Magazin der Universität Zürich Nr. 4/96

Freizeitsport als zentrale Sinn- und Identitätsquelle?

An Ausdauersportwettkämpfen vollbringen FreizeitsportlerInnen eindrückliche Leistungen. Dies setzt einen enormen Trainingsaufwand voraus und die Bereitschaft zu einem ungewöhnlichen Lebensstil. Welches sind die Beweggründe für dieses Engagement? Wird dabei von der Freizeit der Berufsarbeit der Vorrang streitig gemacht, zentrale Quelle von Sinn und Identität zu sein? Diese Fragen werden am Beispiel Triathlon erläutert.

VON JÜRG SCHMID

Wie Menschen ihre Freizeit verbringen, hat sich in den letzten Jahrzehnten merklich verändert: Eine auffällige Veränderung ist, dass eine breite Masse von FreizeitsportlerInnen unerhörte Leistungen vollbringt, namentlich Ausdauerleistungen, die früher wenigen EliteathletInnen vorbehalten waren. Dies ist auch in der Sportart Triathlon zu beobachten, von der im folgenden die Rede ist. Es handelt sich um einen Ausdauerwettkampf, bei dem die drei Teildisziplinen Schwimmen, Radfahren und Laufen absolviert werden. In der klassischen Form führt ein Triathlon über die Distanz von 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42 Kilometer Laufen. Je nach Leistungsvermögen entspricht dies einer physischen und psychischen Beanspruchung während rund 8 bis 16 Stunden. Diese Aufgabe zu meistern setzt die Bereitschaft voraus, allein für das Training einen enormen zeitlichen Aufwand zu treiben, den Alltag den Erfordernissen des Trainings anzupassen und Entsagungen im privaten Lebensbereich hinzunehmen.

Triathlon: Mehr als Freizeitspass

Motivation für Triathlon

Wie kommt jemand dazu, dies neben dem Arbeitsalltag auf sich zu nehmen und ohne offenkundige Notwendigkeit und ohne Gewinnaussicht Triathlonanlässe zu bestreiten? Für ein solch «unvernünftiges» Tun hat das psychologische Alltagsverständnis schnell eine Erklärung bereit: TriathletInnen seien «SpinnerInnen», und der Sport sei ein Feld, auf dem sie ihre Eigenheit ausleben. Diese Deutung ist zum einen zu einfach: Sie wird stets vorgebracht, wenn es ein etwas ungewöhnliches Treiben zu ergründen gilt – wahrscheinlich schon, als Menschen die ersten Flugapparate gebaut haben. Zum andern ist dieser Deutungsversuch wenig stichhaltig. Jedenfalls will er nicht so recht dazu passen, dass TriathletInnen und andere AusdauersportlerInnen im allgemeinen intellektuell anspruchsvolle Berufe ausüben und überdurchschnittlich häufig «höhere» Chargen in der Unternehmenshierarchie einnehmen.

Ein direkterer Zugang zur Frage, warum und wozu jemand Ausdauersport treibt, ergibt sich, wenn man diese Person direkt danach fragt. In derartigen Studien geben AusdauersportlerInnen als Beweggründe jeweils an, dass ihnen der Sport zu psychischem Wohlbefinden verhelfe, zu sozialem Kontakt und Anerkennung; dass er Gesundheit und Fitness fördere und das Erleben eigener Leistungsfähigkeit ermögliche.

Quelle für Sinn- und Selbstwertgefühle

Hinter diesen Beweggründen lässt sich eine abstraktere psychologische Bedeutung vermuten, die dem Ausdauersport zukommt: Ist er etwa eine wichtige Quelle der Identität, das heisst, vermittelt er ein subjektives Verständnis dessen, wer und was man ist, sowie Sinn und Selbstwertgefühl? Diese Vermutung ist vor dem Hintergrund plausibel, dass andere Lebensbereiche und Institutionen, die Identität und Sinn stiften können, an Bedeutung verloren haben.

Ablösung traditioneller Sinnquellen

Lange Zeit waren religiöse, regionale, soziale oder familiäre Zugehörigkeit die gängigen Identitäts- und Sinnquellen. In modernen westlichen Gesellschaften sind sie jedoch durch Arbeit und Beruf abgelöst worden, denn wer und was man ist, hängt in der Regel weitgehend davon ab, was man beruflich tut. Im Zug des Wandels der Arbeitswelt, namentlich der Abnahme der Arbeitszeit und der entsprechenden Zunahme der Freizeit, so wird argumentiert, haben sich die Gewichte erneut verschoben. In Form der Freizeit biete sich nun ein weiterer Lebensbereich an, in dem Menschen Sinn und Identität finden.

Für diese These gibt es tatsächlich Belege: So berichten SportlerInnen, die eine schwere Verletzung erlitten oder ihre Laufbahn beendet haben und darum weniger oder keinen Sport mehr treiben (können), über Orientierungslosigkeit, Sinndefizite, Identitätsprobleme oder -krisen. Auch aus Studien an aktiven AthletInnen ist bekannt, das der Sport eine wichtige Identitätsquelle ist.

Identität durch Beruf und Sport

Eine eigene Studie an TriathletInnen zeigt aber noch etwas anderes: Nicht alle TriathletInnen machen Sport zum Angelpunkt des subjektiven Sinnerlebens und ihrer Identität, und schon gar nicht ausschliesslich. Auf die Frage, was für ihre Identität wichtiger ist, der Sport oder der Beruf, war es für die Mehrzahl dieser TriathletInnen der Beruf oder der Beruf und Sport zu gleichen Teilen. Jene, die sich vorab über den Sport definierten, waren meist mit ihrer gegenwärtigen Arbeitssituation unzufrieden und hatten keine Zukunftsaussichten mehr, suchten also nach einem Ausweg aus einer beruflichen Sackgasse.

Was sagen uns diese Befunde? Ausgerechnet die Freizeitbeschäftigung Triathlon, die unbeteiligten Beobachtern als unvernünftiges oder sinnloses Tun erscheinen mag, ist ein Handlungsfeld, das vielen Menschen Sinn vermittelt und Gelegenheit gibt, sich stets von neuem in ihrer Identität wahrzunehmen. Dass in modernen Gesellschaften aber die Freizeit mehr und mehr die identitätsstiftende Funktion der Berufsarbeit übernimmt, scheint nicht zuzutreffen: Triathlon und andere Freizeitbeschäftigungen sind gegenwärtig keine Alternative zur Identitätsgewinnung durch die Arbeit.

Dies ist bemerkenswert, denn der Ausdauersport scheint sich besonders dafür anzubieten. Verglichen mit traditionelleren Freizeitbeschäftigungen wie Fernsehen, Freunde und Bekannte treffen oder Spazierengehen ist er nämlich der Berufsarbeit nicht unähnlich – zumindest aus der Sicht des aussenstehenden Beobachters: Eine Ähnlichkeit zwischen Arbeitswelt und Triathlon liegt beispielsweise in der Trainingsgestaltung, die mit ihrer Betonung auf Systematik und Effizienz stark den Gesetzen der Arbeit folgt. Eine andere Ähnlichkeit besteht in den vorherrschenden Idealen und Werten. Denkt man an die zahlreichen und langen Trainings, so zeigen sich Berührungspunkte mit der protestantischen Arbeitsethik und ihren Werten wie Fleiss und Disziplin. Jedenfalls wird aus der Aussenperspektive mit Triathlon nicht unmittelbar Erholung oder Spass assoziiert, wie dies gemeinhin mit Freizeit gemacht wird.

So sehr sich in unserer Gesellschaft die Art verändert, wie Menschen ihre Freizeit verbringen, und so sehr der Wandel von der Arbeits- zur Freizeitgesellschaft erörtert wird, etwas ist gleich geblieben: Für die meisten Menschen ist nach wie vor die Berufsarbeit jener Lebensbereich, aus dem sie ihre Identität beziehen und um den herum sie das Leben gestalten – und nicht die Freizeit.


Literatur

Eine Liste der Literatur, die für diesen Beitrag verwendet worden ist, kann beim Autor bezogen werden.


Dr. Jürg Schmid (juerg.schmid.@sport.ethz.ch)ist Oberassistent an der Abteilung für Turn- und Sportlehrer der ETH und Lehrbeauftragter der Abteilung Angewandte Psychologie des Psychologischen Instituts der Universität Zürich.


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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
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Last update: 09.07.97