Ebenso wie seit längerem das drohende Ende der Literatur im Zeitalter der Medien beschworen wird, ist immer wieder auch vom Verschwinden der Kunst im Schatten der medialen Bilderflut die Rede. Dabei sind Kunst und Malerei begehrt wie noch nie, was auch die Rekordzahlen beim Besuch der grossen Ausstellungsprojekte belegen. Auch in der Literatur der Gegenwart nehmen die Beschreibungen von Bildern und die Zitate aus der Kunstgeschichte einen immer grösseren Raum ein. Und in den Wissenschaften machen die Bilder zunehmend Karriere als andere Zeugnisse der Kulturgeschichte.
VON SIGRID WEIGEL
Seit der Diskurshistoriker Michel Foucault seiner Studie «Les mots et les choses» (1966) eine Lektüre von Velazquez' Gemälde «Las Meniñas» voranstellte, um den Wechsel der Episteme zwischen klassischem Zeitalter und Moderne zu diskutieren, sind Kommentare zu Bildern aus dem kunsthistorischen Kanon in Texten von Philosophen und Kulturhistorikern immer häufiger anzutreffen. Mit der Verschiebung des Interesses von den historischen Daten und Ereignissen zu den Mentalitäten, Lebensweisen und Denksystemen machen die Bilder Karriere in mehreren Wissenschaften.
Pergamonaltar, Gigantomachie-Fries |
Bilder: Archiv für kulturelles Gedächtnis
In einem Gemälde verdichten sich dabei häufig Konstellationen und Zäsuren aus der Wahrnehmungs- und Repräsentationsgeschichte ebenso wie historische Veränderungen der Körper, Sinne und Subjektbilder kulturelle Phänomene, über die die traditionellen Zeugnisse und Quellen der Geschichtsschreibung oft wenig Auskunft zu geben vermögen. Die Dramaturgie, Ausstattung und Gestik einer Szene kann dafür ebenso sprechend sein wie die dargestellte Begebenheit und ihr Personal. Die Bilder werden so zu einem schillernden Archiv für das kulturelle Gedächtnis, in dem nicht nur historische Erfahrungen, sondern auch die darin gebundenen Sehnsüchte und Ängste ihre Spuren hinterlassen haben und aus dem auch jene Mythen und Imaginationen ablesbar sind, die die Wahrnehmung der Geschichte immer schon präfigurieren.
Die Literatur der Gegenwart teilt dieses wachsende Interesse an den Bildern. 1975 stellte Peter Weiss ein Gespräch über den Fries des Pergamonaltars an den Anfang seines dreibändigen Romanprojekts der «Ästhetik des Widerstands», um aus dem gegen den Strich gelesenen Bildprogramm der dargestellten Gigantomachie (des Kampfes der Olympier gegen die Titanen) das Leitmotiv seines Romans zu gewinnen. Seither nimmt die Zahl der literarischen Publikationen, die sich auf Malerei und Kunst beziehen, stetig zu. Geht es in den poetischen Verfahren heute ohnehin weniger um Originalität und Neuschöpfung als um Zitat und Relektüre, um Umschrift und Palimpsest, so beziehen sich die Autoren nicht nur auf Vorlagen aus dem literarischen Kanon, sondern auch auf die Kunstgeschichte.
Malerei: ein Gegenüber zur Sprache
Favoriten sind dabei, neben wenigen Malern aus der Moderne, eindeutig Gemälde aus der Renaissance: faszinierende Schauplätze einschneidender Umbrüche in der leiblichen und sozialen Verfassung der Menschen. So wie der Gründer der «Kulturwissenschaftlichen Bibliothek» Aby Warburg, der am Ausgang des 19. Jahrhunderts in seinen Studien zur Malerei der italienischen Renaissance für die darin zu beobachtende Wiedererinnerung antiker Bildformeln die These vom «Nachleben der Antike in der Renaissance» prägte, könnte man heute gleichsam von einem Nachleben der Renaissance in der Gegenwart sprechen. Figuren der Jetztzeit treten dabei unmittelbar in Korrespondenz zu den Bildern «alter Meister», so dass sich in dieser Literatur der Bildbegriff Walter Benjamins zu materialisieren scheint: «Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.»
Heutige Figuren sind vis-à-vis einer teils abgesunkenen, manchmal unentzifferbar gewordenen Schrift positioniert. Im Vordergrund steht nämlich nicht die Bildbeschreibung. Eher geht es bei der Transformation von Bildern in Texte um Lesbarkeit: um das Verhältnis von codiertem Wissen und tradierten Symbolsystemen zum Verschwiegenen und Vergessenen. Insofern bildet die Malerei für viele Schriftsteller ein Gegenüber zur Sprache, an und in dem die Grenzen der Darstellbarkeit und Sagbarkeit reflektiert werden: die Malerei als Spiegel für eine in ein anderes Medium verschobene Erörterung der blinden Flecken im Diskurs.
Dass dabei die Geschlechterverhältnisse eine nicht unwichtige Rolle spielen, mag nicht verwundern, gehören sie doch zum Verschwiegenen der Ereignisgeschichte ebenso wie zur Kehrseite von «Werk» und der Meisterschaft. Während die meisten Schöpfungskonzepte die Schwelle zwischen Materie und Sprache bzw. den Abgrund zwischen Formlosem und Gestaltung durch Mythen einer ursprünglichen Kreativität überbrücken, wirft die Literatur heute gerne ihr Licht genau auf diesen wunden Punkt. Im Blick auf die Voraussetzungen der Kunstproduktion kommt dasjenige ins Spiel, das in die Produktion des «Werks» eingegangen und mit seiner Vollendung verbraucht wurde. In «Das ovale Porträt», der Erzählung von einem enthusiastischen Maler, der ein Porträt seiner jungen Frau anfertigt, dessen Entstehung und Vollendung mit dem Verbleichen und Sterben der Porträtierten einhergeht, hat Edgar Allen Poe eine Allegorie jener Dialektik beschrieben, die heute gern in den Topos von der «Tötung des Weiblichen» in der Kunstproduktion gefasst wird.
Jenseits der elektronischen Codes
Im Angesicht der neuen Medien scheint es in der neuen Kunst-Literatur vor allem aber um die Rettung einer verschwindenden Sprache zu gehen, um eine Bilderschrift jenseits der elektronischen Codes, eine Schrift nämlich, deren Entzifferung des beseelten, begehrenden und leidenschaftlichen Subjekts bedarf. Wenn die Schriftsteller sich auf den Spuren der Malerei bewegen, kehren sie ihrem eigenen Medium nicht den Rücken, vielmehr berührt die Lektüre von Bildern immer auch die Literatur selbst, geht es im Medium der Malerei auch um die Selbstreflexion und -vergewisserung einer anderen Sprache.
Diese herausragende Bedeutung der Malerei am Ende einer Epoche der «bürgerlichen Literatur» steht in deutlicher Korrespondenz zu ihrem Anfang Ende des 18. Jahrhunderts und in der Romantik. War Lessings berühmte Schrift über die Laokoon-Gruppe 1766 der Ausgang für einen vielstimmigen Diskurs über das konkurrierende Verhältnis der Künste, so setzte mit den «Salons» Denis Diderots und den «Düsseldorfer Gemäldebriefen» Wilhelm Heinses eine ganze Serie von Galerie- und Gemäldebeschreibungen ein mit so prominenten Autoren wie Goethe, August W. Schlegel, Friedrich Schlegel, Heinrich Heine und Charles Baudelaire. Zunächst Bestandteil der beliebten Bildungs- und Kunstreise, wurden die Berichte aus Museen und Galerien in dem Masse, wie sich die Institution der öffentlichen Ausstellung etablierte, zu einem eigenständigen Genre. Während aber die Beschreibung einzelner Gemälde damals, im Zeitalter einer Kunst vor der Reproduzierbarkeit, an die Stelle der direkten Anschauung treten musste deswegen so häufig die Form des Briefes oder einer anderen Adressierung , ist die Gegenwartsliteratur umgekehrt gerade darum bemüht, jenseits der allgegenwärtigen Reproduzierbarkeit und der medialen Massenrezeption einen anderen Blick auf die Bilder zu gewinnen, um so das allzu Bekannte zu entstellen und anders wieder lesbar zu machen. Deshalb auch sucht die Literatur heute Schreibweisen der Bildlektüren jenseits der Bildbeschreibung.
Dr. Sigrid Weigel (sweigel@ds.unizh.ch) ist ordentliche Professorin für Deutsche Literatur am Deutschen Seminar der Universität Zürich.
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Last update: 24.07.97