Wie man an der modischen Geläufigkeit des Worts «Ethik» sieht, sind die Möglichkeiten und vielleicht auch der tatsächliche Bedarf nach Orientierung in einer unübersichtlich werdenden Welt grenzenlos. Für ein Forschungsinstitut wie das neugegründete Ethik-Zentrum der Universität Zürich ist es deshalb nötig, klar umrissene Schwerpunkte zu bilden, nach denen längerfristig Lehr- und Forschungsaktivitäten organisiert werden sollen. Die Einarbeitung in Sachgebiete wie Medizin oder Biologie erfordert längerfristige Planung, insbesondere auch in Form interdisziplinärer Kontakte. Prof. Anton Leist stellt die Schwerpunkte des Ethik-Zentrums vor.
Nicht selten stellen wir uns die Moral als eine konkrete, meist ziemlich kurze Liste von Geboten oder Verboten vor und dementsprechend unter Ethik den Versuch, diese Liste irgendwie zu verändern. Zu unserem eigenen Vorteil können wir mehr. Wir verhalten uns moralisch, ohne dass dies bewusst oder rational geschähe. Unser moralisches Verhalten wurde deshalb auch mit unserem sprachlichen verglichen, dennähnlich gilt: Obwohl wirüber eine verblüffende sprachliche Kreativität verfügen, sind wir ausserstande, dafür auch nur die primitivsten Konstruktionsregeln anzugeben. Nimmt man die Analogie ernst, wird man folgern können, dass es biologische, psychische und soziale Wurzeln der Moral gibt und dass erst durch ein komplexes, bisher keineswegs durchschautes Zusammenspiel der entsprechenden Komponenten moralisches Verhalten entsteht.
Die Ethik macht sich nun zwar nicht eigentlich zur Aufgabe, analog zur Linguistik dieses Konstruktionsgeschehen empirisch zu durchleuchten, aber ihr Versuch zu sagen, wie man denn handeln soll, wird nicht gelingen, wenn nicht die genannten drei Dimensionen dabei berücksichtigt werden. Wie man eine Brücke nicht bauen kann ohne zuverlässige Kenntnis der Materialien und der zwischen den Bauteilen herrschenden Gesetzmässigkeiten, so kann man auch keine moralischen Ratschläge formulieren ohne Wissenüber das tatsächliche Zusammenspiel der Kräfte, denen die Moral entspringt. Die Ethik ist deshalb insofern an Forschung orientiert, dass sie die verfügbaren humanwissenschaftlichen Kenntnisse beachten muss. Ausserdem will sie innerhalb der Spielräume der natürlichen Bedingungen Moral als ein rationales Gebilde bewusst rekonstruieren. Das gilt nun um so mehr, wenn es nicht einfach um die Konstruktion einer allgemeinsten moralischen Lingua franca geht, sondern wenn die verschiedensten Sozialbereiche beginnen, ihre moralischen Sondersprachen zu sprechen. Da sich viele gegenüber Mitmenschen, Tieren und der Natur orientieren wollen, ist es nötig, die konkreten Randbedingungen und Möglichkeiten dieser Orientierung besser verstehen zu lernen. Die Ethik muss sich dazu mindestens theoretisch teilweise auch praktisch in die jeweiligen Handlungsfelder hineinbegeben, in die sie normative Klarheit bringen will. Tendenziell pleonastische Bezeichnungen wie «angewandte Ethik» oder «praktische Ethik», die Philosophen seit einiger Zeit benutzen, sind ein Merkmal dieses Drangs nach Sachwissen und Praxisnähe.
Aussenansicht des Ethik-Zentrums unter dem Dach der Villa Abegg an der Zollikerstrasse 117. Das obere Bild zeigt eine Innenansicht.
Für seine Aktivitäten in Forschung und Lehre hat sich nun das Ethik-Zentrum die folgenden thematischen Schwerpunkte gewählt:
Der Einwand liegt nahe: Gibt es nicht Moral seit jeher? Warum entstehen dann eigentlich «neue» moralische Probleme, zu deren Beantwortung man Forschung benötigt? Deshalb, weil die wichtigsten Instrumentarien der modernen Gesellschaft Wissenschaft, Technik, Produktion und Güterverteilung an Effizienz- und Rationalisierungsgrenzen gestossen sind und dadurch die an ihr Beteiligten in immer stärkere Entscheidungskonflikte verwickeln. Wie sich an den einzelnen Schwerpunkten leicht ablesen lässt, sollen im Ethik-Zentrum vorrangig diejenigen gesellschaftlichen Strukturkonflikte studiert und erforscht werden, von denen man annehmen kann, dass ihre heute schon sichtbare praktische Brisanz in den kommenden Jahren noch zunehmen wird.
Die gewählten Schwerpunkte entsprechen den genannten vier zentralen gesellschaftlichen Funktionsbereichen. Aus den Bereichen Wissenschaft und Technik sollen im Ethik-Zentrum vorrangig Medizin, humane bzw. biologische Gentechnik und Energieplanung Gegenstand sein. Aus dem Bereich Produktion interessiert das allenthalben beschworene, aber bisher noch sehr abstrakte Projekt einer «nachhaltigen», der Natur und zukünftigen Generationen gegenüber bewahrenden Wirtschaftsweise sowie die Aufgabe, auf das gravierende Problem der Arbeitslosigkeit kurzfristige Antworten in Form gerechter Arbeitsverteilung, langfristige Antworten in Form neuer Arbeitsziele und Arbeitsformen zu finden. Aus dem Bereich der Güterverteilung werden bereits in der näheren Zukunft die internationalen Armuts- und Hungerprobleme sowie davon verursachte internationale Wanderungsbewegungen immer drängender werden, so dass auch in Europa das Thema «internationale Gerechtigkeit» unausweichlich wird.
Kennzeichen moderner Gesellschaften ist ihre zunehmende Meinungspluralität. Diese Entwicklung wirft offensichtlich für ein Ethik-Zentrum grundsätzliche Schwierigkeiten auf, dem sich der Forschungsschwerpunkt «plurale Gesellschaft» widmen soll. Die Vielfalt von Meinungen und Lebensstilen erzeugt soziale und persönliche Konflikte, gerade deshalb werden ja Hilfen von der Ethik angefragt. Da die Ethik in ihren Ressourcen von den verbreiteten Meinungen aber nicht unabhängig ist, ist sie in diesen sozialen Differenzierungsprozess ebenfalls verwickelt und in ihrem Begründungspotential davon betroffen. Eine Antwort auf diese Problematik kann in der Unterscheidung zweier Zielsetzungen des Ethik-Zentrums in seinen verschiedensten Aktivitäten liegen. Auf der einen Seite erfordert die wachsende Meinungspluralität bei gleichzeitiger Zunahme von schwierigen Entscheidungssituationen in Wissenschaft und Technik «normative Ordnung»: einfache und präzise, gewissermassen rechtsähnliche, moralische Regeln, an denen sich die Betroffenen in komplexen Handlungsbereichen verlässlich orientieren können. Diese Regeln legen zugleich Grenzen der Toleranz fest, innerhalb derer sich die individuelle Freiheit in moralischen und weltanschaulichen Überzeugungen weitgehend entfalten kann. In allgemeinster Formulierung besteht die Aufgabe darin, die grundsätzlichen moralischen Bedingungen herauszuarbeiten, unter denen eine moderne liberale Gesellschaft bestehen kann. Dieses zwar einfach zu benennende Ziel erfordert eine Fülle von kenntnisreichen und konstruktiv angelegten Detailarbeiten; eine Vielzahl von ethischen Kodizes und Konventionen wie etwa die EU-Bioethikkonvention sind im Entstehen oder werden kontrovers diskutiert. Das Ethik-Zentrum kann sich in diesem Prozess nur nach Massgabe seiner Möglichkeiten beteiligen, wobei die theoretische Arbeit und die konkreten Anlässe in der Schweiz im Vordergrund stehen werden.
Jedoch zeigt gerade auch die immer existente Differenz von Recht und Moral, dass Gemeinschaften und mehr noch Einzelindividuen sich mit einfachen und klaren Regeln allein nicht zu organisieren vermögen. Zur Effizienz der Kooperation, zur Verlässlichkeit der Übereinkünfte muss die Motivation zu neuen Lebensweisen, das Engagement zur kreativen Gestaltung neuer Berufe und Tätigkeiten, die Vision für künftige Konfliktlösungen hinzutreten. Sicher können solche Vorschläge zu inhaltlichen Lebensgestaltungen, zu konkreten Formen des Denkens und Wahrnehmens und sie standen im ersten, dem antiken Verständnis von Ethik bereits im Mittelpunkt heute nichts anderes sein als Vorschläge. Aber ohne ein Engagement an «moralischer Phantasie» ohne kreative Entwürfe für Tätigkeiten und Identitäten wird auch die Pflichtaufgabe der heutigen Ethik, normative Ordnung in die unübersichtlich gewordenen Handlungsfelder zu bringen, nicht erfolgreich sein.
Anton Leist (leist@philos.unizh.ch)