In der gegenwärtigen Weltordnung wird Kultur zum ausschlaggebenden Faktor im Kampf um einen Platz an der Sonne. Dies gilt nicht nur individuell, indem Bildung Zugang zu höherem Einkommen verschafft, sondern viel grundlegender im Prozess der Hierarchisierung der Entwicklungsländer entsprechend ihrem kulturellen Erbe.
Nicht der gesellschaftliche Wandel ist neu, sondern dessen Beschleunigung, Durchsetzungsform und Globalisierung. Eines der eindrücklichsten Zeugnisse dieser Einsicht stammt von einem umstrittenen Globalisierungstheoretiker des 19. Jahrhunderts Karl Marx, in dessen «Kommunistischem Manifest» sich die folgenden Sätze finden:
«Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren ... An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander ... Die Bourgeoisie reisst durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schiesst, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen ...»
Man muss nicht «Marxist» sein, um die Würze dieses Textes zu estimieren. Was hierüber die «Bourgeoisie» oder moderner ausgedrückt: die Funktionsweise des kapitalistischen Weltsystems gesagt wird, vermittelt direkteren Zugang zur Triebkraft hinter dem «Global Change» als das meiste, was heute so wortreich zum Thema Globalisierung daherkommt.
Allerdings: So gradlinig, wie Marx sich die globale Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise vorgestellt hatte, verlief und verläuft die Geschichte nicht. Wohl erfolgt die Zerstörung der selbstgenügsamen und abgeschlossenen Lebensformen, wie prognostiziert, flächenhaft und gründlich. Doch die von Marx behauptete Verelendung der Massen ist so ungewiss, wie die Ausweitung der Zivilisation in Form demokratischer Konsumgesellschaften auf privilegierte Schichten und Länder begrenzt bleibt.
Wie kann man die unterschiedliche Anpassung an die westliche Hegemonialkultur in den verschiedenen Ländern erklären, wo doch kapitalistische Profitmaximierung überall nach vergleichbaren Methoden erfolgt? Ich möchte hier zeigen, dass die Erklärung nationaler Unterschiede letztlich auf das lokale kulturelle Erbe zurückgreifen muss.Vorangestellt wird ein kurzer Überblicküber die wichtigsten Positionen in der vorherrschenden Theoriediskussion zum Thema.
Religions- und Wertesysteme: Die mit Abstand populärsten Ansichten führen unterschiedliche Erfolge in der nachholenden Entwicklung auf Kulturunterschiede zurück. Dazu drei Beispiele: (1) Max Weber1 brachte die Entstehung und die Erfolge des Kapitalismus mit dem europäischen Protestantismus in Verbindung. (2) Ein auflagestarkes Buch mit dem Titel «WHO PROSPERS?»2 beantwortet die Frage schon im Untertitel: «How cultural values shape economic and political success.» (3) Und für Weggel3 ist ausgemacht: «Zwischen Modernisierungsfähigkeit und Wertesystem besteht nicht nur ein enger, sondern in aller Regel ein für die Wirtschaftsentwicklung ausschlaggebender Zusammenhang». Ansätze zur systematischen und kulturvergleichenden Überprüfung solcher Thesen bestehen allerdings wenige4. Symptomatisch für die methodischen Schwächen des Ansatzes steht die sogenannte «Konfuzianismusdebatte»: Solange Ostasien sich der Verwestlichung widersetzte, wurde die asiatische «Stagnation» mit der konfuzianischen Ethik begründet Stichwort: lähmende Autoritätsgläubigkeit. Derselbe Konfuzianismus wird heute angerufen zur Erklärung der wirtschaftlichen Erfolge ostasiatischer Länder Stichwort: leistungssteigernde Disziplinierung.
Evolution: Aus evolutionistischer Sicht prämiert die soziale Selektion jene kulturellen Neuerungen, die organisationelle Differenzierung und Machtkonzentration vorantreiben. Dies erkläre nicht nur die Durchsetzungskraft des westlichen Zivilisationstyps, sondern auch, weshalb gewisse Gesellschaften die globale Konkurrenzsituation kreativer und erfolgreicher beantworten als andere konkret: weshalb die alten Staatsvölker des asiatischen Kulturraums grössere Erfolgschancen haben als die vormaligen Stammesgesellschaften im subsaharischen Afrika. Als Beispiel dazu die Stimme eines bestandenen Entwicklungsbürokraten: «Die für Schwarzafrika spezifischen Entwicklungsprobleme sind weithin bestimmt durch die Tatsache, dass hier die Evolution zur Schriftkultur, zur Technologie (besonders in der Landwirtschaft) und zu politischen Zentralinstanzen mit ihren Korrelaten auf der Ebene des Individuums nicht stattgefunden hat»5.
Geschichte: Sie schärft den Blick fürs Einmalige und Spezifische. Die japanischen Entwicklungserfolge wurden beispielsweise bis vor kurzem auf den Umstand zurückgeführt, dass das Land im 19. Jahrhundert noch von einem Distanzschutz profitierte, der sich im Verlaufe des 20. Jahrhunderts stetig verringerte: Wer später in den Weltmarkt eintritt, sieht sich einer grösseren Konkurrenz gegenüber, findet also schwierigereäussere Bedingungen für inneres Wachstum vor. Solche Sequenzanalysen haben an Überzeugungskraft verloren, seit einige «Späteinsteiger», wie etwa Malaysia, erfolgreich nachholende Entwicklung betreiben. Immer noch im Rahmen des historischen Paradigmas werden nun eher die Vorteile hervorgehoben, die Späteinsteiger dank dem Lehrgeld der vorauseilenden Nationen geniessen. Andere Kommentatoren der Geschichte schwenken angesichts des aktuellen Wandels auf kultur- oder evolutionstheoretische Positionen um.
Hinter der hier nur kurz angetönten Ratlosigkeit stehen objektiv die wachsende Komplexität und die beschleunigte Dynamik der gesellschaftlichen Organisation, aber auch eine der wissenschaftlichen Profilierung dienende Tendenz, Widersprüche zu konstruieren und Ausschliesslichkeit zu beanspruchen, wo in Wirklichkeit Komplementarität besteht. Erfolgversprechender scheint mir ein Vorgehen, das die Interdependenz von Kultur, Evolution und Geschichte im heutigen Weltsystem herausarbeitet. Denn: Die drei Ansätze erfassen verschiedene Aspekte ein und desselben Kampfes umökonomische Ressourcen und politische Macht in einer Arena, in der inszeniert wird, was wir euphemistisch «Entwicklung» nennen.
Die folgenden Ausführungen basieren auf Daten, die im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojektes erhoben wurden. Auf der Grundlage von ethnologischen Monographien wurden für 96 Länder Afrikas, Asiens und Ozeaniens neuartige Kulturindikatoren zur traditionellen Wirtschafts-, Sozial- und Politikorganisation entwickelt. Die etwa 3000 untersuchten Volksgruppen repräsentieren im Durchschnitt 95 Prozent der jeweiligen Staatsbevölkerung. Die Daten wurden auf staatliches Niveau aggregiert und beschreiben das kulturelle Erbe heutiger Nationalstaaten. Diese Kulturindikatoren weisen den grossen theoretischen Vorzug auf, dass sie als historisch vorauslaufende Variablen in einem Entwicklungsmodell nie als abhängige Grössen auftreten können. Im folgenden möchte ich zwei Einzelergebnisse zur Rolle des kulturellen Erbes für die Entwicklung vorlegen.
Das Beispiel bestätigt die evolutionstheoretische Sicht, wonach moderne «Entwicklung» lediglich die letzte Phase einer vorüber 10 000 Jahren in Fahrt gekommenen gesellschaftlichen Komplexitätszunahme bildet. Darstellung 1 zeigt nicht nur die hochsignifikante Korrelation zwischen der Grösse vorkolonialer, kulturell homogener Volksgruppen und der Grösse heutiger Staaten, sondern auch die langfristige Kontinuität im Grad politischer Hierarchisierung.
Abb. 1: Je grösser die präkolonialen Volksgruppen, desto grösser die Bevölkerung heutiger Staaten. Ein vereintes Korea läge nahe an der Trendlinie; Indien und China, aber auch Uganda, sind vergleichsweise «zu gross».
In den unterschiedlichen Grössenordnungen von traditionalen und modernen Gesellschaftseinheiten spiegelt sich die Entwicklung effizienterer politischer Organisationskapazitäten, erhöhter landwirtschaftlicher Produktivität sowie vereinheitlichter religiöser und (schrift-)sprachlicher Symbolsysteme. Diese Effizienz der traditionellen Sozialtechnologien ist der stärkste Prädiktor für den Entwicklungsstand der untersuchten Länder. Die aus Europa auf andere Gesellschaftenübertragenen Institutionen funktionieren dort am besten, wo die lokalen Organisationsformen jenenähneln, aus denen heraus sich in Europa die modernen Strukturen entwickelt hatten. Solche Länder weisen ein höheres Bildungsniveau auf, verfügenüber besser ausgebaute Transportsysteme (Strassen, Eisenbahnen, Häfen), sind stärker industrialisiert, haben einen stärkeren Aussenhandel und sind weniger von Auslandhilfe abhängig (alle Beziehungen mit p <.001 und R >.50). Ihreökonomischen Wachstumsraten variieren allerdings stark und liegen nur wenigüber dem Durchschnitt aller Entwicklungsländer.
Das zweite Beispiel spielt den Werttheoretikern in die Hände. Es ist unbestritten, dass ein grosses Bevölkerungswachstum in labour surplus economies die Wohlstandsmehrung hemmt. Wovon hängt nun aber die unterschiedliche Fruchtbarkeit in den Entwicklungsländern ab? Grundsätzlich hängt sie vom wirtschaftlichen und sozialen Wert ab, den Kinder für ihre Eltern und nahen Verwandten und nicht für die Welt als Ganzes oder für zukünftige Generationen haben. Die soziale Bedeutung der Kinder lässt sich aus der Art der Familien- und Verwandtschaftsorganisation ablesen: aus der Bedeutung der Polygamie, die einflussreichen Männern eine grosse Nachkommenschaft ermöglicht, sowie der sozialen Rolle von Verwandtschaftsgruppen, die pro-natalistische Werthaltungen fördern. Bezeichnet man stark familienzentrierte Traditionen als familistisch und vergleicht sie mit der Fertilität der einzelnen Länder, so findet man eine klare Bestätigung der theoretischen Erwartungen (Abbildung 2).
Abb. 2: Je wichtiger der «Familismus» (Polygamie und starke Verwandtschaftsorganisation) im kulturellen Erbe, desto höher die heutige Fertilitätsrate.
Vergleichbare Beziehungen bestehen positiv zur Analphabetenrate und negativ zum Wirtschaftswachstum pro Kopf (alle Beziehungen mit p <.001 und R >.60).
Global Change lässt sich mit keinem der klassischen Paradigmen allein erklären. Der Entwicklungsstand heutiger Länder stimmt eher mit dem Evolutionsmodell, das ökonomische Wachstum eher mit dem Wertemodell überein. Und will man die Sonderstellung einzelner Länder verstehen, wird man auf die Geschichte verwiesen.
Allerdings spricht dieser Befund nicht gegen einen integralen Theorieanspruch zur Erklärung des differentiellen Wandels in verschiedenen Weltregionen. Je breiter und tiefer die technischen Infrastrukturen bis in «die barbarischsten Nationen» vordringen, desto wichtiger werden nationale und lokale Besonderheiten im Kalkül der international operierenden Unternehmen. Kultur avanciert zum wichtigsten Standortfaktor. Volker Bornschier spricht in diesem Zusammenhang treffend vom «Wettbewerb der sozialen Ordnungen»6. Solange es nur die eine, von westlichen Werten durchdrungene, von westlichem Geld kontrollierte und von westlichen Interessen geleitete Entwicklungsstrategie gibt, solange werden die verschiedenen Länder auch untereinander ihrem kulturellen Erbe entsprechend den Konkurrenzkampf mit unterschiedlich langen Spiessen ausfechten müssen.
Literatur
1 Max Weber, Die Protestantische Ethik. 1920.
2 L. E. Harrison, Who Prospers? New York: Basic Books.
3 Oskar Weggel, Die Asiaten. München: Beck 1989.
4 z. B. Francis Fukuyama, Trust: The social virtues & the creation of prosperity. New York: Free Press.
5 Uwe Simson, Zur Entwicklungsproblematik Schwarzafrikas: Plädoyer für eine realistische Sichtweise. Afrika Spectrum 91/2, 26. Jahrgang. Institut für Afrika-Kunde. Hamburg.
6 Volker Bornschier und Bruno Trezzini, Jenseits von Dependencia versus Modernisierungstheorie: Differenzierungsprozesse in der Weltgesellschaft. In: Hans-Peter Müller (Hg.): «Weltsystem und kulturelles Erbe». Berlin 1996, S. 53ff.
Dr. Hans-Peter Müller (mueller@ethno.unizh.ch) ist ordentlicher Professor am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich.
unipressedienst Pressestelle der Universität Zürich
Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
http://www.unizh.ch/upd/magazin/3-96/
Last update: 3.10.1996