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Wie schläft das Hirn?

Hirnregionen, die tagsüber besonders stark beansprucht werden, brauchen in der Nacht auch mehr Schlaf. Das belegen neueste Untersuchungen aus der Schlafforschung. Hintergründe über diesen regionalen Schlaf und seine Auswirkungen auf unser Schlafverhalten.

VON ALEXANDER BORBÉLY UND PETER ACHERMANN
Wir wissen, dass der Schlaf unentbehrlich ist, aber wir wissen immer noch nicht genau warum. Die Erforschung des Schlafs und seiner Funktion ist eine der grossen Herausforderungen der biomedizinischen Grundlagenforschung. Ein Ansatz, den unsere Forschergruppe seit Jahren verfolgt, ist die Suche nach physiologischen Korrelaten der Erholungsfunktion des Schlafs.

Der Tiefschlaf ist gekennzeichnet durch hohe und langsame Hirnstromwellen (Elektroenzephalogramm, EEG). Wenn dieser Schlafzustand dreissig bis vierzig Minuten nach dem Einschlafen erreicht ist, befindet man sich in einem Zustand, der auch durch laute Geräusche und andere starke Reize kaum unterbrochen werden kann. Wird man trotzdem aus dem Tiefschlaf geweckt, dauert es eine ganze Weile, bis man wieder vollständig «da ist». Die Schlaftrunkenheit hält eine ganze Weile an, und die Tendenz, wieder einzuschlafen, ist gross. Der Tiefschlaf tritt gewöhnlich in den ersten Schlafstunden auf, während später in der Nacht ein oberflächlicherer Schlaf vorherrscht.

Die abnehmende Schlaftiefe kann anhand der Verringerung der langsamwelligen Aktivität im EEG verfolgt werden. Bleibt man einmal während der Nacht ohne Schlaf und schläft auch am folgenden Tag nicht, so tritt in der Erholungsnacht ein ungewöhnlich tiefer Schlaf und eine besonders ausgeprägte langsamwellige EEG-Aktivität auf.

Aus diesen Befunden lässt sich schliessen, dass sich nicht nur die Schlafintensität, sondern möglicherweise auch die Erholungsfunktion des Schlafs in dieser elektrophysiologischen Messgrösse widerspiegelt.

Gibt es einen «Schlafstoff»?

Wie kommt es zu diesen charakteristischen EEG-Veränderungen? Als Erklärungsversuch wurde schon früh postuliert, dass die
mit der fortdauernden Wachzeit zunehmende Schlafbereitschaft auf einen Ermüdungsstoff oder ein Hypnotoxin zurückzuführen ist. Dieser würde sich im Laufe des Wachens im Gehirn ansammeln und würde während des Schlafs abgebaut. Ausserordentlich aufwendige Versuche wurden unternommen, um nachzuweisen, dass durch die Übertragung der in den Hirnkammern befindlichen Flüssigkeit (Liquor) von einem schlafentzogenen Versuchstier in ein Empfängertier die Schlafbereitschaft tatsächlich erhöht wird.

Obwohl positive Befunde erhoben wurden, ist es nicht gelungen, eine bestimmte chemische Substanz als den natürlichen «Schlafstoff» zu identifizieren. Die Annahme liegt nahe, dass eine ganze Reihe körpereigener Substanzen an der physiologischen Schlafregulation beteiligt sind und es nicht einen einzigen «Schlafstoff» gibt.

Wenn Delphine schlafen

Im Zusammenhang mit diesen Untersuchungen ist die Frage aufgetaucht, ob das gesamte Gehirn vom Schlafvorgang in gleichem Masse erfasst wird oder ob gewisse Hirnregionen einen intensiveren Schlaf aufweisen als andere. Es wäre denkbar, dass Hirngebiete, die während des Wachens besonders stark beansprucht worden sind, ein besonders hohes Schlafbedürfnis zeigen. Der Schlaf wäre demnach nicht nur ein globaler, sondern auch ein lokaler Hirnvorgang.

Der erste eindeutige Hinweis auf einen regionalen Schlaf stammte aus Untersuchungen am Delphin. Dieser Meeressäuger weist auch die typischen EEG-Merkmale des Tiefschlafs auf. Im Unterschied zum Menschen und anderen Säugern treten indessen die langsamen Tiefschlafwellen im EEG nur in einer Hirnhälfte auf, während in der anderen Hälfte ein Wach-EEG vorherrscht. Nach einer gewissen Zeit kommt es zu einem Wechsel, und die vormals wache Hirnhälfte verfällt in den Tiefschlaf, während die vormals schlafende «aufwacht». Nie treten die Tiefschlafwellen in beiden Hirnhemisphären gleichzeitig auf.

Was auch immer die Ursache dieses aussergewöhnlichen Schlafablaufs ist, diese Beobachtung macht deutlich, dass der Schlaf nicht unbedingt das gesamte Gehirn gleichmässig erfasst. Die russische Forschergruppe Lev Mukhametov, die seit Jahren den Schlaf verschiedener Meeressäuger untersucht, konnte sogar nachweisen, dass die Hirnhälften unabhängig voneinander auf Schlafentzug reagieren. Wurde beim Delphin der Tiefschlaf selektiv in einer Hemisphäre verhindert, so hatte diese Intervention nur in dieser eine Schlafintensivierung zur Folge, nicht jedoch in der gegenseitigen Hemisphäre. Diese Befunde zeigen eindrücklich, dass die langsamwellige Tiefschlafaktivität als Folge des «regionalen Wachzustands» im Gehirn auftreten kann.

Abbildung 1: Hirnstromwellen im Schlaf:
regionale Unterschiede als Funktion der Schlafdauer (Zeit) und Frequenz. Das Verhältnis der spektralen Leistungen (anterior/posterior; logarithmisch) ist farbkodiert (Mittel über 20 Personen). Schwarze Balken markieren REM-Schlaf. Drei Frequenzbereiche mit klaren stadienabhängigen Modulationen sind sichtbar:
Delta (1–3 Hz),
Theta (5–9 Hz) und
Sigma (11–15 Hz).

Abbildung 2:
Zeitverlauf der langsamwelligen Aktivität (2-Hz-Band) des Ganznacht-Schlaf-EEG (Mittel über 20 Personen). Schwarze Balken markieren REM-Schlaf. In den ersten beiden Schlafzyklen dominiert die frontale Ableitung (anterior), mit abnehmender Schlaftiefe gleichen sich die beiden Ableitungen an.


Lokaler Schlaf der rechten und linken Hirnhälfte

Wie steht es mit dem «lokalen Schlaf» beim Menschen? Dieser Frage ist der Erstautor zusammen mit Herbert Kattler und Derk-Jan Dijk nachgegangen. Zur Aktivierung einer umschriebenen Hirnregion wurde ein Vibrationsreiz gewählt, der intermittierend während sechs Stunden an der linken oder rechten Hand der Versuchsperson appliziert wurde.

Aufgrund bildgebender Verfahren weiss man, dass dieser Stimulus die «Handregion» in der gegenseitigen Hirnrinde aktiviert. Es war nun zu zeigen, dass diese selektive Aktivierung des Gehirns auf den nachfolgenden Schlaf eine selektive regionale Wirkung ausüben würde.

Tatsächlich nahm nach Stimulation der dominanten rechten Hand das langsamwellige Schlaf-EEG über der linken Hirnrinde zu. Dieser Effekt war nur in der Ableitung über dem Projektionsgebiet der Hand und ausschliesslich während der ersten Stunde des Schlafs zu beobachten. Obwohl die Variabilität der Daten hoch war und der Befund in weiteren Versuchen bestätigt werden muss, zeigte dieses Experiment erstmals, dass auch beim Menschen die typischen Veränderungen im Schlaf-EEG nicht nur global auftreten, sondern auch eine lokale Komponente aufweisen, die von der vorgängigen Beanspruchung der Hirnregion beeinflusst werden kann.

Lokaler Schlaf der vorderen und hinteren Hirnregion

Lassen sich diese Unterschiede im Schlaf-EEG auch zwischen vorderen und hinteren Hirnabschnitten nachweisen? Der Mensch zeichnet sich durch eine stark entwickelte Frontalhirnrinde aus, welche vor allem sogenannte Assoziationsfunktionen wahrnimmt. Läsionen der präfrontalen Hirnrinde führen zu Funktionsstörungen, die die Beeinflussbarkeit durch bedeutungslose Aussenreize, Störungen des flüssigen Sprechens, Verlust der Sprachmelodie, Einbussen beim divergenten (das heisst nicht planmässigen) Denken sowie die Tendenz zur Apathie und läppischem Witzeln umfassen.

Der englische Schlafforscher Jim Horne wies darauf hin, dass diese Ausfallerscheinungen grosse Ähnlichkeiten mit der Symptomatik bei längerem Schlafentzug aufweisen. Somit könnten die frontalen Hirngebiete auf ein Schlafdefizit besonders anfällig sein.

Die Frage stellte sich, ob sich eine solche erhöhte Sensitivität im regionalen EEG niederschlägt. Zusammen mit Esther Werth untersuchten wir das Ganznacht-Schlaf-EEG entlang der antero-posterioren Achse, die von der Stirn zum Hinterkopf verläuft. Für die Darstellung der Verhältnisse musste eine geeignete Form gefunden werden, da die EEG-Spektren in den drei Dimensionen Zeit (das heisst Schlafdauer), EEG-Frequenz (0,25 bis 25 Hz) und Region (vorne, hinten) analysiert werden mussten.

Wie Abbildung 1 zeigt, benützten wir eine Farbkodierung, um die regionalen Unterschiede darzustellen. Blau und Lila kennzeichnen ein starkes Überwiegen des EEG in der vorderen Ableitung, Weiss und Schwarz in der hinteren Ableitung. Wäre das Schlaf-EEG in den beiden Ableitungen identisch, würde nur eine Farbe auftreten.

Die Datenanalyse ergab indessen einen eindrücklichen «Farbteppich». Dies zeigt, dass die Hirnregionen frequenz- und stadienspezifisch in sehr unterschiedlichem Masse in den Schlafprozess mit einbezogen werden – ein weiterer Hinweis für «lokalen Schlaf».

Ein besonderes Augenmerk richteten wir auf die langsamwellige Aktivität, die für den Tiefschlaf kennzeichnend ist und die Schlafintensität widerspiegelt. Wie aus Abbildung 2 ersichtlich wird, überwog im 2-Hz-Band das frontale EEG in den ersten beiden Schlafzyklen. Mit abnehmender Schlaftiefe glichen sich indessen die Kurven der vorderen und hinteren Ableitung zunehmend an. Dieser Befund steht im Einklang mit der Annahme, dass frontale Hirnregionen im ersten Schlafabschnitt einen besonders hohen «Erholungsbedarf» aufweisen, da sie während der vorangehenden Wachzeit besonders stark beansprucht worden waren. Wir gehen mit Schlafentzugsversuchen dieser Frage weiter nach.

Integrierter Ansatz gefragt

Die These des «lokalen Schlafs» gewinnt an Bedeutung. Der Schlaf könnte also für die Gewährleistung von Hirnfunktionen auf der Ebene von Zellverbänden, ja vielleicht sogar von einzelnen Zellen, erforderlich sein. Die Rolle des ubiquitär vorkommenden Adenosins wird in diesem Zusammenhang diskutiert. Noch aufregender sind neueste Befunde von Giulio Tononi und seiner Arbeitsgruppe in San Diego, die durch Schlafentzug bewirkte genetische Veränderungen im Stoffwechsel von Mitochondrien beobachteten. Wie bei vielen Fragestellungen in den Neurowissenschaften ist ein integrierter Ansatz, der sowohl das gesamte Gehirn als auch seine einzelnen Komponenten mit einbezieht, am erfolgversprechendsten.

Warten auf den Schlaf:
Im Schlaflabor der Universität Zürich


«Bits of Sleep» heisst die neu erschienene CD-ROM für alle, die an der wissenschaftlichen Schlafforschung und ihren Ursprüngen interessiert sind. Allgemeinverständliche Information in englischer Sprache, angereichert mit viel Bildmaterial, vermittelt Einblicke in aktuelle Forschungsthemen. Studierende finden Material zur Ergänzung und Bereicherung ihrer Lehrbücher. Wissenschafter und Experten der Schlafforschung können von der Darstellung zukunftsweisender Untersuchungsmethoden und zahlreichen Literaturhinweisen profitieren. Die CD-ROM wurde von Alexander Borbély und seinen Mitarbeitern am Laboratorium für Schlafforschung der Universität Zürich entwickelt und wird via Internet vertrieben. Weitere Informationen dazu unter: http://www.sleepcd.com.


Weitere Informationen zum Thema finden sie auf der Web-Seite: http://www.unizh.ch/phar/sleep/


Dr. Peter Bösiger ist ausserordentlicher Professor am Institut für Biomedizinische Technik und Medizinische Informatik von Universität und ETH Zürich.
Dr. Anton Valavanis ist ordentlicher Professor für Neuroradiologie am Institut für medizinische Radiologie der Universität Zürich.



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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98