Magazin der Universit?t Z?rich Nr. 3/96

Gelingendes Leben im Weltdorf?

Alles wandelt sich ständig, in der Natur, in der Kultur. Zum planetarischen Leben gehört die Struktur des Wandels. Die Frage ist nur: Unter welchen Bedingungen findet der Wandel statt, und welchen Beitrag leistet der Mensch dazu? Das heisst aus der Sicht der Ethik: Als Beurteilungsmassstab gilt das gelingende Leben, und zwar auf der Ebene von Individuen, auf der Ebene der Gesellschaft und der …kologie. Ethik reflektiert also die Bedingungen des gelingenden Lebens auf diesen drei Ebenen.

VON HANS RUH

Die grundlegende These der folgenden Überlegungen heisst: Tiefe, Tempo, räumliche und gesellschaftliche Dimension des Wandels schaffen für den Menschen ein Anpassungsproblem, das auf eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensqualität hinausläuft. Dieses Anpassungsproblem wird verstärkt durch den Umstand, dass die genannten Faktoren das Global Village herstellen.

1. Tiefe: Der technisch handelnde Mensch verändert tiefgreifend die Zusammensetzung von Luft und Materie und verändert damit die Rahmenbedingungen des Planeten in einer Weise, welche rasche und tiefgreifende Veränderungen, zum Beispiel des Klimas, bewirken.

2. Tempo: Der Ausstieg des Menschen aus der organischen Zeit und die Hinwendung zur Bewirtschaftung der Zeit machen die Zeit zum knappen Gut. Gründe für diese Hinwendung sind, menschheitsgeschichtlich betrachtet, wohl die Wahrnehmung der Befristung der Zeit durch den Tod, aber auch und besonders die abnehmende Bereitschaft, für die Notwendigkeiten des Lebens Zeit aufzubringen. Die …konomisierung der Zeit führt einerseits zu der heute immer mehr um sich greifenden Arbeitslosigkeit, aber vor allem zu einer Tempobeschleunigung in fast allen Lebensbereichen: Wenn die Zeit Geld ist, dann muss eben alles schnell gehen; diese Hetzzeit steht an der Basis des immer rascheren Wandels in Technologie, Arbeitswelt und Kultur.

3. Kultur: Technologische Neuerungen, beispielsweise hinsichtlich der Verkehrs- und Kommunikationsmöglichkeiten, verändern tiefgreifend Kulturen und Wertsysteme: Multikultur, Pluralismus, Relativismus, Wertezerfall, Orientierungslosigkeit sind Konsequenzen dieser Entwicklung.

Durch technologische Möglichkeiten,ökonomische Strategien und kulturelle Veränderungen entwickeln wir uns rasch zum Global Village, zum Weltdorf, zu dieser Welt. Die Intensivierung der technologischen Eingriffe, die Verknappung der Zeit und die kulturellen Veränderungen stehen so an der Basis des Weltdorfes.

Defizite des Menschen
im Weltdorf

Das Problem aus ethischer Sicht liegt nun in der Frage, ob es dem Menschen gelingt, sich diesen raschen und tiefgreifenden Wandlungsprozessen anzupassen und als Glied des Weltdorfes sinnvoll zu leben. Meine These lautet: Der Mensch kann das schlechterdings nicht. Wir erkennen heute, dass der Mensch mit hängender Zunge einer Entwicklung hinterherrennt, die er selber induziert hat und die ihm entglitten ist.

Da ist zuvorderst auf dasökologische Anpassungsdefizit hinzuweisen. Insbesondere die rasche Veränderung des Klimas bringt schwerste Bedrohungen für das gelingende Leben mit sich. Zum gelingenden Leben inökologischer Hinsicht gehört, dass wir den zukünftigen Generationen eine Chance geben, dass sie ihr Leben nach eigenen Vorstellungen, aber mindestens in Form von Chancengleichheit in bezug auf uns, gestalten können. Diese Chancengleichheit wird durch die Veränderung derökologischen Rahmenbedingungen laufend vermindert. Neue Krankheiten, Versteppung von fruchtbarem Land, umherziehende Umweltflüchtlinge, rasche Veränderung bei den landwirtschaftsfähigen Zonen, rasche demographische Veränderung durch Migration, soziale undökonomische Krisen, politische Erschütterungen, all das ist als Folge der sogenannten Umweltkrise zu erwarten. Dabei gilt es zu beachten, dass dasökologische Problem vor allem damit zu tun hat, dass die Eingriffe des Menschen global wirksam werden.

Es ist also nicht nur die Natur, die leidet, es ist insbesondere der Mensch, der durch sein Handeln Veränderungen in Gang setzt, denen er in keiner Weise gewachsen ist. Dabei spielt das Tempo der Veränderungen wahrscheinlich die verhängnisvollste Rolle: Würden diese Veränderungen in einer anderen Kadenz, zum Beispiel nach Massgabe der evolutiven Zeitentwicklung, vor sich gehen, dann könnte der Mensch Anpassungsstrategien entwickeln.

Gesellschaftliche Gefahren

Die rasche Veränderung durch das Tempo birgt aber auch gesellschaftliche Gefahren in sich. Insbesondere wird durch die Verknappung der Zeit die Arbeitskraft immer teurer, was zu einer ständig sich akzelerierenden Arbeitslosigkeit führt. Mit der …konomisierung der Zeit sind Rationalisierung und hoher Energieverbrauch programmiert, das Ende der Arbeitsgesellschaft eingeleitet, mit Folgewirkungen, die sozial undökologisch unerträglich sind.

Vor allem aber birgt die Entwicklung zum Weltdorf grosse Gefahren in sich. Einerseits istüberhaupt nicht vorstellbar, wie die Masse der Güter, welche im Rahmen der Internationalisierung des Handels (WTO) transportiert werden, unterökologisch erträglichen Bedingungen verschoben werden soll. Andererseits ist nicht vorstellbar, dass es in absehbarer Zeit so etwas wie eine Weltinstanz geben wird, welcheökologische, soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für eineökosoziale Weltwirtschaft auch nur rudimentär durchsetzen könnte. Die Kadenz der «Uruguayrunden» mit ihren zweifelhaften Ergebnissen oder auch die «Weltklimagipfel» verheissen nichts Gutes.

Wie das Weltdorf organisieren?

Es ist also schlicht nicht vorstellbar, wie sich das Weltdorfökologisch, sozial und wirtschaftlich oder gar kulturell organisieren lassen könnte. Auf der anderen Seite ist natürlich diese Entwicklung zum Weltdorf einmal da, und bestimmte Aufgaben können nur noch global gelöst werden. Aus ethischer Sicht bietet sich da so etwas wie ein Autarkiemodell mit Fenstern an. Wir sollten prüfen, welche Bereiche und Probleme verträglich sind mit Lösungsstrategien auf Weltebene und welche eben nicht. Von vornherein kann man sagen: Je intelligibler und geistiger ein Problem ist, desto eher ist es global zu lösen; je materialer ein Problem ist, desto eher ist es regional zu lösen. Das zu entwickelnde differenzierte Autarkiemodell müsste also ausgehen von einer mehrdimensionalen Verträglichkeitsprüfung im Blick auf die Globalisierungsfähigkeit.

Was ist globalisierungsfähig?

Wie sieht das nun konkret aus? Globalisierungsfähig und -notwendig sind Sicherheitsprobleme. Wir brauchen eine starke UNO, insbesondere zur Verhinderung von Krieg und zur Sicherung der Menschenrechte. Letztere sind der eigentlich exportwürdige Artikel Europas, sie sind auf jeden Fall verallgemeinerungswürdig. Das würde zum Beispiel die Stärkung des internationalen Rechts bedeuten, einschliesslich des Aufbaus handlungsfähiger Sanktionsmechanismen wie eine Eingreiftruppe der UNO. Ebenfalls globalisierungsfähig sind Wissenschaft und zum Teil Kultur, vielleicht auch Kommunikation, letztere allerdings nur nach kulturellen Verträglichkeitsprüfungen. Nicht auszuschliessen ist eine internationale Energiepolitik, auf jeden Fall dann, wenn sich neue Energien wie Sonnenenergie und Wasserstoffenergie durchsetzen sollten.

Ganz sicher nicht globalisierungsfähig ist der Transport von schweren Gütern. Dies sollte an der Schwelle eines neuen Ausbaus von Flug- und Verkehrssystemen bedacht werden. Es mag sein, dass uns am Ende ausökologischen Gründen nur noch ein sonnenenergiebetriebenes Kanalsystem und Rollschuhbahnen bleiben. Seriöse …kologieverträglichkeitsprüfungen müssen es an den Tag bringen.

Die UNO und Gebilde wie die EU könnten zu schlanken, aber effizienten Koordinationsinstanzen werden, ein Konzept, dem sich sogar eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer anschliessen könnte. Im Rahmen eines solchen differenzierten Autarkiemodells kämen den Regionen stärkere Aufgaben zu. Unter Regionen verstehe ich Wirtschaftseinheiten in Grössenordnungen wie die Schweiz, allerdings zum Teil grenzüberschreitend. Solche Regionen würden eine relative Autarkie anstreben, zum Beispiel mit einer eigenen regionalen Industriepolitik, mit der Entwicklung vonöffentlich geförderten Komplementärmärkten, mit neuen Koalitionen von zum Beispiel Geldgebern, Gemeinschaften,Ärztegesellschaften, Konsumentinnen, mit spezifischen Produktepaletten und regionalen Umweltpolitiken.

Verzicht auf intensives Weltdorf

Das alles läuft auf den Verzicht eines intensiven Aufbaus des Weltdorfes hinaus. Nun mag es eben wohl sein, dass ein solcher Verzicht, eine Strategie des Submaximalen, die einzige Strategie sein könnte, welche wirkliche Nachhaltigkeit und damit dauerndes gelingendes Leben sicherstellt. Es ist auf jeden Fall nicht von ungefähr, dass wir uns heute wieder daran erinnern, dass die steinzeitlichen Subsistenz-Kulturen alsübergeordnete Strategie den Risikoverzicht und dann auch die Mussepräferenz kannten. Es ist eine menschheitsgeschichtliche Weisheit, mit der Nutzung, dem Eingreifen und dem Tempo immer submaximal umzugehen. Denn es gibt die Erinnerung oder die Furcht, dass eine maximale Nutzung, maximales Tempo, maximale Grösse für den Katastrophenfall keine Elastizität mehr bereitstellen.

Das skizzierte differenzierte Autarkiemodell reflektiert diese Verzichtshaltung: Die Autarkie mit Fenstern bleibt zwar weltoffen, aber sie bleibtüberlebensfähig auch im Katastrophenfall, weil sie genügend Elastizität entwickelt. Diese risikominimierende Strategie ist nicht bloss wegweisend für die Nutzung des Raumes, also den Verzicht auf das intensive Weltdorf. Sie ist insbesondere Wegweiser für denökologisch sinnvollen, das heisst den nachhaltigen Umgang mit der Zeit.

Die Erinnerung an die Mussepräferenz der Subsistenzgesellschaften enthält ja nicht bloss die Idee, dass sich die Menschenüber die freie Zeit, zum Beispiel die Spiel- und Ritualzeit, freuten. Die Präferenz für die Musse ist vielmehr ein Teil der Risikominimierungsstrategie: Der Verzicht auf die rationelle Ausnutzung der Arbeitszeit sichert dieökologischen Rahmenbedingungen. Hier sollten wir zwei Dinge beachten: Einmal gehört zu einerökologisch sinnvollen Strategie die Entschleunigung; zweitens haben wir die Chance, im Ausgang der Arbeitsgesellschaft die neu entstehende freie Zeit sinnvoll zu nutzen bzw. eben nicht zu nutzen, sondern für die freie Betätigung auf Lebensqualität hin einzusetzen. Es könnte wohl sein, dass wir dank unserer Technologiegesellschaft ein hohes Ziel der Subsistenzgesellschaft wieder anstreben sollten: die Mussepräferenz, verbunden mit hoher Lebensqualität.


Dr. Hans Ruh ist ordentlicher Professor am Institut für Sozialethik der Universität Zürich.


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Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
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Last update: 27.9.1996