Auf dem Weg zum Silizium-Auge |
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Wer hinter einer künstlichen Netzhaut eine verbesserte Digitalkamera vermutet, liegt falsch: Obschon die Nachbildung der Retina, an der Neuroinformatiker der ETH und der Universität Zürich arbeiten, ebenfalls aus Silizium besteht, funktioniert sie nach einem völlig anderen Prinzip. |
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Nachts auf der Autobahn: Weit und breit kein anderes Fahrzeug, das monotone Geräusch bringt den müden Lenker trotz lautem Geplärr aus dem Radio für Sekundenbruchteile zum Einnicken. Schon schert der Wagen aus auf den Pannenstreifen, wo es mit Tempo 140 flott weitergeht, bis das leicht veränderte Fahrgeräusch es liegt etwas Kies auf dem Streifen den Chauffeur wieder aufweckt. In letzter Sekunde kann er die Geschwindigkeit drosseln und den Wagen wieder unter Kontrolle bringen noch einmal Glück gehabt! Wer sowas schon erlebt hat, konnte bisher nur seinen Schutzengeln danken und hoffen, dass sie ihn auch beim nächsten Mal nicht im Stich lassen würden. Seit kurzem besteht nun aber die Aussicht, dass eines nicht allzu fernen Tages zuverlässige technische Hilfsmittel die imaginären Schutzengel ablösen. Gemeint sind optische Fahrhilfen, die den Automobilisten unterstützen und ihn in Notsituationen mitunter auch vor grösseren Schäden bewahren könnten. Grundlage für diese Fahrhilfen sind technische Systeme, die unsere Fähigkeit zu sehen samt der zugehörigen Verarbeitung im Hirn nachahmen sollen. Der faszinierenden Aufgabe, solche biologisch inspirierte Bildverarbeitungssysteme zu entwickeln, haben sich auch Forscher am Zürcher Institut für Neuroinformatik verschrieben und dabei bereits beachtliche Erfolge erzielt: Die künstliche Retina, die sie weiterentwickelt und als Labormodell realisiert haben, verhilft beispielsweise einem Roboter dazu, selbständig einen vorgegebenen Parcours zu absolvieren, ohne dabei vom Kurs abzukommen oder sprichwörtlich anzuecken. Würde man denselben Roboter mit einer herkömmlichen Digitalkamera ausstatten, hätte dieser in einer realen Umgebung mit einer solchen Aufgabe grösste Mühe, weil die sogenannten CCD-Chips, die in den Digitalkameras stecken, durch die starken Kontraste und Lichtreflexionen in einer realen Umgebung total überfordert wären. Lokal und adaptiv Was ist denn so anders bei der künstlichen Netzhaut der Zürcher Forscher? Es gibt zwei wesentliche Unterschiede: Zum einen kann die Retina ihre Daten lokal verarbeiten. Während ein CCD-Chip stur die Helligkeit sämtlicher Bildpunkte misst und weitermeldet (was sehr aufwendig ist), konzentriert sich die Retina vor allem auf jene Bildteile, die sich ändern, und kann damit wichtige Informationen sehr viel schneller weitermelden. Zum andern besitzt die künstliche Netzhaut wie ihr natürliches Vorbild die Fähigkeit zur lokalen Adaption. So bewirkt beispielsweise eine rasche Helligkeitsveränderung in einem Teil des Bildes (Einschalten einer Lampe, Ausfahrt aus einem Tunnel usw.) zuerst eine starke Reaktion (Blendung), aber dann passt sich der entsprechende Bildbereich den neuen Lichtverhältnissen an. Das Resultat: Die Retina kommt selbst mit hohen Kontrasten zurecht und kann dabei sowohl in den hellsten wie den dunkelsten Regionen des Bildes Objektkanten einwandfrei erkennen. Ein CCD-Chip hingegen, der absolute Helligkeitswerte über das ganze Bild festzuhalten versucht, ist in solchen Fällen total überfordert. Die technische Realisierung einer künstlichen Retina ist gar nicht so kompliziert, wie es nach dieser Beschreibung vielleicht den Anschein macht. Es braucht dazu für jeden Bildpunkt eine Fotodiode sowie eine Reihe von Transistoren für die Datenverarbeitung. Die Fotodiode liefert einen Strom, der proportional ist zur Helligkeit des Bildpunktes. Ein Transistor wandelt diesen Strom um in eine Spannung, und zwar nicht linear, sondern logarithmisch. Auf diese Weise ist es möglich, im Bereich von lediglich einem Volt Helligkeitswerte zu erfassen, die sich vom Mondscheinlicht bis zum gleissenden Sonnenschein erstrecken (ein Bereich, der sich punkto Helligkeit um den Faktor 107 unterscheidet). Datenaufbereitung auf dem Chip Diese ganze Elektronik wird auf einem Silizium-Chip integriert. Die Fotodioden sind dabei bienenwabenförmig angeordnet; damit hat jede von ihnen (ausser jene am Rand) sechs Nachbarn. Um die räumlich lokale Verarbeitung sicherzustellen zum Beispiel für das Erkennen von Kanten und Umrissen , tauschen die Fotodioden mit ihren Nachbarn über Kopplungstransistoren laufend Daten aus. Fünf Transistoren pro Bildpunkt besorgen die zeitliche Adaptierung, zwei weitere den Datentransport nach aussen. Schaltungstechnisch ist das alles kein Problem aber es ist eine relativ platzraubende Angelegenheit. Unter diesen Umständen darf es nicht verwundern, dass bei der künstlichen Retina die Anzahl Bildpunkte um Faktoren kleiner ist als bei den wesentlich einfacher aufgebauten CCD-Chips: Während diese Hunderttausende oder gar Millionen von Bildpunkten enthalten, haben die Retina-Chips der Zürcher Forscher höchstens einige zehntausend Pixel, von denen jeweils nur ein kleiner Teil zur gleichen Zeit ein Signal übermittelt. Solange es vor allem um die Erfassung von Kanten in einer interessanten Umgebung geht und nicht um die präzise Darstellung eines grossen Gesichtsfeldes, ist dieser vergleichsweise geringe Datenfluss kein Nachteil im Gegenteil: Die wesentlichen Signale nämlich jene, wo wichtige Veränderungen im Bild geschehen werden ja erfasst und lassen sich auch sehr rasch übermitteln. Ein CCD-Chip hingegen liefert viel zu viel Information, die erst noch Pixel für Pixel sequentiell ausgelesen werden muss, was vor allem bei Echtzeitverarbeitung viel zu lange dauert. Ausserdem müssen bei hochauflösenden CCD-Chips elektrische Ladungen über weite Wege verschoben werden, was zur Folge hat, dass unterwegs oft Teile verloren gehen und damit Informationen verfälscht werden.
Unspektakulär, aber effizient Die Signalverteilung am Ausgang der künstlichen Retina entspricht etwa derjenigen, die eine menschliche Netzhaut ans Hirn sendet. Wer sich das Resultat auf einem Monitor anschaut, wird zunächst vielleicht befremdet sein: Statt einem kontrastreichen Bild sieht man bloss einen mehr oder weniger einheitlichen Grauton ausser an Stellen, wo zugleich zeitliche und örtliche Veränderungen passieren. Wenn sich beispielsweise Kanten bewegen, so erscheint das entsprechende Signal je nach Bewegungsrichtung auf einer Seite heller und auf der andern Seite dunkler als der Hintergrund. So unspektakulär das für unser Auge auch wirken mag für technische Anwendungen wie die eingangs erwähnten Fahrhilfen ist es hocheffizient: Diese brauchen nämlich bloss jene Daten, die vom mittleren Grauwert abweichen, und genau die kriegen sie auch geliefert ohne überflüssiges Drumherum und in Echtzeit. Bis zum praxistauglichen Gerät, das im Notfall die Aufgabe des Lenkers übernimmt, also die Spur und den Abstand zu einem allenfalls vorausfahrenden Auto hält und auch Verkehrszeichen sowie andere Objekte erkennt, ist es allerdings noch ein langer Weg: Die künstliche Netzhaut liefert zwar dafür die relevanten Signale, aber die müssen ja auch noch entsprechend verarbeitet werden. Weitere Chips, die den Strukturen des menschlichen visuellen Kortex nachempfunden sind, sollen dereinst solche Aufgaben übernehmen. |
Institut für Neuroinformatik: Die Ausschreibung für das Institut für Neuroinformatik erfolgte 1995, kurz vor den Auswirkungen der Rezession auf die Hochschulen. Für Rodney J. Douglas und Kevan A. Ch. Martin, damals Professoren an der Universität Oxford (GB), kam sie wie gerufen: Sie und ihre Mitarbeiter waren ein gut eingespieltes Team und auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Als sie auch noch ihre besten Kollegen vom California Institute of Technology (Caltech) für Zürich begeistern konnten, war die Sache perfekt und die Universität und ETH auf einen Schlag um ein Institut mit über 30 hochqualifizierten Forschern reicher. Der Schwerpunkt der Neuroinformatiker liegt bei der sogenannten «Computational Neuroscience», der Erforschung der menschlichen Gehirnfunktionen mit Hilfe von technischen Mitteln. Dazu gehören vor allem Simulationen. Nebst herkömmlichen digitalen Computern werden dafür auch spezielle Analog-Chips verwendet. Diese sind echten Hirnstrukturen nachempfunden und dadurch sehr kompakt. Ausserdem erledigen sie ihre Spezialaufgaben wesentlich schneller als entsprechend programmierte digitale Computer. Solche Systeme verhelfen den Wissenschaftlern nicht nur zu neuen Erkenntnissen, sondern sie lassen sich auch praktisch einsetzen, wie das Beispiel der künstlichen Retina aus Silizium, die Spezialität einer Forschergruppe um Jörg Kramer, zeigt. |