Die Grundsätze der Rehabilitation sind physiologisch definiert. Sie gelten für jeden Menschen. Beim Leistungssportler wird versucht, manchmal auch unter Inkaufnahme eines gewissen Risikos Grenzbereiche auszuloten. Diese Erfahrungen sollen wieder in den allgemeinen Rehabilitationsprozess einfliessen und dem Normalbürger zugute kommen.
VON WALTER O. FREY
Zwei Tage nach der Meniskusoperation gewinnt Pirmin Zurbriggen bereits wieder ein Weltcup-Rennen. Warum schleppe ich mich zu diesem Zeitpunkt an Stöcken gerade zum erstenmal in die Physiotherapie? Was wurde bei ihm anders gemacht? Warum kann nicht auch ich diesen Service haben?
Solche und ähnliche Gedanken gehen einem durch den Kopf, liest oder hört man von den phantastischen Genesungsprozessen von Spitzensportlern. Um hier wirklich hinter die Kulissen zu schauen, müssen wir uns zuerst mit einigen Fakten bekanntmachen.
Unter Rehabilitation im weiteren Sinne versteht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein möglichst vollständiges Wiedererlangen der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung der Voraussetzungen funktioneller, anatomischer, psychischer und sozialer Art des entsprechenden Individuums. Diese Voraussetzungen sind natürlich für einen Leistungssportler und einen durchschnittlichen Büromenschen grundverschieden. Er startet auf einem anderen Podest und will auch auf dieses zurück.
Umgesetzt auf den Leistungssport ist die Sportrehabilitation die Rückführung des Leistungssportlers zu seiner vollen sportlichen Leistungsfähigkeit unter den vorgegebenen motorischen, anatomischen und psychischen Möglichkeiten nach einer Verletzung oder Krankheit. Es können also auch keine Effekte erwartet werden, welche über die vorgegebenen Möglichkeiten hinausgehen.
Den Leistungssportler möchte ich gerade aus der Erfahrung im Alltag etwas breiter definiert wissen: Es geht hier nicht nur um den Spitzenspieler in der Nationalmannschaft oder den Medaillengewinner an einer Olympiade, sondern um den regelmässig trainierenden Hobbysportler vom Junior bis zum Veteranen, für den die Ausübung des Sportes eine wesentliche Rolle in seinem Leben spielt.
Richtlinien zur Rehabilitation | |
1 | Schmerz, Erguss (=Störfaktoren) reduzieren |
2 | Spezifische Bewegungstherapie zur Behebung der lokalen Funktionsstörung |
3 | Trainingstherapie zur Erhaltung der körperlichen Leistungsfähigkeit |
4 | Selbständiger Patient durch praktische Instruktion |
5 | Bewältigungsstrategien (Coping) |
Phase 1 | Entzündung | 3 Tage bis 2 Wochen |
Phase 2 | Proliferation | 1 Woche bis 3 Monate |
Phase 3 | Organisation | 2 Monate bis ? |
Das Schema des Heilungsverlaufes ist beim Sportler und
Nichtsportler identisch. Unser Körper hat nur ein beschränktes
Repertoire, um auf Einflüsse von aussen zu reagieren. In einer
ersten Phase, sei der Auslöser ein Insektenstich oder eine
Fussverrenkung, ist dies stets die Entzündung. Sie ist
gekennzeichnet durch:
Die Behandlungsgrundsätze dieser Heilungsphase sind uns allen bekannt. Es gilt, den in der Regel überschiessenden Entzündungsprozess raschmöglichst in sinnvolle Bahnen zu lenken. Ruhigstellung, Hochlagern, Komprimieren und Kälteanwendung sind immer noch die Mittel der Wahl. Auch der Einsatz von entzündungshemmenden Medikamenten und Salben/Gels hat hier seinen Platz. Die initiale Entzündungsphase dauert in der Regel zwischen drei Tagen und zwei Wochen. Histologisch betrachtet versucht der Körper eine Art Schadensbegrenzung durchzusetzen und die beschädigten Strukturen umzuwandeln oder abzutransportieren.
Nach rund einer Woche beginnt in der Regel überlappend die Proliferationsphase. Sie kann mehrere Monate dauern. Dabei kommt es zum Einwachsen der neuen Zellen, meist noch unkoordiniert, aber das Gewebe beginnt langsam wieder eine gewisse Festigkeit zu erlangen. Es beginnt die Wiederherstellung der anatomischen und funktionellen Voraussetzungen, die sich insbesondere in qualitativer Hinsicht durch eine geeignete physikalische Behandlung und durch ein adäquates Einsetzen von Belastung und Entlastung beeinflussen lässt.
Zwei Therapieformen stehen sich jetzt konträr gegenüber: Die Entzündungsphase verlangt nach möglichst vollständiger Ruhigstellung, und auch in der Proliferationsphase wollen die verletzten Strukturen möglichst ruhiggestellt sein. Bis Anfang der 80er Jahre war daher bei vielen Weichteilverletzungen der Gips für 6 bis 10 Wochen das Mittel der Wahl. Man glaubte, damit optimale Rahmenbedingungen für den Heilungsprozess zu schaffen. Heute weiss man aber, dass in der Proliferationsphase, v. a. aber in der überlappend anschliessenden Organisationsphase die dosierte Bewegung unter Schutz der geschädigten Strukturen das Rehabilitationsmittel der Wahl ist.
Als erstes gilt es nämlich, die Gelenksbeweglichkeit auf möglichst gutem Niveau zu erhalten. Die Störfaktoren Schmerz und Erguss aus der Entzündungsphase behandelt man nicht mehr über die absolute Ruhigstellung, sondern versucht sie mittels passiver physikalischer Massnahmen (resorbierende Elektrotherapie, Ultraschall, Kälte usw.) zu dämpfen. Gleichzeitig wird über Stunden im sicheren Bewegungsausschlag das verletzte Gelenk auf einer Maschine durchbewegt.
Nur schon für den hier geschilderten Bereich der Beweglichkeit befindet sich das Rehabilitationsteam (Patient, Therapeut, Arzt) auf einer ständigen Gratwanderung zwischen einem Zuviel an Bewegung mit der Gefahr des Wiederaufflammens des Entzündungsprozesses oder dem Zerreissen von sich in Heilung befindenden verletzten Strukturen und einem Zuwenig an Bewegung mit suboptimalem Heilungsprozess und mindestens partiell versteiftem Gelenk.
Die gleiche Problematik gilt aber auch für den Kraftbereich, braucht doch das Gewebe nach dem Wolffschen Gesetz eine gewisse Belastung, um eine optimale Festigkeit zu erlangen. Nur, wie gross darf diese Kraft sein, ohne dass es zu Sekundärschäden kommt?
Das Reha-Team ist in diesem Abschnitt besonders stark gefordert: Neben reinem Fachwissen ist Ideenreichtum und Flexibilität gefragt. Ist zum Beispiel bei der Schulterrehabilitation die Aussenrotation noch verboten oder limitiert, kann diesbezüglich Kraft (wie auch limitiert die Beweglichkeit) durch einfaches Elevationstraining geschult werden. Die Elevation der Schulter beinhaltet nämlich immer auch eine gewisse Aussenrotation.
Olga Korneva,
Mitglied der russischen Nationalmannschaft im Langlauf, beim Wet
Vest Training.
Um einen eigentlichen Durchbruch im Therapiebereich zu erzielen,
brauchte es neben den rein wissenschaftlichen Erkenntnissen auch
einen technisch-industriellen Sprung.
So konnte in der Nachbehandlung der Verstauchung im Sprunggelenk (Supinationstrauma) dem Gips und der Operation erst Lebewohl gesagt werden, als auch Mitte der 80er Jahre entsprechende Schuhe und v. a. funktionelle Braces zur Verfügung standen, die eine entsprechende Nachbehandlung ermöglichten. Vom Druck aus dem Sport, mit imperativem Wunsch nach einem optimalen Rehabilitationsablauf, profitiert heute die normale Hausfrau, wenn sie die Notfallstation nicht mehr an Stöcken und mit Gips verlässt, sondern ihr Fussgelenk-Brace fast unsichtbar in den normalen Turnschuhen trägt.
Wird für den Nichtsportler die Rehabilitation bereits in der Proliferationsphase weniger aggressiv und damit auch mit geringerem Risiko vorangetrieben, überlässt man die anschliessende 3. Phase, die Organisationsphase, meist dem Alltag und beendet hier die gezielte Therapie.
Neu zum Reha-Team stösst jetzt der Trainer. Wir sprechen auch nicht mehr von «ungesund» oder «krank», sondern ersetzen diese Begriffe durch solche, die die Funktionstüchtigkeit umschreiben: allgemeine Ausdauer, sportart- oder wettkampfspezifische Belastung usw. Häufig muss man in dieser Phase auch Trainingsmängel oder eine fehlerhafte Technik (evtl. der eigentliche Grund für die Verletzung), welche bereits früher bestanden haben, ausmerzen. Manchmal müssen ganze Trainingspläne zeitweise oder für immer umgeschrieben werden. War der Überlastungsschaden durch einseitiges Training bedingt, muss neu nun polysportiv trainiert werden, und schon manche Landratte musste lernen, auch im Wasser zu trainieren.
Bereits ab Beginn der Phase 2 wird der ganze übrige Körper, mit Ausnahme der verletzten Gliedmassen, beim Sportler einem adaptierten Training der konditionellen Grundfaktoren (Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit, Schnelligkeit, Koordination) unterzogen.
Last, but not least müssen beim Sportler die psychologischen Momente noch viel mehr als beim Nichtsportler in den Rehabilitationsprozess miteinfliessen. Ein Slalomfahrer nach einer Schulterluxation hat später grösste Mühe, den Bogen links und rechts um die Slalom-Stange einigermassen symmetrisch zu fahren. Damit sich solches Verhalten nicht im Unterbewussten einnistet, wurden sogenannte Coping-Strategien entwickelt, welche möglichst früh im Rehabilitationsprozess von Arzt und Therapeut eingesetzt werden sollten. Auch das Element der Motivation und Freude kann zum Beispiel durch Setzen und Erreichen von Zwischenzielen nicht früh genug eingesetzt werden.
Auch in der Sportrehabilitation wird nur mit Wasser gekocht. Die Grundprinzipien des Heilungsprozesses gelten auch hier. Unter Ausschöpfung aller Mittel (v. a. auch viel Zeit) und unter Inkaufnahme abschätzbarer Risiken können gewisse Rehabilitationsziele hier rascher erreicht werden. Dafür braucht es gewisse personelle, materielle und organisatorische Voraussetzungen. Der Nichtsportler profitiert risikolos mittelfristig direkt von den aus diesem Grenzbereich gewonnenen Erkenntnissen.
Literatur
Literaturangaben können beim Autor des Artikels bezogen werden.
Dr. Walter O. Frey ist leitender Arzt der Sportmedizinischen Abteilung der Schulthess-Klinik in Zürich. Zudem ist er Mitglied der Komission «Bewegungs- und Sportwissenschaft» der ETHZ und Leiter des Sportmedizinischen Untersuchungszentrums Zürich des Schweizerischen Olympischen Komitees.
unipressedienst
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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
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Last update: 09.07.97