Magazin der Universit?t Z?rich Nr. 3/96

Medizinstudium: Neue Wege in Nordamerika

Haben wir den Zug verpasst? Ist das Medizinstudium in der Schweiz, in Zürich out? Wie werden wir eine neue Verordnung, ein neues Gesetz, die uns Freiheiten in der Gestaltung des Studiums geben könnten, umsetzen? Professor Urs M. Lütolf, Delegierter der Medizinischen Fakultät für klinische Studienfragen, hat verschiedene Medizinschulen amerikanischer und kanadischer Universitäten besucht und deren Ausbildungslehrgänge etwas näher angeschaut. Ein Bericht vor Ort.

Eine Reise an die Quellen der amerikanischen und kanadischen Medizinreform sollte Ideen zur Neugestaltung des Medizinstudiums an der Universität Zürich geben und vor Illusionen bewahren. Die Stationen waren: Albuquerque (New Mexico), Toronto, McMaster (Hamilton), Harvard (Boston) und Chicago. In der Woodstock-Hall auf dem McMaster Campus und mit der Erinnerung an die Ecole de mŽdecine in Paris lässt sich ein symbolischer Bogen zur heutigen Medizinerausbildung und zu Reformansätzen spannen (siehe Kasten).

Albuquerque, New Mexico

Grundversorgung statt Spezialisten downtown:

Zwischen der Wüste im Süden und den 3000 Meter hohen Bergen im Norden, zwischen der indianischen, spanischen und amerikanischen Bevölkerung diesseits und jenseits des Rio Grande gab es Probleme mit der medizinischen Versorgung. Die Einführung des neuen Curriculums zunächst für einen Teil, jetzt für alle Studierenden in Medizin ist auf das grosse Engagement derÄrzte zurückzuführen.

Die Teilnahme an Tutorials unter der Leitung eines Allgemeinmediziners wird für den Besucher zum Erlebnis. Eine Gruppe von sechs Studierenden hat in ausgewogener Diskussion Lernziele festgelegt, Wissen ausgetauscht und sich nach zwei Stunden selber evaluiert. Der Tutor hat mit wenigen, unscheinbaren Interventionen lediglich den Rahmen abgesteckt. Jeder könnte Tutor sein, es brauche dazu kein Fachwissen, lese ichüber problembasiertes Lernen: Nur bei gutfundierten Kliniken habe ich diese Akzeptanz und diese Überlegenheit im Lenken der Gruppe auf meiner Reise sehen können.

Hat der Staat New Mexico sein Ziel erreicht? Ja, denn die Zahl der in der Grundversorgung tätigenÄrzte ist höher als an anderen amerikanischen Medizinschulen.

Toronto, Ontario

Nach der «königlichen» Schocktherapie:

Die Qualität der medizinischen Ausbildung an den Medical Schools wird in Nordamerika regelmässigüberprüft. 1992 drohte eine Kommission des Royal College of Physicians mit dem Entzug der Ausbildungsbewilligung, wenn nicht sofort Verbesserungen unter anderem problembasierter Unterricht in Teilen des Studiums eingeführt werde. Innerhalb eines halben Jahres wurde die Medical School neu strukturiert.

Dass Ontario 10 Prozent weniger Ausbildungsstellen bewilligte, kam gelegen. Toronto nahm die ganze Quote der fünf Medizinschulen «auf sich» und reduzierte die jährlich zugelassenen Studierenden von 250 (so viele wie in Zürich) auf 170. Die Selektion erfolgte aus 4000 Anmeldungen vornehmlich nach Noten und wissenschaftlicher drei- bis vierjähriger Vorbildung. 1996 wird der erste Jahrgang nach der neuen Studienordnung abschliessen. Statt sechs bis acht Stunden Vorlesungen während dreier Jahre und einem Jahr Praktika besuchen die Studierenden hier während zweier Jahre Blockunterricht im problemorientierten Stil, und während weiterer zweier Jahre durchlaufen sie Praktika. Der Erfolg lässt sich sehen: 96 Prozent der Studierenden schliessen nach unzähligen Evaluationen durch die Universität und die Klinik (die Kliniken stellen zum Teil aus eigenen finanziellen Mitteln voll angestellte Educators ein), nach Übungen der Untersuchungstechnik an Schauspieler-Patienten und nach Nachholprogrammen für «Grenzfälle» erfolgreich ab.

Hat Toronto sein Ziel erreicht? Ja, denn der Studiengang ist akzeptiert. Einige gute Lehrer gingen zwar «verloren»; ihre beliebten Vorlesungen fanden keinen Platz mehr. (Die Studierenden sollen mit ihnen aber «privat» Vorlesungen organisieren, liess ich mir sagen: «the hidden curriculum».) Von vier kanadischen Preisen für beste Arbeiten der Studierenden gingen drei an Toronto.

Die Ehre ist gerettet.

McMaster, Hamilton, Ontario

Generationswechsel an der Wiege:

Zur Institution geworden, organisiert (verkauft) McMaster Workshops für problembasiertes Lehren. Gute Workshops, fächerübergreifend (Schwestern, Physiotherapeutinnen, Zahnärzte, Tierärzte, Mediziner) und dies inüberzeugender Offenheit. Das Feuer, das einem beim Erarbeiten des unbekannten Stoffs ergreifen kann, ist direkt spürbar, wenn man in den Lernprozess der Kleingruppen eintaucht. Auch beim Lunch schimmert es im Gespräch mit den Studierenden immer wieder durch.

Wer studiert hier Medizin? Zunächst wird nach den Noten der 3000 Angemeldeten evaluiert. Dann folgen 400 Interviews, Arbeit in einer Gruppe hinter halbdurchlässigem Spiegel, 16 Statements, 100 Worte zur Berufswahl. Schliesslich werden 75 Studierende zugelassen. Davon werden 98 Prozent die Medizinschule nach drei intensiven Jahren ohne Ferien mit einem Durchschnittsalter von 28 Jahren erfolgreich verlassen.

Hat McMaster sein Ziel erreicht? Welches Ziel, muss man fragen? In den 30 Jahren istüber den Ausgang dieses neuen Lehrgangs viel publiziert worden. Objektiv gesehen, kann man gegenüber dem traditionellen Curriculum in Wissen, weiterer Lernbereitschaft sowie sozialem Verhalten keinen Unterschied feststellen. Die scheidende Generation der Lehrer der ersten Stunde hat kein Problem, dies auch offen auszusprechen. Die Ehemaligen von McMaster, die ich an verschiedenen Kliniken in Ontario traf, bestätigen immer wieder: «It was fun.» Die Lehrer, die sichüber Jahre in diese Programme eingelassen haben, sind jung und engagiert geblieben. Selbstverständlich schwingt auch ein wenig Triumph darüber mit, dass das grosse, «stolze» Toronto einschwenken musste in die Wege, die 60 Kilometer südwestlich der Metropole vorgezeigt wurden. Doch ein Bedenken trübt den Rückblick: Politiker erwägen, eine der fünf Medical Schools in Ontario zu schliessen. Dies sei sicher nicht Toronto, aus politischen Gründen nicht Ottawa. Wird es McMaster sein?

Wird die nächste Generation den Enthusiasmus weitertragen können?

Harvard, Boston

«Finanzen? Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit mit dieser Frage, hier ist alles anders»:

Auch die Harvard Medical School hat für ihre 160 Medizinstudierenden das problembasierte Curriculum eingeführt. Zunächst in einer kleinen Gruppe, dann 1989 für alle. Ein neuer Dekan habe die Reform eingeleitet, ohne dass eine Methode des Lehrens im Vordergrund gestanden sei. Mit Hilfe von Beratungen von McMaster ist der Blockunterricht in den ersten beiden Studienjahren eingeführt worden. In den beiden Praktikumsjahren (Clerkship) wird Wert darauf gelegt, dass an einer Klinik jeweils nur zwei bis drei Studierende tätig sind und effektive klinische Arbeit unter Aufsicht leisten,ähnlich dem, was unsere Unterassistenten erleben.

Der Unterschied? Wie an allen Medizinschulen werden die Studierenden nach Vorgaben des Dekanates qualifiziert, und diese Qualifikation ist Teil der Promotion und Grundlage für jede spätere Stellenbewerbung, der eine Empfehlung des Dekans beigefügt sein muss. Aber auch die Studierenden qualifizieren die Ausbildungsstätte zuhanden des Studiendekans: Das sind 2700 Lehrbeauftragte und Professoren, bezogen auf einen Studiengang mit 160 Medizinstudierenden, die jährlich 24000 Dollar Tuition Fee und 16000 Dollar fürs Wohnen bezahlen.

Vieles, aber nicht alles ist anders in Harvard.

Chicago

Vertrauen in die Wissenschaft auf unsicheren Wegen im Gesundheitswesen:

Die Kirchen unterschiedlichster Konfessionen sind von Efeuüberwachsen, oft kaum von den Gebäuden der Universität zu unterscheiden. Zwischen dem sommerlichen Grün des Campus ist das Enrico Fermi Memorial ein Zeichen für die Studierenden: Exakte Wissenschaft soll auch in der Medical School der Grundstein bleiben. Man reiht sich bei John Hopkins (Baltimore) und Harvard (Boston) ein, wenn es bei den Absolventen um die Besetzung akademischer Positionen geht.

Die Dekanin Norma Wagoner bezweifelt aber, dass die künftigenÄrzte durch diese Erweiterung in der heutigen Berufswelt, in der viele Aufgaben durch Krankenschwesternübernommen werden (Anamnese, einfache Untersuchungen und Verschreiben von Medikamenten), wesentlich besser vorbereitet sein werden. Die Dekanin möchte im Unterricht von klinischen Problemen ausgehen, hat aber den Kompass klar auf Wissenschaft gerichtet. Die Auflagen für die Lizenzierung der Schule 1997 werden mit Anpassungen zu erfüllen sein; am Grundstein der Wissenschaft wird nicht gerüttelt.

Zürich

Aufbruch mit gebundenen änden und neue Ziele:

Viele der didaktischen Elemente (kleinere Gruppen, selbstbestimmtes Studium, problem- und fallbasierter Unterricht) sind seit Jahren bei uns eingeführt (was in den ursprünglichen Curricula der USA nicht der Fall war) und können ohne eingreifendeÄnderungen vermehrt eingesetzt werden. Unsere Probleme liegen anderswo. So schön es in der Theorie klingt: Ohne Druck «selbstbestimmt» zu lernen, funktioniert in der Praxis weder hier noch in den USA und in Kanada. Erst nach einem harten Selektionsprozess werden die Studienanwärter mit den besten Notenüberhaupt zu Interviews zugelassen. Ein Erststudium in einem wissenschaftlichen Fach ist zudem vorteilhaft. (Dass dann im ersten Jahr der Medical School gerade in die Klinik eingestiegen wird, tönt gut; es ist aber zu bedenken, dass dies für 22- bis 25jährige zutrifft.) Nach einer solchen Selektion können die Erwartungen an die Eigenverantwortung hoch gesteckt werden. Ohne eine Selektion, die vor allem auf wissenschaftliches Rüstzeug achtet, sind uns die Hände gebunden

Unser System hat auch Stärken: Sie liegen in einer guten Grundausbildung (Matura mit wissenschaftlichen Fächern). Ohne Zeitverzug und unter Berücksichtigung des Schultornisters ins Studium einzusteigen und in vernünftig kurzer Zeit zu einem Staatsexamen zu gelangen, ist möglich. Das Ziel, Patienten zu behandeln, kann nicht mehr für alle Inhaber des Staatsexamens gelten. In der Schweiz bilden wir dreimal so vieleÄrzte pro Einwohner aus, verglichen mit England, und doppelt so viele verglichen mit den USA. Im Studium Fähigkeiten zur langfristigen Wissensakquisition zu erlangen, methodisch für vielfältige Aufgaben gewappnet zu sein, ist für unsere Neuausrichtung entscheidend.

Neue Eckpfeiler des Medizinstudiums

Vor 30 Jahren haben in Europa Jugendliche die Kräfte für einen Wandel freigesetzt, während in Kanada Experten neue Wege markierten. Wirtschaftliche Veränderungen, die das Gesundheitswesen zu einem schlingernden Schiff werden liessen, und eine Medizinalverordnung aus dem letzten Jahrhundert zwingen uns heute, die Medizinerausbildung anzupassen. Problembasiertes Lernen ist kein Paket, das diese Probleme löst.

Eine gute Gymnasialbildung, eine leistungsbezogene Selektion, hohe Erwartungen an die Persönlichkeit der Studierenden und ein Hinlenken zu verschiedenen Berufen auch nach abgeschlossenem Medizinstudium sind heute die Eckpfeiler bei der Neugestaltung des Medizinstudiums. Der Beitrag der Fakultät wird die akademische Anerkennung der Lehrtätigkeit sein, der Beitrag der Politiker eine realistische Medizinalverordnung und die Möglichkeit der Selektion der Studierenden.

Urs M. Lütolf


Paris 1968

Die Ecole de mŽdecine ist von Medizinstudierenden besetzt. In jeder Etage des ehrwürdigen Gebäudes wird je ein Studienjahr eines neuen Curriculums diskutiert. Ein Weissbuch über dieses reformierte Medizinstudium entsteht und wird den Behörden zugestellt. Das autoritär festgefahrene System wird von der Basis in Bewegung gesetzt.

Ontario, Canada, 1965

Die Gründung einer neuen Medical School in McMaster wird beschlossen. Ein Planungsteam von fünf Leuten unter der Leitung des Kardiologen John Evans hält 1968 ein neues Curriculum bereit. Die Methode der Fallstudien (Harvard Business School) hat die Planer beflügelt. Der Baustein des «Selbstgelenkten Studiums» wurde einbezogen und Arbeit in kleinen Gruppen, wie später im Beruf, sollte ein weiteres Element des neuen Studiums sein. Es liegt in der Zeit und im Geist von Woodstock (ein paar hundert Meilen von Hamilton entfernt), dass Wettbewerb und Noten zur Qualifikation wenig gelten. 20 Studierende beginnen im Herbst 1969 die von Experten konzipierte Medical School in McMaster, Hamilton.

Bern, 1996

Die Schweizerische Medizinische Interfakultätskommission (SMIFK) reicht ein Begehren für eine Änderung des Medizinstudiums (genauer: der Medizinalverordnung) ein. Genf hat mit einer Sonderbewilligung im Herbst 1995 mit 20 Studierenden (von 120) ein Experiment mit problembasiertem Medizinstudium begonnen.


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Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
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Last update: 3.10.1996