Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Bild, Patient und Wirklichkeit

«Seeing is beliefing» stand an einem Radiologiekongress über dem Eingangstor. Es ist so: Aus der Beobachtung werden Diagnosen gestellt. Mit den Augen sind auf Röntgenbildern Krankheiten zu erkennen. Die radiologische Bildgebung hat viele Befunde messbar, reproduzierbar gemacht. Ist das radiologische Sichtbarmachen also die Brücke zur Wirklichkeit von Patient und Krankheit? – Eine Einführung und Gedanken zu den drei nachfolgenden Beiträgen über bildgebende Verfahren in der Medizin.

VON URS MARTIN LÜTOLF

Die Fotografie hat der Radiologie Pate gestanden. Auf denselben Filmen, die im letzten Jahrhundert Mensch und Landschaft durch den Schlitz der Camera obscura festhielten, hat Wilhelm Conrad Röntgen mit einer neuen Art Strahlung 1895 die Hand seiner Gattin «festgehalten». Mit diesem Ereignis eröffnete sich für die Mediziner eine neue Wirklichkeit.

Bilderwelt der Radiologie

Die Bilderwelt der Radiologie hat sich vorerst langsam, in den letzten Jahren überstürzend gewandelt. Aus den flachen Schattenbildern von Röntgen sind Datenmengen in Rechnersystemen geworden, die es uns gestatten, den untersuchten Menschen in beliebiger Ebene zu rekonstruieren. Was einst das Privileg der durchdringenden ionisierenden Strahlen war, gelingt heute auch den durch Magnetresonanzverfahren provozierten Radiowellen oder den die Fledermaus imitierenden Ultraschallgeräten. Aus einfachen Summationsbildern sind Darstellungen von Schallreflexzonen der Binnenstrukturen, Darstellungen der Chemie in Organsystemen geworden. Radionuklide von geringster Strahlenaktivität zeichnen die Spuren der Stoffwechselvorgänge nach. Durch das Denken aktivierte Hirnzonen werden als Farbflecke auf Hirnwindungen projiziert. Blutströmungen, künstlich in blaue und rote Farbe umgesetzt, lassen erkennen, wo in unseren Gefässen Herzklappen versagen und jet-streams für Unordnung und Gefahren sorgen. Mit einer mühelosen Bewegung am Joystick ändert der Betrachter seinen Blickpunkt, schaut sich das Ganze nochmals an, dringt eine Schicht tiefer in den Patienten. Dieser hat nach der Untersuchung das Spital bereits verlassen.

Radiologische Bilder sind verschlüsselte Mitteilungen in beliebigen Dimensionen. Was für Wirklichkeiten zeigen sie uns? Was können wir an Funktion, Struktur und Wirklichkeit in diesen Chiffren erkennen?

Befunde Krankheiten zuordnen

In naturwissenschaftlicher Denkweise haben wir gelernt, die erhobenen Befunde Krankheiten zuzuordnen. Die Wahrscheinlichkeit, zum Beispiel einen mit Krebszellen durchwucherten Lymphknoten im Bauchraum zu erkennen, ist mit diesen radiologischen Techniken sehr gross; die Sicherheit, dass Krebszellen diese Veränderung verursachen, kann aus diesen Bildern aber nicht hergeleitet werden. Das Summieren nicht mehr von Röntgendichten auf einem Film, sondern von Wahrscheinlichkeiten diverser radiologischer Aussagen leitet unser therapeutisches Denken in grossem Mass.

So sind radiologische Bilder wesentlicher Teil der medizinischen Diagnosestellung und oft bester Versuch der Wahrheitsfindung geworden. Doch aus welcher Verborgenheit und mit welcher Trefferquote diese Bilder auch erzeugt werden, sie bleiben Teil, müssen eingeordnet werden.

Begegnung: Bild-Arzt-Patient

Gravitationszentrum aller Bilder ist die Begegnung: Das Aussehen des Patienten, die Mimik, die unmittelbare Bewegung, das Ausweichen auf eine Berührung während der Untersuchung, sie sind Fundament der medizinischen Beurteilung. Der Arzt wird auf seine eigene Weise diese Patientenbilder des Kontaktes mit den radiologischen Bildern verbinden müssen. Zu seinen Vorstellungen, die in der Ausbildung und in unserer Gesellschaft ihre Form fanden, zu seinen eigenen inneren Bildern, kommt dieses Erleben dazu. In unzähligen Arzt-Patienten-Beziehungen werden solche Bilder ausgetauscht, angeglichen und gestaltet. Der Arzt wird weitere Erhebungen aus Labor und Klinik aufnehmen. Mit Algorithmen, die der Wahrnehmung entgehen, wird er ein Stück Wirklichkeit des Patienten in seiner Vorstellung aufrichten. Dieses Gebäude der Bilder wird als Befund und Diagnose die Basis seines Handelns sein.

Radiologische Bilder erleichtern oder ermöglichen den Zugang zu vielen Krankheiten. Sie sind fester Bestandteil des medizinischen Alltags. Erkenntnis aber, die folgen soll, bedarf des Gegenübers. Erst die Begegnung, die Auseinandersetzung, das Angleichen kann Abbildungen und Ursprung zu einer Wirklichkeit verknüpfen.

«Hören, lauschen, schauen»

Die Formel «seeing is beliefing» ist zu kurz, sie vergisst diesen Tausch. Sich sehend hinwenden bringt mehr als einen gesuchten Krankheitsnachweis.

Gottfried Benn, Arzt und Dichter, hat das Sehen als intensivste Form des Sichhinwendens in einem Gedicht niedergeschrieben: «Wir hören, lauschen, schauen...»


Dr. Urs Martin Lütolf ist ordentlicher Professor für Radio-Onkologie und Vorsteher des Departements Medizinische Radiologie des Universitätsspitals Zürich.


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Last update: 20.07.97