Global Change das heisst vor allem technischer Fortschritt, im 19. Jahrhundert hoffnungsfroh gefeiert, im 20. eher Anlass zu Skepsis und Befürchtungen. Je grösser die Wunder werden, die wir vollbringen, desto höher werden auch die Risiken, die wir auf uns nehmen, desto grösser auch die Zweifel vieler Menschen, dass wir geradewegs auf die beste aller denkbaren Welten zusteuern.
Die Welt ist im Wandel, zweifel- und pausenlos. Diese Tatsache fasziniert und beunruhigt zugleich; denn wir brauchen für unser seelisches Gleichgewicht Sicherheit und Anregung gleichermassen. Wir möchten uns geborgen fühlen im Vertrauten; aber wir wollen nicht ersticken im Überdruss. Diese komplexe Motivlage führt zu zwei Philosophien, die einander auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Die eine sagt, es gibt nichts Neues unter der Sonne, und fügt gern noch hinzu, freilich war das Alte immer auch das Bessere. Dieser Sichtweise entspringt der nostalgische Mythos vom Paradies, aus dem wir fortwährend vertrieben werden. Die andere sagt, es gibt nichts Gleiches unter der Sonne, keine zwei Blätter desselben Baumes stimmen in jeder Hinsichtüberein, um anzuschliessen, freilich wird die Zukunft immer besser sein als das, was war.
Beide Sichtweisen versuchen, mit schlechten Gründen, aber immer wieder guten Erfolgen, uns das einzige kleinzureden, was wir haben: die Gegenwart; und beide sind, wenn erst einmal aus ihnen Ideologie geworden ist, bereit, die Gegenwart preiszugeben, um das alte himmlische oder das neue irdische Paradies zu gewinnen. Und natürlich haben beide Sichtweisen irgendwo auch recht: Alles kommt wieder und ist immer doch ganz anders, selbst unsere altehrwürdigen Menschheitsträume.
Der märchenhafte Zauberspiegel, der es seinem Besitzer ermöglicht, Ereignisse zu sehen, die sich gerade jetzt oder zu einer längst vergangenen Zeit an einem ganz anderen Ort abspielen bzw. abgespielt haben, dieses wundersame Gerät ist im Fernsehempfänger, der uns das Finalspiel der Fussball-Europameisterschaft im fernen London zeigt, auf eine seltsam banale Weise Wirklichkeit geworden. Die inbrünstige Sehnsucht, es den Schwalben nachzumachen, den Störchen und Mauerseglern, hat sich am Ende im Jumbo-Jet materialisiert. Der Traum des Voyeurs, den uns die Geschichte von Gyges und seinem Ring erzählt, führte geradewegs in die obskure Realität der Porno-Videos.
Was als cleveres Betrugsmanöver begann, Maelzels Schachautomat, von dem Edgar Allan Poe in einem scharfsinnigen Essay zeigen konnte, dass es sich dabei keineswegs um eine Menschmaschine, sondern lediglich um einen Menschen in der Maschine handelte, das endete im Schachprogramm Mephisto, erschwinglich für jedermann und jede Frau. Selbst Münchhausens Horn ist aufgetaut und spielt uns alle Musiken der Welt gespeichert in handlichen silbernen Scheiben.
Schelme und Narren, so jedenfalls erschienen sie ihren Zeitgenossen, sind uns vorangeträumt in eine Welt der unerhörten Möglichkeiten; und kein Traum war zu skurril, um nicht auf die eine oder andere Weise doch wenigstens ein Stückchen Wirklichkeit zu erhaschen. An dieser Stelle sind wir nun auf die Quelle des immer rasanter werdenden Wandels gestossen, auf unsere Wünsche und auf die Instanz, die diese artikuliert und die sie auch gelegentlich erfüllt, das menschliche Gehirn.
In seinen Robotermärchen erzählt Stanislaw Lem von einer Maschine zur Erfüllung aller Wünsche, die sich jedoch am Ende wie Maelzels schachspielender Türke als wahrhaftig getürkt erweist; denn es steckt ein Jemand im Bauche des Blechkastens, der «in Wahrheit» das Spiel macht. Und doch hat sich nicht immer wieder gezeigt, dass am Ende banale Alltagsrealität wird, was als Märchen begann? Hat nicht die Natur selber eine recht brauchbare Version einer Wunscherfüllungsmaschine in Serie gegeben? Auch wir werden sie bauen, sie ist schon in Arbeit. Wir werden uns eine Welt schaffen, in der wir alles sein und alles haben können, eine Welt, in der alles möglich ist, in der Steine reden und Tote wieder lebendig werden, eine Welt, die wir uns nur noch wie einen Anzug auf den Leib zu schneidern brauchen. Das Zauberwort heisst virtuelle Realität. Auch dasübrigens eineältere Erfindung der Natur, leben wir doch alle in einer hirnerzeugten Welt, die es so vermutlich gar nicht gibt, die aber doch einen regelhaften Zusammenhang haben muss mit jener mutmasslichen anderen Realität. Unsere neuen virtuellen Lebensräume werden solche letzten unveränderlichen Parameter nicht mehr kennen. In ihnen wird alles möglich sein, was wir geschehen lassen wollen vielleicht sogar Unsterblichkeit.
Hat sich also die Prophezeiung der Schlange erfüllt? Sind wir wie Gott geworden? Spätestens an dieser Stelle sollte uns ein Unbehagen beschleichen, das sich ebenfalls aus Mythen- und Märchenerfahrungen speist. Haben wir nicht genug Geschichten gehört von fatalen Hasen- oder Affenpfoten, von Feen-Geschenken und denen von Plattfischen, die uns gelehrt haben könnten, dass die Abarbeitung von Wunschlisten nicht immer auf ein gutes Ende zusteuert? Werden auch wir uns eines Tages nach einem gewaltigen Donnerschlag in unserem alten Pisspott wiederfinden? (Und das war dann vielleicht nicht einmal die schlechtestmögliche Wendung...)
Wolfgang Marx
Die Abbildung zeigt den Schachautomaten, den der Automatenbauer Baron von Kempelen konstruiert und dann dem Wiener Musiker Maelzel für Schaustellungen verkauft hatte. (Quelle der Abbildung: Radio Times Hulton Picture Library).
unipressedienst Pressestelle der Universität Zürich
Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
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Last update: 27.9.1996