VON JÜRG BÖNI UND JÖRG SCHÜPBACH
Gentechnologische Methoden haben sich nicht nur zur Herstellung biologischer Produkte und in der Grundlagenforschung bewährt, sondern auch in der medizinischen Diagnostik erfolgreich Einzug gehalten. Dank gentechnologischer Methoden kann man heute Erreger, die in geringsten Mengen vorliegen und deren Nachweis in der Erregerkultur Tage bis Wochen benötigen würde, innerhalb weniger Stunden identifizieren. Dieser Zeitgewinn kann für den Erfolg einer antibiotischen Therapie entscheidend sein. Daneben haben gentechnologische Diagnostikmethoden den Vorteil, dass eine Gefährdung des Untersuchungspersonals oder der Umwelt weitgehend ausgeschlossen wird. Der gentechnologische Nachweis eines «Killervirus» z.B. des gefürchteten Ebolavirus ist nicht gefährlicher als der eines Schnupfenvirus.
Gentechnologische Methoden sind aber nicht nur für die initiale Erregeridentifikation wichtig, sondern werden immer häufiger auch für das darauf folgende Therapie-Management herangezogen. Wichtig sind quantitative Bestimmungen zur Beurteilung, ob eine Therapie überhaupt notwendig ist, ob ein verabreichtes Medikament etwas genützt hat oder ob medikamentenresistente Erregervarianten vorliegen. Diese Verbesserungen in der infektiologischen Diagnostik wurden im wesentlichen durch Verfahren ermöglicht, die es erlauben, im Reagenzglas die DNS oder RNS eines Erregers millionenfach zu vermehren, bevor die eigentliche Analyse bzw. Identifikation erfolgt. Als das bisher wichtigste Verfahren hat sich die Polymerase-Kettenreaktion (Polymerase Chain Reaction, PCR) erwiesen. Mit der PCR werden im Reagenzglas gezielt kleine Abschnitte der DNS eines Erregers vermehrt. Diese angereicherte DNS wird dann mit erregerspezifischen Gensonden identifiziert. Der Nachweis mit Hilfe der PCR gelingt auch dann, wenn sich nur ein paar wenige Erreger im Untersuchungsmaterial befinden. Da mit der PCR nur DNS vermehrt werden kann, sind für den Nachweis von Erregern, die ein RNS-Genom besitzen, Anpassungen erforderlich. Voraussetzung für die PCR ist zudem die detaillierte Kenntnis der Nukleinsäuresequenz zumindest von Teilen des Erregergenoms.
Seit seiner Gründung vor zehn Jahren befasst sich das Nationale Zentrum für Retroviren (NZR) mit dem Nachweis von Infektionen durch menschliche Retroviren. Zu diesen gehören die Aids-Viren (HIV) und gewisse Tumorviren (HTLV), die in der Schweiz jedoch selten sind und nur selten zu Erkrankungen führen. Seit mehreren Jahren wird am NZR die PCR zum direkten Nachweis dieser Erreger eingesetzt. Trotz der insgesamt hohen Zuverlässigkeit versagt sie jedoch gelegentlich. Grund dafür ist in der Regel, dass die eingesetzten virusspezifischen Testreagenzien, die Primer und Gensonden, nicht alle Varianten einer Virusart zu erfassen vermögen. Bekanntlich weisen gerade die Aids-Viren eine hohe genetische Vielfalt auf. Innerhalb der beiden Typen HIV-1 und HIV-2 gibt es wiederum zahlreiche verschiedene Subtypen, deren Erbsubstanz sich teilweise stark unterscheidet. Es kann daher vorkommen, dass die von einem Labor eingesetzten HIV-spezifischen PCR-Reagenzien für einen bestimmten nachzuweisenden Erreger «nicht passen».
Schon bald nach der Erfindung der PCR vor etwa zehn Jahren überlegten wir uns, wie man Nachweismethoden für Retroviren weiter verbessern könnte. Wir suchten insbesondere nach einer Methode, mit welcher nicht nur die bereits bekannten, sondern auch noch unbekannte Retroviren aufgespürt werden konnten. Ein Weg zur Lösung dieses Problems ist in der Biologie der Retroviren vorgezeichnet. Jedes Retroviruspartikel enthält zwei Moleküle eines einzelsträngigen RNS-Genoms. Wenn das Virus eine Wirtszelle infiziert hat, wird die einzelsträngige RNS in eine doppelsträngige DNS umkopiert und diese dann in das Genom der Wirtszelle eingebaut. Das Umkopieren von RNS in DNS geschieht durch ein Enzym, das Reverse Transkriptase (RT) genannt wird. Weil der Vorgang des Umkopierens für die Virusvermehrung absolut notwendig ist, ist die RT ein unentbehrlicher Bestandteil jedes infektiösen Viruspartikels. Ein Test, der RT-Aktivität nachweist, kann also alle infektiösen Retroviruspartikel erfassen.
Ein solcher Test wurde in der Tat bereits kurz nach der Entdeckung der RT vor mehr als 25 Jahren entwickelt. Sein Prinzip ist in Abbildung 1 dargestellt:
Abbildung 1:
Prinzip eines Tests, der RT-Aktivität nachweist
Analog zu der Situation im Viruspartikel gibt man im Reagenzglas eine einzelsträngige RNS-Vorlage (Matrize, in Abb. 1 aus lauter gleichen Basen bestehend) vor, an die durch Basenpaarung ein kurzes Stück DNS gebunden ist. Diese kurze DNS wirkt als Initiator (Primer) der enzymatischen Reaktion. Gibt man nun markierte DNS-Bausteine hinzu und ein Untersuchungsmaterial, das RT enthält, so bildet diese unter Verwendung der DNS-Bausteine und durch Verlängerung am 3'-Ende des DNS-Primers ein markiertes Stück DNS. Dieses neugebildete DNS-Stück wird anschliessend nachgewiesen.
Dieser konventionelle RT-Test hat sich vielfach bewährt und war ein unentbehrliches Werkzeug für die Identifizierung von HIV, HTLV und verschiedenen weiteren Retroviren. Er weist jedoch zwei gravierende Mängel auf: Er ist ziemlich unempfindlich und hat eine geringe Spezifität. Beides wollten wir verbessern!
Um die mangelnde Empfindlichkeit des RT-Tests zu steigern, kamen wir auf die simple Idee, die von der RT synthetisierte DNS mit Hilfe der PCR zu vermehren. Dieser Test, den wir Product-Enhanced RT-Test (PERT-Test) tauften, ist in Abbildung 2 skizziert:
Abbildung 2: PERT-Test
Wiederum wird im Reagenzglas eine einzelsträngige RNS-Matrize zusammen mit einem DNS-Primer vorgelegt. Im Gegensatz zum konventionellen RT-Test verwenden wir aber eine natürliche RNS, die aus einem Bakteriophagen gewonnen wird und alle vier natürlicherweise vorkommenden Basen enthält. Deshalb müssen für die DNS-Synthese auch alle vier natürlichen DNS-Bausteine zur Verfügung gestellt werden. Gibt man ein Untersuchungsmaterial hinzu, das RT enthält, so synthetisiert diese einen zur Matrize komplementären DNS-Strang. Diese neugebildete DNS wird anschliessend mit Hilfe der PCR millionenfach vermehrt und darauf identifiziert.
Die mit dem PERT-Test erzielten Verbesserungen sind dramatisch. Die Nachweisgrenze wurde gegenüber dem konventionellen Test um einen Faktor von 1 bis 10 Millionen gesenkt. Es ist möglich, Mengen an RT nachzuweisen, die lediglich 3 bis 10 Viruspartikeln entsprechen. Studien mit HIV zeigten, dass dieses Virus mit dem PERT-Test sogar noch besser aufgespürt werden kann als mit der PCR. Gleichzeitig mit der Steigerung der Empfindlichkeit gelang es durch die Verwendung einer natürlichen RNS-Matrize, die Spezifität gegenüber dem RT-Test stark zu verbessern. Von 160 getesteten gesunden Blutspendern waren nur drei positiv, zwei davon nur schwach, einer jedoch mit hohen Aktivitätswerten, wie sie für HIV-Infizierte typisch sind. Mit PCR und allen anderen Tests war jedoch keines der bekannten Retroviren nachweisbar. Es handelte sich offenbar nicht um eine Infektion mit HIV oder HTLV. Um was aber sonst?
Da der PERT-Test keine Auskunft gibt über die Identität des für die nachgewiesene RT-Aktivität verantwortlichen Erregers RT ist ja in allen Retroviren vorhanden , sind zur Klärung einer solchen Situation zusätzliche Untersuchungen notwendig. Auch in diesem Fall halfen uns die Werkzeuge der Gentechnologie weiter: Gleichzeitig mit dem PERT-Test entwickelten wir am NZR eine Methode, mit welcher, ausgehend von minimal konservierten Abschnitten eines retroviralen Genoms, eine Teilsequenz der in den Retroviruspartikeln enthaltenen Virus-RNS ermittelt werden kann. Mit Hilfe dieser Methode konnten wir zum Beispiel aus einem Tröpfchen Blut eines HIV-Infizierten direkt RNS-Sequenzen isolieren und durch computergestützten Sequenzvergleich als typisch retrovirale Sequenzen eben HIV-Sequenzen identifizieren. Diese Identifikation war möglich, obwohl in dem Tröpfchen weniger als 1000 Viruspartikel vorhanden waren. Zum Vergleich: Als 1984 das Aids-Virus identifiziert und das Genom kloniert und sequenziert wurde, brauchte es dafür Milliarden von HIV-Partikeln, die nur in speziellen Zellkultursystemen produziert werden konnten! Auch im Falle des Blutspenders mit der hohen RT-Aktivität im Blutplasma konnten wir eine retrovirale Sequenz identifizieren. Wie vermutet, handelt es sich nicht um HIV oder HTLV, sondern um ein völlig anderes Retrovirus, ein endogenes Retrovirus. Endogene Retroviren stammen von Retrovirusinfektionen unserer Urahnen, die sich vor Jahrmillionen ereignet haben. Sie sind im Genom jedes Menschen als eine Art stummer Ballast enthalten und besitzen keine bekannte Funktion. Da dieser Blutspender in der HIV-Diagnostik unklare Befunde aufwies, sind weitere Untersuchungen im Gange, die klären sollen, ob die Tatsache, dass dieses endogene Retrovirus im Blutplasma vorhanden war, allenfalls für den unklaren diagnostischen Befund verantwortlich ist.
Mit dem PERT-Test haben wir somit ein Werkzeug entwickelt, das sich für den Nachweis von sowohl bekannten als auch bisher unbekannten menschlichen oder tierischen Retroviren eignet. Ein Forschungsprojekt des NZR befasst sich deshalb mit der systematischen Suche nach Retroviren bei Krankheiten, bei denen aus unterschiedlichen Gründen Infektionen mit solchen Viren als Ursache diskutiert werden. Dazu gehören beispielsweise verschiedene Autoimmunerkrankungen wie der Lupus erythematodes, die rheumatoide Arthritis oder die multiple Sklerose, aber auch gewisse Tumoren wie Leukämien und Lymphome.
Da der PERT-Test auch für quantitative Untersuchungen eingesetzt werden kann, eignet er sich auch zur Bestimmung der Viruskonzentration im Blut und damit zum Beispiel für das Therapie-Management von HIV-Patienten. Als universeller Test, der alle infektiösen Retroviren zu erfassen vermag, kann der PERT-Test nicht zuletzt auch zur Qualitätskontrolle in der Produktion von biomedizinischen Erzeugnissen wie zum Beispiel Impfstoffen, Plasmapräparaten oder gewissen gentechnologisch hergestellten Produkten eingesetzt werden.
Allerdings ist der PERT-Test zum jetzigen Zeitpunkt erst als Forschungstest einsetzbar. Verschiedene führende Labors in Europa und den USA haben unseren Test jedoch bereits bei sich eingeführt. Voraussetzung für eine grössere Verbreitung, insbesondere für die Verwendung in der Routinediagnostik, ist jedoch eine einfachere Handhabung und die Möglichkeit zur Erregeridentifizierung. Ebenso ist es notwendig, die Spezifität noch weiter zu verbessern. Abklärungen haben gezeigt, dass diese Ziele durchaus erreichbar sind.
Zum Thema: «Das Aids-Virus wird eingekreist» Der PERT-Test und andere Aids-Projekte an der Universität Zürich
Dr. Jürg Böni (jboeni@immv.unizh.ch) ist Leiter der Molekularbiologischen Arbeitsgruppe, und Dr. Jörg Schüpbach (jschupb@immv.unizh.ch) ist Privatdozent und Leiter des Nationalen Zentrums für Retroviren an der Universität Zürich.
unipressedienst Pressestelle der Universität Zürich
Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
http://www.unizh.ch/upd/magazin/1-96/retrovirus.html
Last update: 1-APR-96