Sendern werden in Nachrichtensendungen oft kleine und kleinste Bruckstücke originaler Rede und originaler Filmstücke mit einem ebenso minimalen redaktionellen Text, der teils im On (= im Bild ist der Sprechende zu sehen), teils im Off (= im Bild läuft ein Filmausschnitt, man sieht den Sprechenden nicht) gesprochen wird, zu einem neuen Ganzen montiert. Auf diese Weise setzt sich das Ereignis aus Fragmenten verschiedener Realitäten neu zusammen. Ein beliebiges Beispiel aus den Sportmeldungen innerhalb der RTL-Nachrichtensendung «RTL Aktuell» (die Bruchstücke aus originaler Rede gebe ich kursiv wieder, die redaktionellen Bestandteile in normaler Schrift), bei dem ­ nach einer Einleitung der Moderatorin ­ die visuellen und akustischen Realitätsfragmente in raschester Folge ablaufen:

Reporter [Off, im Bild zunächst Fussballtraining, Nierlinger im Zentrum]: Christian Nierlinger hat nicht nur im Training gut lachen, denn mit seinen Toren, wie dem Kopfball-Tornado gegen Leipzig [Überblendung, Nierlinger im Fussballspiel] hat sich der 21jährige einen Stammplatz in der Bayernmannschaft erkämpft. [Schnitt, im Bild Beckenbauer beim Training] Franz Beckenbauer hält den Mittelfeldspieler in dieser Form sogar für WM-tauglich. [Schnitt, Nierlinger beim Training] Und seinen Sommerurlaub hat Nierlinger deshalb vorsichtshalber noch nicht gebucht.

Nierlinger [On, auf dem Spielfeld]: Ich hab noch keine Planung, ich äh hab mir eigentlich angewöhnt, immer kurzfristig zu [unverst.] und äh des is jetz seit neustem immer Woch/von Woche zu Woche, damit bin ich ganz gut gefahren.

Reporter [Off, im Bild Training]: Von Stunde zu Stunde dagegen plant, wegen seiner Babypause, Bremens Libero R(...) B(...), doch für die Münchner wäre dies derzeit kein Thema.

Beckenbauer [On, in einem Innenraum]: Bei uns, kriegt bei uns jemand a Kind? Na, also 's steht bei uns nicht zur Debatte.

Reporter [Off, im Bild Fussballspiel mit Hintergrundgeräuschen]: Zur Debatte steht jedoch ein Pflichtsieg gegen den Angstgegner. Aber, seit 1987 hat Bayern München auf eigenem Platz nicht mehr gegen Werder Bremen gewonnen.

Die Zuschauer nehmen die Einzelheiten des Puzzles nicht wahr, sie haben allenfalls den Eindruck von Flüchtigkeit und von Hektik, wobei die immer wieder erscheinende Person der Moderatorin mit ihren etwas längeren Äusserungen den einzigen Ruhepunkt bildet.

Bei diesen Beispielen ist immer noch erkennbar, dass ein Journalist den Text eines anderen wiedergeben will. Dabei kann der fremde Text in Spannung zum neuen Text stehen, wie in typischen «Spiegel»-Artikeln, oder er wird in völliger Beliebigkeit und Austauschbarkeit mit neuem Textmaterial kombiniert.

Problematische Konsequenzen

Viel problematischer aber sind diejenigen journalistischen Verfahren, bei denen die Anteile von eigenem und fremdem Text gar nicht mehr oder nur noch zum Teil erkennbar sind. Presseberichte basieren häufig ­ wie im eingangs erwähnten Bericht über die Sprachwissenschaftler-Tagung ­ auf Texten von Nachrichtenagenturen. Dass dies der Fall ist, erkennt der Leser bei seriösen Zeitungen an Kürzeln wie ap oder dpa. Was aber genau von der Agentur, was vom Redaktor stammt, der den Text druckfertig macht, das ist dem Bericht nicht anzusehen. Worauf der Agenturtext seinerseits basiert, ist meistens gar nicht rekonstruierbar. Untersuchungen zur Lokal- und Inlandberichterstattung zeigen des weiteren, in wie hohem Masse das, was wir in der Presse lesen, von Verlautbarungen der Institutionen, Verbände usw. («Public Relations») abhängig ist. Eine Lizentiatsarbeit, die Cornelia Bachmann an unserem Seminar durchführte, geht der Frage nach, welche Rolle die Pressemitteilungen der Stadt Winterthur für die Lokalberichterstattung von vier Tageszeitungen spielen. Es stellte sich heraus, dass die Zeitungstexte sich bei ihren Vorlagen bis in den Wortlaut hinein «bedienen», dass sie auch die suggerierten Wertungen und Deutungen übernehmen und dass ihre «Eigenleistung» sich vielfach in sehr engem Rahmen hält. Dabei wird dem Leser in den meisten Fällen das Verhältnis von Zeitungstext und Quelle nicht durchsichtig gemacht. In anderer Ausprägung gilt Ähnliches für alle Informationsbereiche der Presse, aber ebenso auch fürs Radio und Fernsehen.

Somit wird die im Alltag ganz selbstverständliche und unproblematische Kategorie der «Autorin», des «Autors» ­ der Verfasserin eines geschriebenen, des Sprechers eines mündlichen Textes ­ in Medienerzeugnissen zum Problem. An die Stelle einer greifbaren und mit Namen haftbar zu machenden Person tritt eine Kette von grossenteils namenlosen VerfasserInnen, die für Leser und Zuschauer wesenlos bleibt. Aus diesem Dilemma bietet sich beispielsweise bei Fernsehnachrichten ein einfacher, vielfach bezeugter, aber aus sprachpolitischer Sicht wenig befriedigender Ausweg an: Man betrachtet den Nachrichtensprecher als den Autor seines eigenen Textes, und man glaubt ihm, was er sagt, weil er so seriös gekleidet ist.


Der Autor:

Dr. Harald Burger (hburger@ds.unizh.ch) ist ordentlicher Professor für Deutsche Sprachwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Zürich.


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Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
Last update: 22-FEB-96