Sauerstoff ist lebenswichtig. Aggressive Sauerstoffradikale sind lebensbedrohend. Sport führt zu erhöhtem Sauerstoffumsatz: Mit welchen Folgen? Macht der Jungbrunnen Sport alt? Der Zusammenhang von freien Radikalen, Alterung und Sport aus der Sicht der Biochemie.
Christoph Richter dem Ticken
der biologischen Uhr auf der Spur: Mässige oxidative Belastung
fördert Schutzmechanismen.
Leben ist lebensgefährlich. Früher waren die Menschen vor
allem durch Raubtiere, Verletzungen und Infektionen bedroht. In
der hochzivilisierten Welt sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen und
Krebs die häufigsten Killer. Rauchen, Alkohol, unausgewogene
Ernährung einschliesslich übermässiger Kalorienzufuhr
verkürzen unsere Lebensspanne. Aber wenn man nicht raucht und
trinkt, ein regelmässiges und abgesichertes Leben führt, woran
stirbt man dann? An Langeweile? Nein, sehr wahrscheinlich sind es
vor allem vom Körper selbst gebildete Substanzen, freie
Sauerstoffradikale, die unser Leben beenden, falls wir nicht
durch Unfall oder Krankheit sterben.
Sauerstoff ist ein ganz besonderer Stoff. Einerseits ist er die Basis für die Entstehung der komplexen, hochentwickelten Lebensformen, da er durch Aufnahme von Elektronen und vollständige Reduktion zu Wasser die für höhere Organismen benötigten grossen Energiemengen bereitstellt. Andererseits ist er sehr gefährlich, da bei seiner unvollständigen Reduktion aggressive Sauerstoffradikale entstehen (siehe Kasten). Dies geschieht vor allem in Mitochondrien, den «Kraftwerken» der Zellen, mit Hilfe der «Atmungskette».
Die maximale Lebenserwartung der verschiedenen Spezies ist sehr unterschiedlich. Ein Kolibri lebt viel kürzer als ein Albatros, eine Maus sehr viel kürzer als ein Mensch. Daraus kann man schliessen, dass die maximale Lebenserwartung genetisch bestimmt ist, allerdings nicht notwendigerweise von einem Gen.
Gibt es eine innere Uhr, die tickt, eine Sonde, die registriert, wie alt wir sind beziehungsweise wie lange wir noch zu leben haben? Etwas, von dem schliesslich die Information ausgeht, dass wir jetzt sterben sollen? Forschungsarbeiten der vergangenen zwei Jahrzehnte legen den Schluss nahe, dass Mitochondrien sowohl Sonde als auch Informationsgeber sind.
Mitochondrien sind Zellorganellen, in denen, ähnlich wie bei der aus dem Chemie-Einführungsversuch vertrauten Knallgasreaktion, Energie durch Reduktion von Sauerstoff zu Wasser freigesetzt wird und vor allem für die Synthese von ATP, der «Energiewährung» der Zelle, verwendet wird. Mitochondrien sind bei der Entstehung der höheren, eukaryontischen Zellen aus Bakterien hervorgegangen. Davon zeugt heute unter anderem die Tatsache, dass Mitochondrien eine eigene Erbsubstanz (DNA) haben und sich unabhängig vom Zellzyklus vermehren.
Ein bestimmter Anteil, schätzungsweise ein bis zwei Prozent des Sauerstoffs, der in Mitochondrien umgesetzt wird, wird unvollständig unter Bildung von freien Radikalen reduziert. Diese Sauerstoffradikale können die mitochondriale DNA angreifen und dadurch zu einer Veränderung ihrer Erbinformation (Mutationen) führen, welche ihrerseits eine verminderte Leistungsfähigkeit der Mitochondrien bedingt. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass die Qualität der mitochondrialen DNA und die Energiebereitstellung durch Mitochondrien im Verlauf des Lebens eines Individuums immer schlechter werden. Daraus entwickelte sich die Vorstellung, dass wir eines natürlichen Todes sterben, wenn der Energiegehalt (zum Beispiel gemesssen an der ATP-Menge) eines bestimmten Organs unter einen bestimmten Schwellenwert sinkt. Welches Organ dies ist, ist nicht bekannt. Vieles deutet darauf hin, dass der Energiegehalt von Gehirn oder Herz entscheidend ist.
Aus diesen Befunden und Überlegungen folgt, dass die mitochondriale DNA sowohl die Sonde als auch der Informationsgeber für Lebensdauer bzw. Sterben sein könnte: Als Sonde, weil in ihr über die Entstehung von Mutationen der Sauerstoffumsatz der Zelle festgeschrieben wird, als Informationsgeber, weil durch die Mutationen eine verringerte Energiebereitstellung bedingt ist.
Wenn wir Sport treiben, reagiert der Körper auf den steigenden Energiebedarf mit erhöhtem Sauerstoffverbrauch und erhöhter ATP-Produktion in den Mitochondrien. Man findet klare Anzeichen für eine generelle oxidative Belastung des Körpers während und nach sportlicher Betätigung. Da mitochondrialer Sauerstoffverbrauch mit der Bildung von Sauerstoffradikalen einhergeht, sollte Sport zu einer erhöhten oxidativen Belastung der mitochondrialen DNA und damit zu einem vorzeitigen Altern führen. Um es vorwegzunehmen und die Sportfreaks zu beruhigen: Wir können diese Vermutung für den Menschen aus versuchstechnischen Gründen weder als zutreffend noch als falsch betrachten, aber Untersuchungen an Tieren und mit Zellkulturen legen nahe, dass mässige und vorübergehende oxidative Belastung beim Menschen die Lebenszeit verlängert und das Auftreten der das Altern begleitenden Krankheiten hinauszögert.
Sauerstoffradikale sind sehr gefährlich. Das manifestierte sich eindrücklich vor etwa 1,3 Milliarden Jahren, als durch biologische Aktivitäten ähnlich denen der heutigen Photosynthese Sauerstoff in die Atmosphäre freigesetzt wurde und sich dort ansammelte. Fast alle damals lebenden Organismen gingen durch diese Umweltkatastrophe zugrunde. Einige überlebten und überleben noch heute, weil sie sich vor dem Sauerstoff verbargen (Anaerobier), andere, weil sie Schutzsysteme gegen Sauerstoffradikale entwickelten (Aerobier). Letztere machten sich die positiven Eigenschaften des Sauerstoffs zunutze (Energiebereitstellung, s. oben) und ermöglichten dadurch die Entstehung der höheren Organismen.
Die Schutzsysteme, die es erlauben, trotz der permanenten Bildung aggressiver Sauerstoffradikale zu überleben, sind Antioxidantien. Diese kann man in nicht-enzymatische Antioxidantien und Enzyme mit antioxidativen Aktivitäten unterteilen. Zu den ersten zählen eine Vielzahl von Substanzen wie Vitamin C und E, Glutathion, Ubichinon, Liponsäure, Harnsäure und Bilirubin, zu den letzten Superoxid-Dismutasen, Peroxidasen und Katalase.
Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts ist bekannt, dass die Lebensspanne verschiedener Säugetierspezies umgekehrt proportional dem Sauerstoffverbrauch pro Einheit Körpergewicht ist. In den letzten Jahren fand man, dass Langlebigkeit einer Spezies mit einer geringen Sauerstoffradikalproduktion einhergeht.
Die Lebensspanne von Tieren lässt sich experimentell verlängern. So wurde im Frühjahr 1994 berichtet, dass Fliegen um etwa 40 Prozent länger leben, wenn man in ihren Zellen gleichzeitig den Gehalt an Superoxid-Dismutase und Katalase erhöht, einzelne Erhöhung dieser Schutzenzyme jedoch zu keiner Veränderung der Lebensspanne führt. Dieses bemerkenswerte Experiment zeigt sehr klar, dass eine Erniedrigung des intrazellulären Gehalts an Hydroxylradikalen (siehe Kasten) das Leben verlängert. In Säugetieren kann man ebenfalls, auf eine verblüffend einfache Weise, das Leben verlängern: durch Verringerung der Kalorienzufuhr. Ratten oder Mäuse leben etwa 35 Prozent länger, wenn man ihnen nur 60 Prozent der Kalorien anbietet, die sie bei unbeschränkter Kalorienzufuhr zu sich nehmen. Ähnliche Studien werden zurzeit mit Menschenaffen durchgeführt. Daten bezüglich Lebensverlängerung liegen noch nicht vor, aber es zeigt sich bereits, dass Kalorienrestriktion sich positiv auf den Blutdruck und die Regulation des Blutzuckerspiegels auswirkt.
Ist der Befund, dass Kalorienrestriktion lebensverlängernd wirkt, im Einklang mit der Überlegung, dass Sauerstoffradikale lebensbegrenzend sind? Versuche im Reagenzglas legen es nahe. Mitochondrien, deren «Atmungskette» vermehrt mit Elektronen besetzt ist, bilden vermehrt Sauerstoffradikale. Da im lebenden Organismus die Elektronen, die die «Atmungskette» bedienen, letztlich aus der Nahrung stammen, vermutet man, dass übermässige Kalorienzufuhr eine vermehrte Produktion von Sauerstoffradikalen bedingt.
Aus Studien mit Zellkulturen wissen wir, dass ein moderater oxidativer Stress zu einer vermehrten Bildung von antioxidativ wirkenden Enzymen führt, was diese Zellen unempfindlicher gegen einen weiteren oxidativen Stress macht. Diese Aufregulierung von Schutzenzymen betrifft unter anderem die Klasse der sogenannten Hitzeschockproteine. Sie schützen nicht nur gegen Hitzeschock, sondern wirken zusätzlich antioxidativ und können dadurch Mitochondrien stabilisieren. Versuchsratten, denen man die Kalorienzufuhr einschränkt und die Möglichkeit zu reichlicher Bewegung gibt (freiwillig zurückgelegte Strecke pro Nacht durchschnittlich 4069 Meter!), sind antioxidativ besser ausgerüstet als die Kontrolltiere. Entsprechende Studien mit Menschen liegen nicht vor, aber es ist anzunehmen, dass moderate Kalorienzufuhr und körperliche Bewegung oxidativen Stress beim Menschen ebenfalls erniedrigen.
Die wissenschaftlichen Befunde legen nahe, dass moderate Kalorienzufuhr und körperliche Bewegung sich positiv auf Gesundheit und Lebenserwartung des Menschen auswirken. Die Nahrung sollte abwechslungsreich sein, um dem Körper Spurenelemente und Vitamine in genügendem Ausmass anzubieten, so dass ein Schutz gegen Sauerstoffradikale gewährleistet ist.
Neben der rein biochemisch-physiologischen Betrachtungsweise darf man die psychischen Aspekte der sportlichen Betätigung nicht vernachlässigen. Ob sich das Wohlgefühl, das nach einer körperlichen Belastung auftreten kann, der Abbau von Stress und die Förderung sozialer Kontakte durch Sport lebenszeitverlängernd auswirken, ist bisher nicht geklärt.
Dr. Christoph Richter (christoph.richter@bc.biol.ethz.ch)ist Titularprofessor und Privatdozent für Biochemie an der ETH Zürich.
In der Atmungskette, die in der inneren Membran der Mitochondrien lokalisiert ist, findet die Reduktion von molekularem Sauerstoff mit vier Elektronen zu Wasser statt:
O2 + 4 e- + 4 H+ -----> 2 H2O + Energie.
Dieser der Knallgasreaktion entsprechende Prozess läuft in Mitochondrien kontrolliert und bei niedriger Temperatur ab. Die freiwerdende Energie wird in biochemisch nutzbare Energie und Wärme umgewandelt.
Etwa 1 bis 2 Prozent des in den Mitochondrien verbrauchten Sauerstoffs wird mit nur einem Elektron reduziert. Durch diese Reaktion entsteht das Superoxid-Radikal O2-, das seinerseits Wasserstoffperoxid, H2O2, bilden kann. Weder Superoxid noch Wasserstoffperoxid allein sind besonders gefährlich; sie können jedoch durch Reaktion miteinander, besonders in Gegenwart von Schwermetallionen, das extrem reaktive Hydroxylradikal OH. bilden.
unipressedienst Pressestelle der
Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
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Last update: 09.07.97