Das vermutlich im ersten Jahrhundert n. Chr. in Indien entstandene «Sutra vom Lotos des Wunderbaren Gesetzes», im Sanskrit Saddharma pundarika sutra, gehört zu den einfussreichsten religiösen Schriften Asiens. Der im allgemeinen als «Lotos-Sutra» bekannte Text wurde bereits 255 n. Chr. erstmals ins Chinesische übersetzt, und in Japan hat er unter dem Titel Myoho renge kyo oder als «Sutra der Gesetzesblüte», Hokke kyo, grosse Popularität erlangt.
VON HELMUT BRINKER
Das «Lotos-Sutra» legt die Grundideen des Mahayana-Buddhismus in prächtigen, teils extravaganten, aber verständlichen Worten und Bildern dar, zeigt mit überzeugenden Argumenten die göttliche Heilsgegenwart im Diesseits auf und mit visionärer Phantasie die Erlösungspracht in jenseitigen Buddhawelten. In dieser letzten und vollendetsten Predigt des historischen Buddha S´akyamuni werden den Gläubigen, die auf die Wahrheit dieses heiligen Texts bauen ungeachtet ihrer Vergehen oder Verdienste, ihres Status oder Geschlechts , die unermesslichen Segnungen, Schönheiten und der Reichtum des Heilsziels in den schillerndsten Farben vor Augen geführt. Der Leser des Sutras verliert rasch die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen Realität und Vision, zwischen Existenz und Auslöschung, zwischen Heiligem und Profanem. Allein die Tatsache, dass der Text entgegen traditionellen dogmatischen Lehrmeinungen auch Frauen die Aussicht auf Erlösung gewährt, verhalf dem «Lotos-Sutra» während der späten Heian-Zeit (10. bis 12. Jahrhundert) in Japan zu grosser Beliebtheit, als namentlich kaiserliche Hofdamen und gebildete Frauen der Aristokratie ein neues Selbstbewusstsein entfalteten und entscheidenden Einfluss auf das kulturelle Leben zu nehmen begannen.
Kinji hoto mandara, «Schatz-Pagoden-Mandala aus Goldenen Schriftzeichen» (des «Lotos-Su¯tras»). Hängerolle. Gold auf indigoblauem Papier. H. 103,7 cm, B. 54,5 cm.Um 1200. Myohoji, Osaka. | Vergrösserter Ausschnitt aus obenstehendem Bild |
Untergeschoss der aus dem Text des «Lotos-Su¯tras» errichteten neunstöckigen Pagode. Detail des Kinji hoto mandara, «Schatz-Pagoden-Mandalas aus Goldenen Schriftzeichen». |
Neunstöckige Pagode aus zahllosen Zeichen
Gegenüber der essentiellen Symbolgestalt des gemalten oder geschriebenen, nach strengen ikonographischen Regeln oder geometrischen Prinzipien graphisch durchgestalteten Kultbilds muten die in Pagodenform aufgebauten heiligen Texte des Buddhismus auf den ersten Blick beinahe wie fromme Spielereien an. Einige reizvolle japanische Fassungen des «Lotos-Sutras» sind aus dem 12. und 13. Jahrhundert erhalten geblieben. Der Myohoji in Osaka besitzt eine Version aus der Zeit um 1200. Die hochformatige Hängerolle dürfte aus einer nicht mehr vollständigen Serie von ursprünglich acht oder zehn Rollen stammen, die zentrale Textstellen aus den 27 Kapiteln der klassischen chinesischen Übersetzung des zentralasiatischen Missionars Kumarajiva (344 bis 409 [oder 413]) aus dem Jahr 406 illustrieren. Bei dieser Originalfassung wurde ein Zusatzkapitel im allgemeinen Kapitel 12 eingefügt, so dass die in Ostasien populärste Textversion des «Lotos-Sutras» 28 Kapitel in acht Faszikeln aufweist.
Die ausgewählten Szenen der Myohoji-Rolle stammen aus den Kapiteln 20 bis 24, und auch der eigentliche Text entspricht dem eben diese fünf Kapitel umfassenden siebten Faszikel des «Lotos-Sutras». Er ist in winzigen goldenen Schriftzeichen auf indigoblauem Papier so angeordnet, dass die neunstöckige Pagode mit ihrem Zusatzdach über dem Erdgeschoss vollständig ausgefüllt ist, ja erst durch die zahllosen aneinandergereihten Zeichen ihre spezifische architektonische Gestalt gewinnt.
Der Verlauf der Zeilen übersetzt die konstruktive Fügung der hölzernen Pfosten und Balken in der japanischen Sakralarchitektur auf charakteristische Weise. Senkrechte Doppelzeilen geben überzeugend die tragenden Stützelemente des schlanken, hoch aufragenden Bauwerks wieder, und dicht parallel geführte Vertikalzeilen suggerieren bei den Dächern das klassische System der Ziegeldeckung. Horizontale, von links nach rechts zu lesende Zeilen markieren Ober- und Unterkante des erhöhten quadratischen Gebäudefundaments, dessen Geländer sowie die zur geöffneten Kapelle im Erdgeschoss hinaufführenden fünf Treppenstufen; auch Architravzonen und Traufkanten an den Dächern weisen eine waagerechte Dominanz in der Abfolge des Texts auf. Diese wird nur dort gelockert, wo die kleinen Zeichen das komplexe Konsolensystem des Kraggebälks andeuten oder als Diagonalen bei den schräg nach aussen weisenden Spitzen der Dachsparren hervortreten. An den Enden der leicht aufwärts geschwungenen Dächer hängen Glöckchen, die mit ihrem Geläut das Wort der heiligen Lehre weithin verkünden. Als weiteres markantes Merkmal trägt die nach oben sich allmählich verjüngende Pagode einen hohen, mit neun Ringen ausgestatteten Mast. Dieser steht auf einem kleinen halbkugeligen Fundament mit kastenförmiger Basis einem Relikt, das an die Abstammung der japanischen Stockwerkpagode vom altindischen Stupa mit seinen übereinandergeschichteten Ehrenschirmen erinnert.
Jedes einzelne Zeichen des Sutratexts ist in klar lesbarer «Regelschrift», kaisho, ausgeführt. Die strenge lineare Struktur, die durch den Schriftduktus in ihrem optischen Gesamteindruck doch letztlich eine vibrierende Rhythmisierung erfährt, steht in gewissem Kontrast zu den locker ringsherum verstreuten, flüssig gemalten Figurengruppen und Landschaftsausschnitten. Die einzelnen Szenen werden mit markanten Passagen aus den Kapiteln 20 bis 24 in Form hochrechteckiger Titelkartuschen identifiziert. Es handelt sich hier um paradiesische Buddha- und Bodhisattva-Sphären, um Episoden aus den vorausgegangenen Leben buddhistischer Wesenheiten, um ihre Heilsvisionen und verschiedenen Inkarnationen, um Parabeln und Begebenheiten aus dem segensreichen Wirken und Leben des Historischen Buddha S´akyamuni bis hin zu seinem Eingehen ins Nirvana (in der linken unteren Ecke), um Wunder und wegweisende Ereignisse aus der Geschichte des Buddhismus, wie etwa die Verteilung, Verbreitung und Verehrung der Buddha-Reliquien und die Errichtung von Stupas über ihnen (am rechten Rand).
Wort-Leib des Buddha
Ihrem Wesen nach sind der Stupa und die in Ostasien daraus entwickelte Pagode stets Reliquienmonumente gewesen und geblieben. Da heilige Schriften in voller Länge, kurze Gebete und magische Anrufungsformeln als körperliche Stellvertreter den Wort-Leib des Buddha repräsentieren und unter dem Begriff hosshin shari, «Lehrkörper-Reliquien», zusammengefasst werden, verleihen auch Wörter und Zeichen der Pagode durchaus ihre sakrale Substanz. Gerade als architektonisches Sinnbild des Nirvana, der endgültigen Erlösung und das heisst: des eigentlichen Heilsziels dieser Religion , nahm die Pagode von Anbeginn nicht allein dank ihrer unübersehbaren Höhe einen herausragenden Platz in einer Tempel- oder Klosteranlage ein.
Die innige Bindung dieses spezifischen Bautyps des ostasiatischen Buddhismus an die heilige Person und die sie verkörpernden Reliquien blieb im Grunde bis heute bestehen. So präsentiert sich die aus einer klassischen heiligen Schrift konstruierte Pagode nicht allein als erbauliches Lehrgebäude, dessen Bauelemente sich dem Gläubigen Zeichen um Zeichen als Heilswahrheit erschliessen und dessen Inhalt er erst in geduldiger Andacht Wort für Wort in sich aufzunehmen vermag, sondern hier wird der Sutratext in seiner schriftlichen Ausführung und Anordnung zum Abbild eines zentralen Monuments der japanischen Sakralarchitektur, zu einem «Schatz-Pagoden-Mandala aus Goldenen Schriftzeichen», Kinji hoto mandara, wie der japanische Terminus wörtlich übersetzt lautet.
Anstelle des schillernden Begriffs mandara, der vorwiegend für repräsentative, in Tempelhallen oder in Klostergebäuden zur kultischen Verehrung aufgehängte Werke reserviert blieb, verwendete man gelegentlich das Wort henso, «gewandelte Erscheinung», um damit die Transformation des heiligen Texts zur bildhaften Konfiguration anzudeuten, die Aus- und Umgestaltung von Inhalten, Doktrinen und Ideen zu Bildern, die kunst- und verdienstvolle Wandlung von Text- zu Bilderwelten. Denn das Abschreiben von Sutras betrachtete man als heilige, religiöse Verdienste akkumulierende Handlung, und diese galt es nicht nur mit reinem Geist und frommer Andacht zu vollziehen, sondern wie angesichts des vorliegenden Werks unmittelbar klar werden dürfte auch mit höchster Konzentration und Sorgfalt. Daher vereinte die «gewandelte Erscheinung» eines heiligen Texts zur Pagodengestalt drei verdienstvolle Aspekte: zum ersten die Errichtung eines zentralen Sakralmonuments, zum zweiten die getreue Abschrift grundlegender religiöser Lehren vom «Lotos des Wunderbaren Gesetzes» zur Festigung des eigenen Heilswohls und zum dritten die schriftliche und bildliche Darlegung des Su¯tras zur erbaulichen Anschauung für andere Gläubige.
Gold als Manifestation des Absoluten
Abgesehen von den Wünschen der ästhetisch anspruchsvollen Auftraggeber dürften für die üppige Verwendung von Gold auf indigoblauem Papier noch andere Gründe ausschlaggebend gewesen sein. Gold als das kostbarste aller Metalle und die edelste aller Farben wurde in der buddhistischen Kunst Ostasiens dank seines Eigenwerts aus dem Materiellen ins Geheiligte umgedeutet, als visionäre Manifestation des Absoluten eingesetzt. Es besitzt einen Votivwert als Weihgabe, die das Kultbild selbst und sein Heiligtum ebenso schmücken wie das zur Architektur verdichtete sakrale Wort.
Im «Schatz-Pagoden-Mandala aus Goldenen Schriftzeichen» vermochte der anonyme mittelalterliche Künstler die wesensmässig immanenten geistigen Potenzen des Goldes voll auszuschöpfen, und die Kirchenväter haben in ihren geistlichen Texten und Exegesen das Gold in seiner unwandelbaren Qualität dem Buddha im wahrsten Sinne des Wortes auf den Leib geschrieben. Alles, was ihm anhaftet und eigen ist, erscheint golden; noch seine sterblichen Überreste werden als «Goldene Gebeine», konkotsu, verherrlicht, und das hier über ihnen aus seinem Wort-Leib mit dem Text des «Lotos-Sutras» aufgerichtete Mahnmal, die «Schatz-Pagode», wird zum Sinn- und Abbild der geheiligten Essenz seines Körpers wie seiner Lehre.
«Goldglanz-Sutra»
Im «Goldglanz-Sutra», Konkomyo [saishoo] kyo, heisst es im vierten Absatz des zweiten Buches: «Die Körperfarbe des Buddha ist von goldenem Glanz, rein und ohne Makel; [...] die Sonne seines grossen Mitgefühls und seiner Weisheit beseitigt alle Finsternis; der Glanz der Buddha-Sonne leuchtet immerdar überall hin. [...] Seine verdienstlichen Eigenschaften [...] erhellen wie die Sonnenstrahlen die Welt. [...] Ein Netz von wunderbarem Bergkristall bestrahlt seinen goldenen Körper; sein Körper, [wie] purpurnes Gold, ist mit den mannigfaltigen, wunderbaren Schönheitszeichen ganz geschmückt.»
Es wird wohl kaum überraschen, dass auch das «Goldglanz-Sutra» gegen Ende des 12. Jahrhunderts auf dunkelblauem Papier in goldenen Schriftzeichen niedergeschrieben und symbolhaft konfiguriert wurde. Auf zehn Hängerollen im Daichoju'in des Chusonji in Hira'izumi, Präfektur Iwate, verwandelt sich der heilige Text jeweils in eine monumentale neunstöckige Pagode und teilt dem Bauwerk Struktur und sakrales Leben mit, während am Rand figurative Szenen essentielle Passagen des Sutras zusätzlich bildlich erläutern. Die aristokratischen Auftraggeber des kostbaren Zyklus mögen die Segensaussicht dieses Sutras vor Augen gehabt haben, denn es verheisst allen loyalen Herrschern, die seiner Lehre in Gehorsam folgen, die in seinem Namen Opfer darbringen und die verantwortungsvoll, einsichtig und rücksichtsvoll regieren dank der unermesslichen Güte Buddhas die Verschonung von Krankheiten und Leiden, Frieden ihrem Gemüt und himmlischen Schutz ihren Städten, Dörfern und Residenzen.
Dr. Helmut Brinker (hbrinker@khist.unizh.ch) ist ordentlicher Professor für Kunstgeschichte Ostasiens am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Zürich.
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Last update: 20.07.97