Magazin der Universität Zürich Nr. 2/97

1001 Geschichten eines Zeichenerzählers

VON HEINI RINGGER

 

[Die auf dieser Seite aufgeführten Bilder können durch Anklicken vergrössert werden]

 

Zeichen haben etwas Geheimnisvolles. Bäume, Flüsse, Pflanzen, Tiere oder Menschen. Alles, was erscheint, ist Zeichen. Die Welt erscheint zeichenhaft als Text und Bild. Buchstaben sind Zeichen aus dem Bereich des Wortes. Sie erscheinen in einer bestimmten Reihenfolge. Je nach Reihenfolge erzählen sie tausendundeine Geschichten. Geschichten, in denen sich die Vielschichtigkeit der einzelnen Zeichen ausdrückt. Mehr noch: Im Erscheinen der Zeichen schauen wir die Verborgenheit des Nichts.

Der Mythos erzählt, was Zeichen sind. Zeichen sind Rufe aus dem Nichts. Dieses Rufen aus dem Nichts ist «schwarzes Feuer auf weissem Feuer». Das Feuer sucht sich zu festigen und manifestiert sich in den Formen. Der Mythos erzählt vom Wesentlichen dieses Geschehens. Indem er im Offenbaren gleichsam verbirgt, im Enthüllen wieder verhüllt, kann er jederzeit und überall von jeder und jedem neu entdeckt, neu interpretiert, neu verstanden und neu gelebt werden.

Eigenes Hieroglyphen-Alphabet

Werner Hartmann war so ein Zeichenerzähler. Seine Schriftzeichen, Wortbilder oder einfach Hieroglyphen illustrieren das vorliegende Magazin. Seine Zeichen erzählen Geschichten. Geschichten, die keinen Erkenntnisgewinn vermitteln – dieser gehört zum Logos. Seine Mitteilungen tragen mythische Züge. Auf die wortgewaltige und bildmächtige Kommunikation von heute antwortete er mit einem eigenen Hieroglyphen-Alphabet: mit abstrakt-unverständlichen, mitunter konkret-fassbaren Zeichen. Auf den ersten Blick scheinen manche verständlich – Wellen, Mond, Fisch, Haus, Tiere, Pyramide, Spirale – , aber im weiteren Zusammenhang bleiben sie mysteriös.

Unermüdlich setzte Hartmann Zeichen um Zeichen. Eines nach dem anderen, daneben oder darunter. Immer wieder neue. Alle von Hand niedergeschrieben. Keines ist daher mit anderen identisch. Jedes ist einmalig. Wie jeder Augenblick neu, auch anders ist. Damit widersetzte er sich den abgenutzten Mitteln und Klischees der Kommunikation. Ständig war er in einer Metamorphose begriffen. Manchmal fast beschwörend, manchmal akribisch – auf Details achtend – teilte er seine Botschaften mit. Öfters schrieb er Briefe, zum Beispiel jeden Tag einen an Kolumbus im geschichtsträchtigen Kolumbus-Jahr im Atelier zu Genua. Manchmal arbeitete er monatelang an einem Text – minutiös, zurückgezogen wie ein Schreibmönch.

Nichts als Zeichen? Alles ist Zeichen. In der Hafenstadt Genua angeschwemmte Holzstücke sind Zeichen. Erkennbar etwa als Bestandteile von Schiffen. Untergegangene, letzte Botschaften hinterlassend? Die Schwemmhölzer hat Werner Hartmann mit seinen Zeichen beschriftet und sie wieder auf die Reise geschickt. Wie die Schwemmhölzer hat er zeitlebens Materialien auch vor Ort gefunden. Bretter von Baustellen, Schiefertafeln, Steine, Papierblätter und Holzquader. In seinem New Yorker Jahr hat er die Megapolis zeichenhaft auf Holzquader fixiert: Sein New York als Zeichenstadt liegt jetzt überschaubar in seinem Atelier im Seefeldquartier. Doch sein Lieblingsmaterial waren die Tücher. Seine über Strassen, an Brücken und in der freien Natur wehenden Tücher erinnerten an Mahntuchbotschaften oder Weihefahnen, die ihre rituelle Botschaft dem Wind übergaben.

Schrift und Sprache waren für Hartmann ein Spannungsfeld: «Symbolisch für das, was heute geschieht, ist meine geschriebene Sprache nicht verständlich, nicht entzifferbar (ich kann sie zwar sprechen).» Obwohl er – sich kryptisch mitteilend – die Begegnung suchte, setzte er das Nichtverstandenwerden vorweg. Ein Paradox? Vielleicht. Doch Hartmann ging es nicht um faktologische Kommunikation mit Hilfe einer Zeichensprache. Ihm ging es um das autarke Eigenleben, um sich gegen den alltäglichen Gebrauch und Verbrauch von Text und Bild behaupten zu können. Daher war ihm auch jede Verwertungs- oder Nützlichkeitsabsicht seiner Kunstwerke fremd. Seine Zeichengeschichten erzählen vom alltäglichen Leben – als Aktion und Reaktion auf das, was um ihn herum geschah, lokal wie global. Es sind keine Ereignisprotokolle. Eher sind sie Ausdruck innerer Stimmungen und psychischer Regungen.

Gegen die Entzauberung der Welt

Hartmanns Zeichengeschichten lassen sich auch als Botschaften gegen die Entzauberung der Welt lesen. Von den kryptischen Bilderzählungen geht eine seltsame poetische Kraft aus. Sie können den Betrachter zur eigenen Imagination anregen. Sie können ihn aber auch, ohne die Bilderzählung entziffern zu wollen, ohne nach Funktion und Zweck zu suchen, einfach der Faszination des Geheimnisvollen überlassen.

Wie jeder Augenblick war auch jede Zeichengeschichte für Werner Hartmann ein Geburtsvorgang, eine Botschaft aus seinem Innern. Seine letzten Zeilen vor seinem Hinschied – im Atelier geschrieben – waren keine kryptischen Zeichen: «Alles, was ist, ist einmal nicht mehr. Vielleicht einfach anders. Das Herz oder die Seele sind spürbar, und es tut weh. Alle Tage, die sind, sind spürbar...»

 

 

unipressedienst unizürich-Magazin


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (
upd@zuv.unizh.ch)
http://www.unizh.ch/upd/magazin/2-97/
Last update: 11.08.97