«Gelassenheit», ein Wort, das noch heute eine Lebenshaltung meint, die anzustreben wäre und sich positiv auswirken würde. Allein, wie radikal die Mystiker, Heinrich Seuse zum Beispiel, diesen Zustand begriffen, ist für moderne Gemüter harte Kost: sich wie ein Fusstuch, ein Spielball, den Hunden zur Zerstörung überlassen. Oder alles loslassen, auch Gott, um von ihm vielleicht aufgenommen zu werden.
Mystik: verworrenes Dunkel; das schlechthin Unverständliche und deshalb als Alterität nicht diskutabel; zu jeder Zeit und in jeder Religion identisch oder eine in jedem einzelnen Fall von individuellen Bestimmungen geformte, schwer fassbare Erfahrung? Ein theologisch genau definierbarer Ablauf? Gegen alle Religionsbindungen, sektiererisch oder allein im katholischen Glauben möglich?
Alois M. Haas: Kunst rechter
Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik.
Bern usw.: Peter Lang, 1995. 278 Seiten, Fr. 68..
Die ganze Bandbreite solch divergenter Theorien, Meinungen oder
auch Vorurteile trägt der Zürcher Germanist Alois Maria Haas,
Professor für deutsche Literatur des Mittelalters, auch Laien
verständlich vor und bringt dabei klar seine eigene Auffassung
von Mystik zum Ausdruck. Das Buch ist Ergebnis jahrelanger
Beschäftigung mit Texten der deutschen Mystik und zugleich das
beim derzeitigen wissenschaftlichen Stand Gültigste über
Heinrich Seuse. Mit sorgfältig ausgewählten und kommentierten
Abbildungen aus Seuses Werken ist das Buch anregende Lektüre
für alle, die sich auf mittelalterliches Denken einlassen
möchten.
Es sind zehn in sich geschlossene Aufsätze, zum Teil kürzlich, zum Teil erstmals publiziert, die jeweils von einem Aspekt her die Gestalt des Dominikaners Seuse und seiner Werke beleuchten. Zusammen leisten sie mehr als verstreute Aufsätze; eine Intensität stellt sich her, die nicht zuletzt einigen Wiederholungen zu verdanken ist. Die Schlüsselszenen, die wichtigsten Visionen und speziell Seuseschen Ausformungen von Frömmigkeitspraxis und -lehre prägen sich in ihrem Stellenwert besser ein, wenn sie in verschiedenen Themenzusammenhängen wiedererscheinen.
Spürbares Engagement
Bei allem Gehalt an Information, klaren Unterscheidungen und Abgrenzungen ist stets Engagement, mutige Stellungnahme zu spüren. Mystische Erfahrungen und ihre Vermittlung seien nicht losgelöst von ihrem religiösen Grund zu betrachten. Und daran entzündet sich leicht die Diskussion um Wahrheit, Glaube und die Möglichkeit der authentischen Wiedergabe. Vehement tritt Haas den Strömungen entgegen, die Visionen jeden realen Erlebnisgehalt absprechen wollen; eher neigt er zu Peter Dinzelbachers «Faktizitäts»lesen, wenn auch gewaschen mit allen Wassern der Textkritik.
Fremdes in genauem Studium eröffnen
Heinrich Seuse wurde um 1295/97 als Heinrich von Berg in der Gegend von Konstanz geboren. Den Namen Seuse legte er sich nach seiner Mutter (Süs oder Sus) zu. Früh trat er ins Dominikanerkloster in Konstanz ein. Sein Leben war gezeichnet vom Ringen um die rechte Frömmigkeit, den rechten Weg, die via regia: Wenn er ihn gefunden zu haben glaubte, schrieb er Anleitungen für die ihm Nahestehenden. Die wichtigste dieser Personen war die Tösser Nonne Elsbeth Stagel, die Haas als «Seuses geistliche Gefährtin» vorstellt. Sowohl die Natur dieser Beziehung zwischen dem Mönch und der Nonne als auch Seuses ausgeklügelte Methoden der Selbstkasteiung, um Gott näherzukommen, bleiben modernen Leserinnen und Lesern nicht restlos erklärbar.
So, wie Alois Haas die erreichbaren Informationen präsentiert und Zusammenhänge herstellt, können keine banalen Schlüsse gezogen werden, sondern es wird sichtbar, wie sich Fremdes dem genauen Studium allmählich öffnen kann.
Schwermütigkeit und Gelassenheit
Drei Aufsätze zur Kirchenkritik, Passionsmystik und
Kreuzesmystik erläutern Seuses Denken und die Beziehung zu
Meister Eckhart und Johannes Tauler, die der Autor genausogut
kennt. Spannend lesen sich die Darstellungen der beiden
Begriffe «Schwermütigkeit» und «Gelassenheit» als zentrale
Erklärungsmittel mystischen Vorgehens. Der Aufsatz «Seuse
lesen» stellt sich in die literaturtheoretische Diskussion und
bringt das Wesen mystischen Redens auf die
zwei Schlüsselwörter «înkêr» (innere Einkehr) und
«înslac» («Einschlag»: Heimsuchung, möglich im Zustand der
«înkêr»).
Parteinahme
Was denn nun genau Haas' Auffassung von Mystik sei, will die kritische Leserin ungeduldig wissen. Hier zeigt sich die Souveränität des Professors. Wo andere verkrampft kritische Distanz anstreben, besteht er auf dem Glauben, dass der Mystiker die Wahrheit berichte und dass seinen Erlebnissen ein göttlicher Eingriff zugrunde liege. Diese entschiedene Parteinahme verleiht dem Buch seinen Glanz und macht die Lektüre verbindlich.
Pia Holenstein Weidmann
unipressedienst Pressestelle der
Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
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Last update: 09.07.97