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In Real-time durchs Gehirn

In Zürich steht seit 1995 der erste offene Kernspintomograph Europas. Damit steht der Neurochirurgie ein Instrument zur Verfügung, das Mikrochirurgie mit exakter und schneller Bildgebung vereint. Erste Erfahrungen.

VON RENÉ BERNAYS
Mit dem offenen intraoperativen MRI – auch offener Kernspintomograph genannt – hat eine neue Ära in der Neurochirurgie begonnen: die Ära der «Real-time-Neuronavigation». Das bedeutet, dass dem Neurochirurgen innert Sekunden eine Art Landkarte des Gehirns in drei Dimensionen zur Verfügung steht, die in Sekundenabständen fortlaufend aktualisiert wird. Bei Hirnoperationen sind diese exakten räumlichen Informationen besonders wichtig, da das Gehirn ein mit Funktionen vollgepacktes Organ ist, bei dem es auf millimetergenaue höchste chirurgische Präzision ankommt.

Mit der Verbesserung der medizinischen Diagnostik werden immer kleinere Veränderungen (Tumore, Gefässanomalien usw.) im Gehirn als Ursache für bestimmte neurologische Störungen gefunden. Entsprechend der kleineren Dimensionen dieser Veränderungen befinden sich auch die Patienten in einem besseren Zustand und haben auch höhere Erwartungen an das neurochirurgische Resultat.

Die Entfernung eines Hirntumors stellt sehr hohe Anforderungen an die anatomischen Kenntnisse des Neurochirurgen. Die anatomischen Strukturen werden durch einen Tumor sehr stark verändert. Sie werden verschoben, aufgebläht oder komprimiert. Dadurch kann es auch zu einer Verschiebung der Funktion bestimmter Hirnareale kommen. Auch ist die interindividuelle Variabilität so hoch, dass nur eine sehr grobe Standardisierung möglich ist.

Da mittels MRI auch bestimmte Hirnfunktionen dargestellt werden können, wird es in absehbarer Zeit gelingen, während einer Operation beispielsweise auch die Lage der Sprachregion in Bezug zu einem Tumor aufzuzeigen. Ansatzweise geschieht dies bereits heute, indem der Patient vor der Operation eine Untersuchung durchläuft, in der die Lokalisation einer bestimmten Funktion in Bezug zum Tumor gebracht wird.

Pionierleistungen

In Zürich steht seit 1995 das erste offene MRI Europas, das zweite offene MRI der Welt. Die ersten Erfahrungen dienten vor allem der Entwicklung von neuen neurochirurgischen Konzepten und davon abgeleiteten Instrumenten. Da das MRI, wie der Name sagt, mit einem sehr starken Magnetfeld arbeitet, das mehrere tausendmal stärker ist als das erdmagnetische Feld, war es entscheidend, neurochirurgische Instrumente zu entwickeln, die in diesem Magnetfeld nicht angezogen werden und keine Bildstörungen verursachen. In intensiver Zusammenarbeit mit der ETH Zürich und verschiedenen internationalen und schweizerischen High-Tech-Firmen wurden verschiedene mögliche Materialien zur Herstellung von MRI-kompatiblen Instrumenten evaluiert und getestet. Mittlerweile besteht ein ganzes Set völlig neuartiger neurochirurgischer Instrumente, welche weltweit im Einsatz sind.

Entwicklungsperspektiven

Das Ziel jedes neurochirurgischen Eingriffs ist die maximale Schonung des gesunden Gehirns, da einmal zerstörte Nervenzellen nicht mehr nachgebildet werden. Mit diesem Prinzip der höchstmöglichen Schonung konkurriert die Zielsetzung, einen Tumor vollständig zu entfernen. Die chirurgisch-technische Optimierung dieser beiden konkurrierenden Zielsetzungen ist ein Jahrzehnte dauernder Prozess, der durch die Einführung des Mikroskops in die Neurochirurgie durch Professor Yasargil in den sechziger Jahren massgeblich weitergebracht wurde. Mit dem offenen intraoperativen MRI hat sich eine neue Dimension aufgetan, in der die Mikrochirurgie mit der besten und schnellsten Bildgebung vereint wird. Diese Entwicklung steht allerdings erst am Anfang.

Die Kernspintomographie bringt nicht nur eine millimetergenaue, anatomische Darstellung von Querschnitten durch das Gehirn auf beliebigen Ebenen. Auch die Darstellung von Temperaturunterschieden innerhalb des Gehirns auf ein Grad genau gehört zu ihren Möglichkeiten. Dies ist insbesondere für die therapeutische Anwendung von Wärme oder Kälte von höchstem Interesse. So kann das Areal, das beispielsweise mittels einer Lasersonde auf 60 Grad erwärmt wird, sehr genau dargestellt werden. Damit geht der Chirurg sicher, dass der ganze Tumor verödet wurde, jedoch keine gesunden Strukturen überwärmt worden sind.

Die MRI-Darstellung von Änderungen im Sauerstoffverbrauch bestimmter Hirnregionen bei gezielter Stimulation hat enorme Konsequenzen für die Neurologie und Neurochirurgie. Wird nämlich ein bestimmtes Hirnareal zur Ausübung einer bestimmten Funktion aktiviert, kommt es an dieser Stelle zu einem erhöhten Sauerstoffverbrauch. Das bewirkt eine Änderung der magnetischen Eigenschaften des Sauerstoff transportierenden Hämoglobins. Diese Änderung kann ebenfalls im MRI dargestellt werden. Patienten können also in Zukunft aufgefordert werden, während einer Operation beispielsweise die Finger der rechten Hand zu bewegen. Weil die an diesen Bewegungen beteiligten Nervenzellen mehr Sauerstoff verbrauchen, können sie mittels MRI identifiziert und bei einer Operation geschont werden.

Funktionelle Untersuchungen im offenen MRI helfen, Funktionszentren – hier die Region für Fingerbewegungen – während der Operation zu lokalisieren. Damit können beim wachen Patienten wichtige Funktionen besser geschont werden.

Magnetresonanzbilder differenzieren am exaktesten zwischen Tumor- und normalem Hirn. Diese Bildserie zeigt verschiedene Phasen einer Tumoroperation in der Nähe des Sprachzentrums: vor der Schädeleröffnung, nach Entfernung eines Tumoranteils und nach vollständiger Entfernung des Tumors.
(v. o. n. u.)

Erste Erfahrungen

Die meisten neurochirurgischen Operationen waren bisher stereotaktische, minimal invasive Eingriffe. Dazu zählen Biopsien (Gewebeentnahmen), Punktionen und Drainagen von Abszessen und Zysten sowie die Entfernung von tiefliegenden Hirnblutungen. Die Erfahrungen zeigen, dass mit Hilfe des offenen MRI
  • die Sicherheit für die Patienten erhöht werden konnte,
  • stereotaktische Eingriffe im offenen MRI wesentlich rascher und für den Patienten angenehmer sind,
  • die bisher lediglich angenommene Gewebeverschiebung während einer Operation enorm hoch sein und nur im offenen MRI korrigiert werden kann,
  • Blutgefässe dargestellt und somit geschont werden können,
  • durch die erhöhte Zielgenauigkeit und Überwachung des Eingriffs die Trefferquote auf 100% angestiegen ist.

Die Patienten erholen sich alles in allem sehr rasch von diesen Eingriffen und vor allem von ihren neurologischen Störungen. Komplikationsrate und Hospitalisationsdauer konnten gesenkt werden.

Bei den kombiniert mikrochirurgisch und bildgesteuerten Operationen zur Tumorentfernung gelang es, bei gleichzeitiger Erhaltung der unmittelbar benachbarten Funktionen den jeweiligen Tumor vollständig zu entfernen. Bei sehr bösartigen Tumoren mag diese vollständige Tumorentfernung nur eine leichte Lebensverlängerung bewirken, die noch bewiesen werden muss. Unbezweifelt ist jedoch die Erhaltung der neurologischen Funktion. Bei gutartigen Tumoren scheint es jedoch höchst wahrscheinlich, dass die vollständige Entfernung das Intervall bis zur sogenannten Rezidivierung, dem Nachwachsen eines Tumors, verlängert und dadurch die Lebenserwartung erhöht wird.

Das offene MRI stellt also ein Instrument dar, mit dessen Hilfe Hirntumore vollständiger entfernt und gleichzeitig die benachbarten normalen Hirnstrukturen und Funktionen besser geschont werden können.


Dr. med. René Bernays ist Lehrbeauftragter der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich.



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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98