Magazin der Universität Zürich Nr. 4/96

«Der Fernsehapparat ist das mir liebste Sportgerät»

VON SILVIO BLATTER

Vorbemerkung: Im Haus, in dem ich wohne, wird zwischen Aktivsportlern und Fernsehsportlern unterschieden. Am Samstagnachmittag gehen die Aktivsportler joggen. Die Fernsehsportler sammeln sich vor dem TV-Gerät. Die Aktivsportler rennen 45 Minuten, die Fernsehsportler halten 4 Stunden und 52 Minuten durch: French Open, Finale der Herren. Die Aktivsportler verpflegen sich mit Energiebarren von Nestlé, die Fernsehsportler verzehren Gummibärchen (Haribo). Nach dem sportlichen Samstag beklagen alle Sportler Gelenk-, Glieder- und Muskelschmerzen.

I

Antritt, Körpertäuschung, Sprung, Direktabnahme: Tor. Verben, Konjunktionen, Adjektive: sogenannte ganze Sätze würden das Tor nicht besser (anschaulicher, genauer, angemessener) einfangen. In der Zeitlupe ist zu sehen, wie Kubilay Türkyilmaz sein Tor geschossen hat. Nochmals. Wieder. Es ist zu sehen, aber nicht zu erklären. Sprachliche Umschreibungen verlangsamen den Vorgang, bei dem es auf Schnelligkeit ankommt. Für diese Körper-Koordinationen existiert keine Grammatik. Zuerst wird Kubilay gewusst haben, dass eine Flanke kommt. Training. Das übt man ja. Er kennt seine Mitspieler, ihre Art, Flanken zu schlagen. Ihre Tricks. Trotzdem: Als Kubi den Punkt sich vorstellte (vor einem innern Auge?), wo der Fuss den Ball treffen sollte, und sich auf diesen Ort zubewegte, war die Flanke noch gar nicht geschlagen. Als er hochsprang, war der Ball noch entfernt. Der Zusammenstoss von Fuss und Ball im einzig möglichen und einzig richtigen Augenblick. Ich beschreibe den Vorgang absichtlich umständlich und vage, etwas verschwommen, unlogisch (dem Medium Fernsehen entsprechend). Was alles sich im Gehirn des Spielers abspielte, gäbe einem Computer viel Rechenarbeit auf. Das Ende der Rechenarbeit käme nach dem Ende des Spiels. Und was er falsch gemacht hätte, hätte Kubilay den Ball verpasst, wissen nach dem Spiel ohnehin alle. Erklärungen, das Wenn und Aber, sie machen den Fan zum Experten, den Trainer zum Richter. Der Zwilling der Spielanalyse ist die Traumdeutung.

POSTSCRIPTUM 1:

Die Einwände professioneller Trainer (von Gross über Fringer und Hodgson) höre ich im Hintergrund. Ich will gelassen bleiben und ihnen nicht widersprechen.

II

Ich erzähle Träume nicht gern. Lese Träume auch nur ungern. Träume muss man träumen (Träume hat man geträumt). Träumen ist ein Körpervorgang wie Tore schiessen oder küssen. Traumpass, Traumspiel, Filmkuss.

Einen Unterschied zwischen Geist und Körper find ich nicht. Auch die Seele kann ich vom Leib nicht trennen. Um ein Tor zu schiessen, haben wir x-fach gelesen, muss man im Kopf bereit sein. Beim Antritt auch noch zu denken, ist ausgeschlossen. Es wirkt sich beim Rennen fatal aus, wenn du darüber nachdenkst, wohin du rennen willst. Wie er (um im Bild zu bleiben) sein Traumtor erzielt hat, kann Türkyilmaz so wenig erklären – wie die Zeitlupe. Fernsehen erklärt nie etwas, es täuscht Erklärungen vor. Kubi war im richtigen Augenblick «einfach da» und hat «ihn reingemacht». Gerade dass es unerklärbar ist, macht das Traumtor zur begehrten Ware: von Journalisten hundertfach nachgespielt, nachvollzogen und gedeutet, liefert es tausendfach Gesprächs-, Klatsch- und Lesestoff in unserer interpretationssüchtigen Gesellschaft.

POSTSCRIPTUM 2:

Wie sollten Künstler und Wissenschaftler ihre besondere Begabung erklären und den Sprung von der Begabung zum Genie?

POSTSCRIPTUM 3:

Soweit mir bekannt ist, haben Neurologen keine Besonderheiten am Gehirn von Einstein feststellen können, am toten Gehirn, das irgendwo in Spiritus verrottet.

III

Sport hat keinen Inhalt.

Welchen Inhalt könnte ein Fussballspiel haben – oder eine leere Flasche?

Stadtderby, Länderspiel, Clubrivalität. Braucht es dazu Sport? Kampf, Prestige, Sieg. Gewiss gehört das zum Sport. Wann endlich kommt der weisse Weltmeister im Schwergewicht? Es gibt Fanatiker, die sich von dieser Frage aufgeilen lassen. Das funktioniert, weil Sport keinen Inhalt hat, ein Projektionsfeld ist. Weil Sport ohne Inhalt ist, kann er leicht manipuliert werden. Man kann Sport alles überstülpen. Du kannst mit Sport beweisen, dass der Verlierer Wertvolles lernt. Der zweite Satz schliesst den ersten nicht aus. Locker kann ich behaupten, Sport fördert den Egoismus und das Gemeinschaftsgefühl.

POSTSCRIPTUM 4:

1936, Berlin, die Olympischen Spiele sollten die Überlegenheit der weissen Rasse demonstrieren. Jesse Owens wurde der alles überstrahlende Athlet.

POSTSCRIPTUM 5:

Sport? Kein Inhalt? Der Präsident des Olympischen Komitees und der Präsident des Weltfussballverbandes widersprechen vehement. Neidlos ziehe ich den Hut vor ihrem Bankkonto.

POSTSCRIPTUM 6:

Lesen Sie in Abschnitt III Sport und Fernsehen so oft wie möglich als Synonyme. Was ist der Unterschied zwischen einer leeren Flasche und RTL oder ARD oder DRS?

IV

Der Fernsehapparat ist das mir liebste Sportgerät. Mein bevorzugtes Programm: Fussball. Der Unterhaltungswert von Fussball bleibt meiner Frau ein Rätsel. Wir haben darum zwei Fernsehgeräte. Ich kann nicht erklären, warum ich den wenig sympathischen FC Bayern lieber spielen sehe als Rapid Wien. Ich habe Mühe, von einem Spiel zu sagen, es sei grossartig, wenn die Mannschaft, für die mein Herz schlägt, verliert. Ich will, dass meine Mannschaft gewinnt. Verliert sie (und das Spiel ist schlecht), schalte ich den Fernseher aus. Verliert sie (und das Spiel ist gut), leide ich mit. Juventus Turin ist mein Favorit. Würde Juventus gegen GC spielen, hätte ich einen Konflikt. Ein 2 : 2 wäre das Traumresultat. Sagt jemand (gern leicht verächtlich), er könne meine Leidenschaft nicht verstehen, versuche ich nicht, mich zu erklären. Man mag Fussball – oder eben nicht. Ich benötige dafür keine Rechtfertigung. Ich würde mir am Fernsehen niemals freiwillig ein Theaterstück oder die Aufzeichnung einer Oper ansehen.

POSTSCRIPTUM 7:

Fussball am Fernsehen und Fussball im Stadion sind grundverschiedene Spiele. Auch schon bin ich vom Stadion nach Hause gerannt, wegen der zeitverschobenen Aufzeichnung und habe das Spiel nicht wiedererkannt. Auch was über das Spiel in der Zeitung steht, stimmt mit dem TV-Eindruck nie überein. Ich ziehe die TV-Wirklichkeit dem Spiel im Stadion vor. Im Stadion habe ich nur zwei Augen, das TV arbeitet mit achtzehn Kameras. Im Fernsehen spielen sie besser, schneller, attraktiver. Ich sitze nicht neben einem nervösen Menschen, der mir ständig Zigarettenrauch ins Gesicht bläst. Kein Idiot springt vor mir hoch und schreit. Kein Gitter behindert meine Sicht

POSTSCRIPTUM 8:

Ich meine nicht, Sport am Fernsehen spiegle die Wirklichkeit. Sport am Fernsehen ist Wirklichkeit. 18 Kameras, 3 Regisseure, 2 Reporter produzieren nonstop Bilder und Sätze. Ich habe Regeln und Willkür zu akzeptieren, auch die Werbung: Das ist Wirklichkeit.

V

Neulich klagte ein TV-Kritiker, Sport verstopfe alle Kanäle und es gehe ja nur um Geld. Nichts verstopft die Kanäle, halte ich dem entgegen, ich schreibe auch für Geld. Sportler nehmen soviel Geld, wie sie bekommen können. Wer nicht? Sport und Fernsehen ist ein lukratives Geschäft. Geld-Boom. Geldströme fliessen. Eigentlich sind Geld und Sport für mich kein Thema. Mit einem ETH-Abschluss verdienst du in der Regel weit mehr als ein Profisportler. Nicht soviel wie Luciano Pavarotti, Kevin Costner, Stephen King und Pete Sampras. Und sendet das Fernsehen (obwohl zuviel Sport) nicht trotzdem genug Unsinn, Nonsens und Informationsschrott? Sind all die Nachrichtenmagazine, Tränendrüsen- und Talk-Shows, sind Schreinemaker, Schmidt, Gottschalk, sind die alten Kino-Filme, die neuen Serien..., ist «Gute Zeiten – schlechte Zeiten» wirklich «viel wichtiger» als das Spiel Real Madrid gegen den FC Porto? Sind die Folklore- oder Popsendungen, der Musikantenstadel und alle Quizfolgen so viel «intelligenter» als Sport, bei dem es nur um Geld geht?

POSTSCRIPTUM 9:

«Oh», jammert der Reporter, «Sammer spielt heute den Abfangjäger vor der Viererkette.» Ob das wohl gutgeht?


Silvio Blatter malt und schreibt in Zürich.


unipressedienst unizürich-Magazin


unipressedienst ­ Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
http://www.unizh.ch/upd/magazin/4-96/
Last update: 07.09.1997