Magazin der Universität Zürich Nr. 4/95 - Deutsches Seminar. Unterwegs zu Sprachen

Vom Dachboden zum Archiv

VON YASMINE INAUEN UND GABRIELA SCHERER

Seit einigen Monaten ist das Deutsche Seminar im Besitz eines dichterischen Nachlasses, der auf dem Dachboden einer Zürcher Altwohnung gefunden worden ist. Es handelt sich dabei um die Originalhandschrift der Erzählung «Der Ritt» der Zürcher Schriftstellerin Dorett Hanhart (1890­1943) sowie dazugehörige Korrekturfahnen und Rezensionen und um einen Briefwechsel zwischen Autorin und Verleger. Ausserdem enthält das Bündel geordneter Papiere auch einige Typoskripte unveröffentlicht gebliebener Erzählungen. Dieser Zufallsfund stellt ein Ereignis dar, auf das die institutionelle Germanistik mit einer literarischen Wertung und literaturgeschichtlichen Gewichtung zu antworten pflegt.

Hat sich die Aufregung über das handschriftliche Originalmanuskript ­ ein immer seltener werdender Anblick in unserer Zeit der Schreibmaschinen und Computer ­ gelegt, drängen sich Fragen zu Autorin und Text auf. Eine Kurzbiographie der Autorin ist in der Bibliothek des Deutschen Seminars schnell gefunden, die Druckfassung der Erzählung Der Ritt lässt sich jedoch erst nach einiger Suche in einem Antiquariat behändigen.

Der schmale, hellblaue Band ist 1936 im Marion-von-Schröder-Verlag in Hamburg erschienen. Der Erzählung ist als Motto ein Satz von Hugo von Hofmannsthal vorangestellt: «Es ist in keinem Augenblick das Sinnliche so seelenhaft, das Seelenhafte so sinnlich, als in der Begegnung.» Damit stellt die Autorin ihr Schreiben in die erzählerische Tradition der Jahrhundertwende. Die Protagonistin der Erzählung heisst Loris, ein weiterer Hinweis auf Hofmannsthal, der seine ersten Arbeiten unter diesem Pseudonym veröffentlichte.

Von Begegnungen und Abschieden

Wie das Motto erwarten lässt, handelt Hanharts Erzählung Der Ritt von Begegnung bzw. von verschiedenen sinnlich-seelenhaften Begegnungen. Loris, in Hanharts Text eine dreissigjährige Frau, kehrt aus Amerika an den Ort ihrer Kindheit in Europa zurück und versinkt dort in Erinnerungen und in Reflexionen über die Vergänglichkeit des Lebens, in die sich Todessehnsucht mischt. In den Erinnerungspassagen zu Kindheit und Jugendzeit entfaltet sich die Welt der Pubertierenden mit vereinzelten Anspielungen an eine erwachende Sexualität, die mehr verschwiegen als offen anklingen. So ist zum Beispiel von einem traumatisierenden Kindheitserlebnis die Rede, das im dunklen Teil des Waldes stattgefunden hat, in dem es «von verborgenem Leben raunte»: «Es zog einen an, winkte mit ranken Armen aus Efeu, nein, nein, jene Schwelle würde sie nie überschreiten. Aber die Lockung blieb lebendig, ein Spiel mit Wunsch und Grauen ­ und dann, ja dann ereignete sich das Merkwürdige mit dem Köhler» (S.8). Mehr gibt der Text nicht preis von dieser Begegnung, denn die damals neunjährige Loris hatte sie «rasch wieder verdrängt aus Entsetzen». Erst als Dreizehnjährige erinnert sie sich wieder, und zwar als sie die frisch vermählte Ehefrau ihres Lieblingsonkels eifersüchtig betrachtet. «Ihr schien, als hätten die beiden [der Onkel und seine Frau] eine Beziehung zu ihrem verborgenen Leben, zu ihrem Wald, dem Köhler, dem Unnennbaren.» Und ein paar Zeilen weiter: «Nach ihrem Empfinden hatte auch hier eine Verzauberung stattgefunden. Und auch heute erstand wieder das gleiche Bild: die Vorstellung von einer behenden, grüngoldschimmernden Eidechse auf einer warmen Mauer unter weitem Himmel. Unbeweglich lag sie, bis man sie anrief. Husch, husch weg, weiss Gott in welche Ritze» (S.15).

Derartige Bilder wecken Assoziationen an eine mögliche Bedrohung der Neun- und Dreizehnjährigen durch die Sexualität Erwachsener. Die Schilderung der Wiederbegegnung der Dreissigjährigen mit dem inzwischen verwitweten Onkel Christian fügt sich vorerst in dieses Assoziationsfeld ein, scheint sie doch auf eine inzestuöse Liebesbeziehung zwischen Onkel und Nichte hinauszulaufen. Sie endet dann aber in Entsagung auf seiten des Onkels, weil er eine unheilvolle Verwandtschaft zwischen Loris und seiner ersten Frau Marion erkennt. Marion ist, mit dem ersten Kind schwanger, ins Wasser gegangen, um die Schwermut, die auf ihrer Familie lastet, nicht an das ungeborene Kind weiterzugeben. Christian meint, in Loris' Erzählung ihrer Jugenderlebnisse deren Empfänglichkeit für die dunklen, schwermütigen Kräfte wiederzuerkennen, die ihm seine Frau so früh entrissen haben.

Loris geht aus der Wiederbegegnung mit Christian lebenstauglich hervor. Es scheint, als ob das Trauma ihrer Kindheit durch den angedeuteten Wiederholungsakt gelöscht wurde, so dass sie sich dem Leben statt dem Tod zuwenden kann. So endet die Erzählung denn folgendermassen: «Und sie wusste, dass sie auch dies Christian dankte und dass es in ihr keine dunklen, schwindelnden Stellen mehr gab, vor denen sie sich in Nichtverstehen abwenden musste. [...] Sie würde nie imstande sein zu sagen, woher ihr diese Erkenntnis wurde. Doch war die Bewegung darüber so grenzenlos, dass Loris im selben Augenblick auch schon begriffen hatte, dass dieser Kreis nicht überschritten werden durfte. Und wie nun Christian hinwies auf den weichen, ebenen Waldweg, der wie ein Band durch die Stämme floss, da war es Loris, als betrete sie mit ihrem Pferd die himmlischen Gefilde. Sie setzte an zum Galopp. Schon begann die Erde unter ihr zu fliehen. Isolde [Christians Pferd] jagte an ihr vorbei. Sie vermochte den Reiter nicht einzuholen, doch wird sie ihm folgen, und der Weg, den er sie führt, wird gut sein.» (S.76)

Motiv des Doppelgängers ­ ein Anachronismus?

Wie der pathetische Schluss andeutet, wird die skizzierte Bedeutungsebene, auf der in metaphorischen Bildern von Sexualität die Rede ist, überlagert durch neuromantische Motive. Richtet man den Blick vor allem darauf, sieht man sich mit einem Text konfrontiert, der an Erzählungen des 19. Jahrhunderts anknüpft und sich so in eine auf die Darstellung der geheimnisvollen Seele ausgerichtete Literatur einordnet. Das unter anderem aus Texten von E.T.A. Hoffmann und Annette von Droste-Hülshoff bekannte Motiv des Doppelgängers klingt in Hanharts Erzählung ebenso an wie die romantischen Motive der Wasserfrau und des vererbten Wahnsinns als Lebensschicksal. Das Motiv des Doppelgängers leistet in Hanharts Text die zentrale erzählerische Verknüpfung. Ursprünglich wurde der Doppelgänger als Todesbote betrachtet. Diese Bedeutungsschicht des Motivs erklärt in Hahnharts Erzählung Christians Entsagen, als er die Seelenverwandtschaft der beiden Frauen, die ihn emotional zu fesseln vermögen, erkennt: Es ist ein Zurückweichen vor der Gefahr, Marions Schicksal auch für Loris heraufzubeschwören. In der Romantik verschob sich die Bedeutung des Motivs: Es wurde zu einem Zeichen für die Erfahrung, dass das Wesentliche nicht geschaut werden kann, sondern nur als Hülle, Kulisse, Maske sichtbar ist. Das Wesentliche steckt dahinter oder darunter, jenseits des unmittelbar Geschauten. Der Doppelgänger (als Verdoppelung des Ichs) ist der Beweis für diese Welt des Lügengewebes. Aus diesem Schwanken zwischen der Erfahrung der Welt als Schein und Sein geht Loris durch den Ritt an der Seite ihres Onkels erlöst hervor: Sie wendet sich von ihrer ahnungsvollen Gedankenschwere ab und ganz der praktischen Realität zu.

Durch die angedeutete Anbindung an Motive der Romantik und Erzählstil und Erzählinhalte der Jahrhundertwende mutet Hanharts Erzählung, Mitte der dreissiger Jahre geschrieben, anachronistisch an. Interessant ist nun, wie die Erzählung zur Zeit ihrer Veröffentlichung aufgenommen wurde. Die Rezeption des Textes lässt sich anhand des gefundenen Materials gut verfolgen, liegen uns doch eine ganze Reihe von Rezensionen vor.

Die Stimmen der Rezensenten

Der Anachronismus ist zur Zeit der Veröffentlichung der Erzählung kaum einem Rezensenten aufgefallen. In der Neuen Zürcher Zeitung (8. Oktober 1936) beispielsweise wurde gerade deren reiner Kunstcharakter «in einer vom Juckreiz der Aktualität erregten Literatur» hoch gelobt. Nur die Besprechungen im Zürcher Tages-Anzeiger (28. November 1936) und in der Berner Tagwacht (29. Dezember 1936) weisen mit der Frage, ob diese Art von Literatur noch möglich sei, auf die politische Tagesaktualität hin, die an keiner Stelle der Erzählung auch nur anklingt. Im Kanon schweizerischer Literaturgeschichte hat denn auch nicht zufällig Meinrad Inglins zur gleichen Zeit geschriebener Schweizerspiegel (1938) überdauert, während Dorett Hanharts Ritt (1936) dem Vergessen anheimgegeben wurde. Inglins Roman passte besser in das Konzept der geistigen Landesverteidigung, die zur Zeit des 2.Weltkrieges und des Schweizer Réduits bestimmend war und an der sich die nachkommenden Schriftsteller wie etwa Max Frisch gerieben haben. Auch wiederentdeckte Autorinnen von Rang, wie Cécile Ines Loos oder Regula Ullmann, schrieben zeitkritisch, mit Bezug zur gesellschaftlichen Realität, und liessen sich nicht vom öffentlichen Bereich in die «weibliche» Sphäre des Privaten verweisen, wie manche Kritiker es für Hanhart und ihre Leserinnen vorsahen (vgl. z. B. Tages-Anzeiger).

Bei einer Beurteilung der Erzählung Hanharts stellt sich jedoch nicht nur die Frage des Zeitbezugs. Auf der Ebene der Motivierung ­ einer für die Bewertung literarischer Texte zentralen Kategorie ­ bleibt die Beziehung zwischen Loris und Christian rätselhaft. Die seelische Verbindung zwischen der jungen Frau und dem verwitweten Onkel scheint nicht hinreichend motiviert ­ Loris ist nicht unglücklich verheiratet, Christian fühlt sich in seiner selbstgewählten Weltabgeschiedenheit durchaus wohl ­, wenn man auch das Schicksal der verstorbenen Frau des Onkels als verbindende Klammer des ganzen Geschehens anerkennen muss. Loris' Gemütsverfassung nach der Rückkehr aus Amerika in ihre europäische Heimat ist ebenfalls schwer zu verstehen, hat sie doch zuvor mit ihrem Mann im amerikanischen Westen ein geradezu bodenständiges und emanzipiert tätiges Leben geführt. Man könnte sich allenfalls fragen, ob hier ein Gegensatz Amerika­Europa, Neue Welt­Alte Welt, Lebenskraft­Dekadenz anklingen soll, der dann aber im Text sehr schwach ausgeführt wäre.

Edieren oder archivieren?

Aus dieser Einschätzung des Fundes ergeben sich folgende Konsequenzen: Eine historisch-kritische Textausgabe für ein Fachpublikum ist angesichts des fehlenden literaturgeschichtlichen Nachhalls nicht angezeigt, obwohl das vorhandene Material eine solche durchaus ermöglichte. Hingegen wäre ein Nachdruck der Erzählung in Erwägung zu ziehen in einer Ausgabe, die das Spektrum literarischen Schaffens von Schweizer Autorinnen der 30er Jahre sichtbar machen möchte. Eine Lesart, die den thematischen Komplex der Bedrohung des Mädchens Loris durch die Sexualität der Erwachsenen in Zusammenhang mit der Frage nach sexuellem Missbrauch des Kindes bringt, könnte Hanharts Erzählung eventuell soviel Aktualität verleihen, dass sie im Rahmen dieser Thematik neu gedruckt und in einer entsprechenden Reihe einem breiteren Publikum zugänglich gemacht würde. Vorerst werden die nachgelassenen Schriften Hanharts jedoch einem schweizerischen Archiv zur Aufbewahrung übergeben, wo sie dann für Forschungsarbeiten und auch für eine eventuelle spätere Edition bereitstehen. In Frage kommen das Schweizerische Literaturarchiv in Bern, die Forschungsstelle Schweizer Autorinnen (Basel) und die Zentralbibliothek in Zürich. Letztere scheint angesichts der Tatsache, dass die Autorin eher von lokaler Bedeutung ist, der geeignetste Aufbewahrungsort zu sein.


Die Autorinnen:

Lic. phil. Yasmine Inauen und Dr. Gabriela Scherer sind Wissenschaftliche Assistentinnen der Abteilung Neuere deutsche Literatur am Deutschen Seminar der Universität Zürich.


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Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
Last update: 22-FEB-96