Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

Das Spiegelbild des Narziss

Unsere genetische Konstitution, unser Körperbau und unser Verhalten belegen, dass wir von tierischen Vorfahren abstammen. Wie aber die menschliche Evolution tatsächlich abgelaufen ist, kann nur aus Fossilfunden erschlossen werden. Aus diesem spärlichen Quellenmaterial lässt sich mit Methoden der medizinischen Bildgebung und der Computergrafik ein zuverlässiges Bild des fossilen Menschen rekonstruieren. Immer wieder stellt sich dabei die Frage nach unserem eigenen Bild.

VON CHRISTOPH ZOLLIKOFER UND MARCIA S. PONCE DE LEON

«Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren...» dichtete um 1670 der pietistische Theologe Joachim Neumann, gräzisiert Neander, und konnte kaum ahnen, dass sein Name nicht nur mit dem berühmten Choral verbunden bleiben würde, sondern – zwei Jahrhunderte später und in einem völlig veränderten Weltbild – mit der Evolutionsgeschichte des Menschen. In einem pittoresken Tal bei Düsseldorf, ihm zu Ehren Neander-Tal benannt, fanden im Jahr 1856 Steinbrucharbeiter die Skelettreste eines Menschen, der bald als Neandertaler die Diskussion um die Menschheitsgeschichte beherrschte. Eine eigenartige Verschränkung semantischer Zufälle wollte es, dass der im Tal des neuen Mannes gefundene alte Mann sich tatsächlich bald als Vertreter eines neuen Typus des Menschen herausstellte.

Abb. 1:
Homo neanderthalensis (oben) und Homo sapiens (unten) sind verschieden. Unterschiedliche Wachstumsprogramme führen schon im Kindesalter zu Gestaltunterschieden, die mittels Computertomographie und Computergraphik auch für das Schädelinnere dokumentiert werden können. Das Profil des Neandertalerkindes ist hypothetisch; Weichteildaten des modernen Menschenkindes wurden rechnerisch den Neandertaler-Skelettstrukturen angepasst.

Abb. 2:
Aus einem Haufen äusserst zerbrechlicher Knochensplitter entsteht das Porträt eines fossilen Menschen – dank Computermaus berührungsfrei und ohne Klebstoff und Gips.

«Lobe den Herren, der künstlich und fein Dich bereitet...» heisst es in der dritten Strophe des Liedes. Das Skelett des Neandertal-Mannes war nicht so fein bereitet, wie es einem gottgeschaffenen Menschen anstehen würde. Dementsprechend waren alle vom Menschen abweichenden Merkmale als Krankheitsspuren zu deuten. Der Neandertaler, eine pathologische Erscheinung?

Weg frei für neues Menschenbild

«...eine gigantische Monstrosität, zu der sich die ursprüngliche Amöbe durch eine lange Krankheitsgeschichte ausgewachsen hat.» So brachte der Philosoph Hans Jonas den Gedanken der menschlichen Evolution auf den Punkt. Etwa zeitgleich mit der Entdeckung im Steinbruch bei Düsseldorf stellten Darwin und Wallace mit ihrer Deszendenztheorie das Konzept der einmaligen Schöpfung radikal in Frage. Es war nicht mehr der leitende Gott, der die planvoll erschaffene Welt in Ordnung hielt, sondern der abstrakte historische Zufall und das Selektionsprinzip.

Der Weg wurde frei für ein neues Menschenbild, in dem auch die Tiergattung Homo keine Konstante mehr war. Huxley, der rhetorisch brillante Verfechter und Verbreiter dieser neuen Gedanken, wollte deshalb lieber von einem Affen als von einem Erzbischof abstammen. Begriffe wie Krankheit und Gesundheit erhielten eine ganz neue Dimension, war doch erblich fixierte Andersartigkeit als eine der Grundlagen der Evolution erkannt worden. Der Neandertaler war also kein pathologischer Casus mehr, oder nur noch in Jonas' Sinn.

In der Euphorie dieser neugewonnenen Sichtweise galten bald alle Merkmale des Neandertaler-Skelettes als arttypisch, auch diejenigen, die wir heute als umweltbedingte Krankheitserscheinungen diagnostizieren. So kam es zum heute noch verbreiteten Bild des Neandertalers: Ein ziemlich beschränkter, untersetzter, stinkender Schlägertyp, der keulenschwingend die Tundren Nordeuropas unsicher macht. Ohne gleich die Vorstellung des Edlen Wilden auf die Neandertaler zurückübertragen zu wollen, ist es Aufgabe der modernen Paläoanthropologie, alle möglichen Hypothesen zu diesem vorerst letzten Kapitel der menschlichen Stammesgeschichte unvoreingenommen zu überprüfen. Unser heutiges Bild des Neandertalers basiert deshalb weniger auf Vorstellungen (die oft Wunschvorstellungen sind), als vielmehr auf zwar wenigen, aber gesicherten anatomischen Fakten und überprüfbaren Hypothesen.

«Visible human via Internet»

Drehen wir die Zeit noch einmal zurück: im 16. Jahrhundert war es Vesalius, der die Leichen von Hingerichteten sezierte und damit das Wissen über die menschliche Anatomie auf eine faktische Basis stellte. Die Faszination der bildlichen Erfassung der neu erschlossenen menschlichen Innenwelten spricht uns noch heute aus den anatomischen Zeichnungen eines Leonardo an. Es ist eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte, dass erst kürzlich der Vollzug einer Hinrichtung uns wieder einmal zu einer perfekten Leiche verholfen hat, die nun, allerdings ohne Skalpell, als «visible human» via Internet in aller Öffentlichkeit erkundet werden kann.

Die dahinterstehenden Technologien der medizinischen Bildgebung und der Computergraphik sowie das Wissen in vergleichender Anatomie gehören zu den Grundlagen der modernen Paläoanthropologie, der Wissenschaft unserer Stammesgeschichte. Da menschliche Fossilreste ausgesprochen selten und meist sehr fragmentarisch sind, müssen wir versuchen, aus dem wenigen vorhandenen Material eine grösstmögliche Menge an Information zu gewinnen.

«Ein Bild nach unserem Bilde», das ist im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit die Frage.

Mit Hilfe von Computertomographie ist es zum Beispiel möglich, ins Innere von Fossilien zu blicken, ohne diese zerstören zu müssen. Isolierte Fossilfragmente lassen sich auf dem Bildschirm in einer Art dreidimensionalem Puzzle zusammensetzen, fehlende Stücke nach genau definierten Kriterien ergänzen und schliesslich anatomische Messdaten gewinnen. Im Falle der Neandertaler zeigt die computergestützte quantitativ-vergleichende Untersuchung der Schädelreste verschiedenster Individuen, dass das Schädelwachstum bei dieser Gruppe nach einem anderen Entwicklungsprogramm verlief als beim modernen Menschen.

Der Neandertaler: eine eigene Spezies

Dies deutet darauf hin, dass es sich beim Homo neanderthalensis um eine eigene Spezies handelt, deren Evolutionsgeschichte seit längerer Zeit unabhängig von der des Homo sapiens verlief. In vielerlei Hinsicht hat die Evolution aber zurecht ähnlichen Ergebnissen in Körperbau und Verhalten geführt: ein grosses Gehirn und geistig-kulturelle Leistungen, von denen Schmuckstücke, Werkzeuge und Bestattungen zeugen. Neuere Funde zeigen zudem, dass die Neandertaler bis vor etwa 30000 Jahren Zeitgenossen unserer direkten Vorfahren waren. Danach verliert sich ihre Spur; die Hypothesen darüber sind zahlreich.

Welchen Einfluss haben nun diese Forschungsergebnisse auf unser modernes Menschenbild? Heute sind wir zwar die einzige Art der Gattung Homo, vermutlich waren wir es aber während der meisten Zeit unserer Stammesgeschichte nicht. Was von der Evolutionstheorie her eigentlich der Normalfall ist, nämlich dass mehrere nahverwandte Arten gleichzeitig existieren, scheint uns, bezogen auf uns selbst, auch heute noch fremd.

Konsequenzen der Evolutionstheorie

Allerdings sind Schwierigkeiten mit dem Menschenbild nichts Neues. Durch Kopernikus wurde der Mensch seiner kosmologischen, durch Darwin seiner biologischen Sonderstellung beraubt. Freud mutete uns eine weitere Kränkung unseres Selbstbildes zu. Das vormals selbständige Ich-Bewusstsein erwies sich als unsicherer Reiter auf einem sehr eigenwilligen Pferd, dem Unterbewussten. Es blieb noch die Vorstellung der Einmaligkeit unseres evolutiven Niveaus: Nur wir seien von der Gattung Homo übriggeblieben, und nur wir hätten uns dank unserer spezifischen Fähigkeiten – Sprache und Kultur – durchgesetzt.

Nun sind aber die Konsequenzen der Evolutionstheorie für die Stammesgeschichte von Homo dieselben wie für alle anderen Lebewesen. Es gibt zwar Veränderungen zu Formen grösserer Komplexität, aber letztlich bedeutet das Fortschreiten auf der Zeitachse kein Fortschritt im Sinne einer Entwicklung zum notwendig Besseren, Höheren. Obwohl wir uns seit bald anderthalb Jahrhunderten mit diesem Gedanken auseinandersetzen, verharren wir beim Bild des Stammbaums, dessen jüngster Trieb zuoberst, das heisst in der Krone, zu finden ist. Dass wir aus unserer evolutionären Jugendlichkeit keine Sonderstellung herleiten können, wird aber gerade durch die Existenz der Neandertaler deutlich gemacht. Sie schauen Narziss als Spiegelbild entgegen.

Physische Identität neu überdenken

Nach gründlich erfolgter Entthronung konnte das menschliche Selbstvertändnis nicht mehr auf einer wie auch immer gearteten Sonderstellung aufbauen, es zog sich auf das Individuum zurück, genauer auf dessen physische Identität. Doch auch aus diesem Refugium werden wir bald vertrieben werden. Computertechnologie und Gentechnologie sind gerade dabei, uns aus dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit unserer Kulturgegenstände ins Zeitalter unserer eigenen technischen Reproduzierbarkeit zu katapultieren.

Unsere physische Identität muss in ihrer Bedeutung neu überdacht werden, wenn wir als gläserne Patienten virtuell übers Internet geistern und unsere Organe und Gene gezielt ausgewechselt werden können. Dieses vollkommen neue Menschenbild, dessen Herausforderungen wir uns erst noch stellen müssen, gehorcht einem alten Impetus: Vom ersten Erscheinen eines menschlichen Bildnisses auf einer Höhlenwand über das Erstellen anatomischer Atlanten bis zum «brain mapping» und «genetic mapping» hat unser kartographisches Interesse an der Erkundung der menschlichen terra incognita nicht nachgelassen ­ auch wenn wir heute eher Software-Tools als Steinwerkzeuge brauchen.


Dr. Christoph Zollikofer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und dipl. anthrop. Marcia S. Ponce de Leon (marcia@aim.unizh.ch) ist Assistentin am Anthropologischen Institut der Universität Zürich.


unipressedienst unizürich-Magazin


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (
upd@zuv.unizh.ch)
http://www.unizh.ch/upd/magazin/2-97/
Last update: 20.07.97