Nichts ist fest. Alles fliesst, alles bewegt und wandelt sich. Das ist keine neue Einsicht. Das Neue beginnt mit der mechanischen Uhr. Mit ihr hielten die messbare Geschwindigkeit und damit die Neuzeit Einzug. Zeit wurde einteilbar und immer wertvoller. Zeit galt es zu nutzen als Lebenszeit, als die Dauer, die man von der Geburt bis zum Tode zur Verfügung hat, als Arbeitszeit und als Eigenzeit. Fast alle Lebensbereiche werden heute von der gemessenen Zeit regiert.
Alles ist miteinander verwoben, bedingt sich wechselseitig, durchdringt sich.
Alles dreht sich um das Phänomen Zeit. Unsere Gesellschaft, unser Leben werden heute auf Zukunft getrimmt. Die Frage nach der lebensstiftenden, sinnvollen Zeit wird verdrängt. Doch diese Frage prägt unsere Gegenwart. Und die Antworten geben Zukunftsvertrauen oder schüren Zukunftsängste. Dass es irgendwann einmal besser gehe, wenn man immer schneller mitmacht, ist ein Trugschluss. Denn das Zeitmuster der Temposteigerung ist uns nicht angemessen: Es macht uns total abhängig von der nutzbaren Zeit. Wenn wir alles, was wir tun, «timen» müssen, und wenn die «getimte» Zeit erst noch Geld ist, dann tendiert alles zumökonomischen Wert, zur Verwertbarkeit. Die Verwertung der Zeit führt zur Verwertbarkeit des Raumes, konkret zur Ausbeutung der Natur. In letzter Konsequenz werden wir selber zur verwertbaren Ware.
Die derzeitige Globalisierung ist eine Folge dieses beschleunigten Wandels. Rückwirkend beschleunigt sie wiederum den Wandel der Technologien, der Arbeitswelten, der Gesellschaften und der Kulturen. Alle versuchen schneller zu werden. Schnelligkeit soll Wettbewerbsvorteile garantieren und finanziellen Gewinn abwerfen. Die Welt wird dabei zum freien Marktplatz. Wer nicht mitziehen und mithalten kann, bleibt auf der Strecke. Die Gewinner werden immer reicher, bleiben aber immer arm an Zeit.
Die Frage nach der Zeit ist die Frage nach der Gegenwart. Denn die Zukunft wird nie so sein, wie man sie plant oder prophezeit. Ganz in der Gegenwart leben, heisst deshalb, die Zukunft zu gestalten. Das ist das Thema des vorliegenden Magazins «Global Change». Die Erde wandelt sich jetzt. Jetzt sind wir daran, die globale Umwelt zu verändern, und zwar auf eine Weise, wie es in so kurzer Zeit nie zuvor durch natürliche Prozesse der Fall gewesen ist. Die lebenswichtige Ozonschichtüber unseren Köpfen nimmt ab; die Artenvielfalt geht dramatisch zurück; der erhöhte Treibhaus-Effekt verbunden mit generellen Klimaänderungen hat nach Ansicht mancher Experten bereits eingesetzt, wobei man später an den Gletschern einmal ablesen kann, welches Treibhaus-Szenario tatsächlich eingetreten ist. Jetzt sind wir daran, unsere Gesundheit durch Umweltchemikalien zu beeinträchtigen. In der Tierwelt geht es schon mehr drunter und drüber; Schneckenweibchen werden zu Männchen; gewisse Tierarten am Ende der Nahrungsmittelkette sind vom Aussterben bedroht. Erste Anzeichen gibt es auch beim Menschen: Die Spermien vermindern sich bei Männern und bei Frauen erhöht sich das Brustkrebsrisiko.
Dieser Wandel ist jetzt im Gang mit all seinen unerwünschten Begleitfolgen, die unser und das globale Leben zu bedrohen beginnen. Die heutige Weltgesellschaft ist deshalb eine globale Schicksalsgemeinschaft. In erster Linie hat sie die Probleme der Umweltzerstörung und der Unterentwicklung zu lösen. Das ist erkannt. Umwelt und Entwicklung hängen zusammen. Das steht seit der Umweltkonferenz von Rio 1992 auf der internationalen Agenda. Die beiden Dossiers Umwelt und Entwicklung hat man im Leitbild «Nachhaltige Entwicklung» miteinander verknüpft.
Die Tragweite dieses Wandels wird deutlich, wenn man die «Nachhaltige Entwicklung» in der Politik und im alltäglichen Leben umzusetzen versucht. Paradoxerweise stehen da Wissenschaft und Technik wieder im Vordergrund. Ohne diese geht es nicht, obwohl sie viele globale Umweltprobleme mitverursacht haben. Vonnöten ist deshalb eine tiefgreifende Umorientierung der Wissenschafts- und Forschungsmuster in bezug auf die Umwelt sowie der Produktions- und Konsummuster.
Anlass zu diesem Magazin ist die Jahrestagung der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften an der Universität Zürich-Irchel zum Thema «Global Change». Wir bieten hier einen kleinen Ausschnitt aus verschiedenen Forschungsbereichen der Universität Zürich quer durch die Fakultäten. Denn nur im Zusammengehen aller Disziplinen kann der Wandel verstanden, können Lösungen gefunden und in angemessenes Handeln umgesetzt werden.
Nichts ist fest. Doch alles ist miteinander verwoben, bedingt sich wechselseitig, durchdringt sich. Dieses Zusammenwirken aller Phänome erfordert Achtsamkeit. Achtsamkeit der Politiker, der Wissenschafter und jedes Einzelnen, wenn der «Global Change» menschenwürdig gelingen soll. Das hängt entscheidend von der Zeiterfahrung und der Zeitgestaltung ab besonders von der Begegnung mit dem zeitlosen Sein.
Heini Ringger (ringger@zuv.unizh.ch)
unipressedienst Pressestelle der Universität Zürich
Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
http://www.unizh.ch/upd/magazin/3-96/
Last update: 3.10.1996