Die Zeit der abgeschotteten Bücherhorte ist endgültig vorbei. Die neuen technischen Verbundmöglichkeiten erfordern eine gezielte und weitblickende Koordination zwischen Bibliotheken. Gibt es eine entsprechende Bibliothekspolitik in der Schweiz? Worum geht es bei dem Kampf um das bessere Bibliothekssystem der wissenschaftlichen Bibliotheken wirklich?
Verfolgt man die Diskussionen und Auseinandersetzungen der letzten Jahre zwischen den grossen Bibliotheken, bleibt angesichts wechselnder Allianzen oft unklar, wer eigentlich mit wem und gegen wen welche Ziele verfolgt. Der unabhängige Beobachter stellt sich leicht die Frage, ob es eine schweizerische Bibliothekspolitik überhaupt gibt oder ob er einer Fata Morgana hinterherjagt. Gegenwärtig wird in Bibliothekskreisen viel darüber diskutiert, wer denn nun das bessere Bibliothekssystem habe; ob ETHICS oder das von der Landesbibliothek beschaffte VTLS das neuere, sprich modernere System sei. Damit werden technische Argumente vorgeschoben, wo es eigentlich um Einfluss und nicht zuletzt um den Kampf um knapper werdende Subventionen geht.
Bis Ende der achtziger Jahre verhinderten Differenzen zwischen den grossen Bibliotheken ein gemeinsames Vorgehen im Bereich Automatisierung. Unabhängig voneinander wurden seit den siebziger Jahren grosse Anstrengungen in die Entwicklung zweier Bibliothekssysteme investiert: An der Universität Lausanne entstand das System SIBIL, mit dem Verbundkataloge in der welschen und deutschen Schweiz aufgebaut wurden. Die ETH Zürich arbeitete an einer eigenen Entwicklung und baut seit Mitte der achtziger Jahre mit dem System ETHICS einen Verbund auf. Diese zwei Systeme prägen heute (neben kleineren Verbünden mit DOBIS/LIBIS) die schweizerische Bibliothekslandschaft.
SIBIL dominiert aufgrund der Grösse seines Datenbestandes, der bereits über zwei Millionen Titelaufnahmen ausmacht, in der Westschweiz und im Tessin. Daneben haben die Universitäten Basel und Bern mit diesem System einen Deutschschweizer Verbundkatalog (DSV) aufgebaut. Vor einiger Zeit ist aber klar geworden, dass die Mittel für eine längerfristige Weiterentwicklung von SIBIL nicht mehr vorhanden sind und dass die Bibliotheken, die heute damit arbeiten, in einigen Jahren auf ein anderes System umsteigen müssen.
ETHICS repräsentiert mit etwa einer Million Titelaufnahmen den zweitgrössten schweizerischen Katalogverbund und spielt de facto die Rolle einer technisch-naturwissenschaftlichen Nationalbibliothek. Seit dem Anschluss der Zürcher Zentralbibliothek an ETHICS hat dieser Verbund deutlich an Gewicht gewonnen: ETHICS konnte dem hartnäckigen Vorurteil entgegentreten, es sei für geistes- und sozialwissenschaftlich ausgerichtete Bibliotheken ungeeignet. Vor allem aber resultiert aus der Potenz der beiden grossen Verbundpartner eine deutliche Sogwirkung auf die anderen Hochschulbibliotheken der deutschen Schweiz.
Bis vor zwei Jahren war das Projekt einer "Bibliothek Schweiz" in aller Munde (wenigstens in der Welt der Schweizer Bibliotheken . . .). Inzwischen ist auch dieses Projekt den Weg anderer Kooperationsbemühungen gegangen und an unterschiedlichen Vorstellungen gescheitert. In der Diskussion standen und stehen sich zwei Konzepte gegenüber, die sich vereinfacht als zentrale und dezentrale Lösung charakterisieren lassen.
Die zentrale Lösung strebte an, die heutige Vielfalt in Zukunft durch ein einheitliches, gemeinsames System aller Bibliotheken abzulösen. Diese Vision einer einzigen schweizerischen Katalogdatenbank gerät aber in Konflikt mit dem Gewicht föderalistisch gewachsener Strukturen. Zudem stellen die Mehrsprachigkeit und die bereits bestehenden heterogenen Datenbestände Probleme dar, die für eine Einheitslösung unverhältnismässigen Aufwand verursachen. Nachdem dieses Konzept sich auch international nicht durchgesetzt hat, ist es mehr als fraglich, warum ausgerechnet die Schweiz dafür prädestiniert sein sollte. Auf lokaler und sprachregionaler Ebene sind solche Konzepte hingegen eher realisierbar.
Die dezentrale Lösung geht davon aus, dass die Bibliotheken auch in Zukunft eine heterogene Welt bleiben werden. Aufgrund des technologischen Wandels werden die Systeme immer wieder wechseln, während das Wesentliche, die Katalogdaten, bleiben. Es müssen also Instrumente geschaffen werden, die diese Kataloge vernetzen und den Benutzern ermöglichen, direkt von ihrem Arbeitsplatz aus verschiedene Kataloge einfach abzufragen und die gefundenen Dokumente direkt zu bestellen. Eine dezentrale Lösung hat diesbezüglich die besseren Realisierungschancen, indem sie die Realität grosser heterogener Datenbestände berücksichtigt und darauf verzichtet, diese vereinheitlichen zu wollen.
Gegenwärtig scheint sich zu bestätigen, dass sich die Geschichte gerne wiederholt. Erneut ist die Auseinandersetzung geprägt vom Konflikt zwischen deutscher und welscher Schweiz; mit dem kleinen Unterschied, dass heute auf der welschen Seite dieses bibliothekarischen Röstigrabens die Landesbibliothek die Führungsrolle übernommen hat. Die bevorstehende Ablösung von SIBIL hat dabei die Szene in Bewegung gebracht und lässt neue Allianzen entstehen:
Auf der einen Seite bereitet das Réseau romand (der SIBIL-Verbund der Westschweizer und Tessiner Bibliotheken) den Umstieg auf das System VTLS der Landesbibliothek vor. Auf der anderen Seite muss sich der DSV Basel/Bern über seine Zukunft klar werden. Auch wenn noch keine Entscheide gefallen sind, steht angesichts der ähnlichen Bestandesprofile die Option ETHICS doch klar im Zentrum der Diskussionen. Dazu kommt, dass auch die DOBIS/LIBIS-Katalogverbünde der Uni Irchel in Zürich und der HSG in St.Gallen die Ablösung ihres Systems planen müssen und möglicherweise auch in die Richtung ETHICS tendieren werden.
Damit besteht die realistische Möglichkeit, dass sich im Lauf der nächsten Jahre im Hochschulbereich zwei grosse sprachregionale Katalogverbundsysteme entwickeln könnten. Diese Perspektive ist durchaus positiv und könnte die Basis für eine konstruktive Entwicklung im Bibliothekswesen abgeben. Voraussetzung dafür wäre unter anderem, dass die Beteiligten das Schattenboxen über die jeweiligen Vorzüge und Nachteile ihrer heutigen Bibliothekssysteme beenden - im Bewusstsein, dass jedes Bibliothekssystem an seine Zeit gebunden ist, von der technologischen Entwicklung überholt wird und durch modernere, leistungsfähigere und benutzerfreundlichere Systeme abgelöst wird.
Die Zukunft der Bibliotheken wird geprägt von vier Herausforderungen, die bewältigt werden wollen:
1. Aufbau der Verbundkataloge: Aus organisatorischer und finanzieller Sicht drängen sich gemeinsame Verbundkataloge mehrerer Bibliotheken vor allem dort auf, wo ein Rationalisierungspotential ausgeschöpft werden kann, indem die arbeitsintensive Katalogisierung eines Dokuments nur noch einmal für alle Partner gemacht wird. Im Hochschulbereich stehen deshalb sprachregionale Verbünde im Vordergrund, wo diejenigen Bibliotheken kooperieren, die in ihren Anschaffungen besonders grosse Überschneidungsraten aufweisen. Die Anpassung an internationale Standards ist dabei eine zentrale Forderung, damit diese Verbundkataloge im nationalen und internationalen Rahmen offenbleiben und den Datenaustausch nicht behindern. Als Norm hat sich dabei das MARC-Format (MAchine-Readable-Cataloging) als Standard für die Strukturierung bibliothekarischer Daten etabliert und gibt heute die Basis für einheitliche Schnittstellen. Als Knacknuss beim Zusammenschluss bisher autonomer Bibliothekssysteme in einem gemeinsamen Katalogverbund erweist sich allerdings immer wieder die Sachkatalogisierung (Beschlagwortung), wie sich beim Anschluss der Zentralbibliothek an ETHICS gezeigt hat.
2. Benutzerfreundlicher Online-Zugang zu den Katalogen: Heute gehört es zum Standard der Hochschulbibliotheken, dass der Zugang zum OPAC (Online Public Access Catalogue) auch via Modem und Telefon- bzw. Datennetz möglich ist. Dank der Verbreitung von Internet ist dieser Zugang heute weltweit möglich, und als Benutzer sind mir die Kataloge ausländischer Bibliotheken ebenso "nahe" wie diejenigen vor Ort. Hinderlich ist dabei aber die Vielfalt der Suchsysteme mit unterschiedlichen Kommandos und oft nicht gerade benutzerfreundlichen Oberflächen. Die Antwort darauf wird sicher nicht heissen, dass irgendwann alle Bibliotheken mit dem gleichen (hoffentlich komfortableren) System arbeiten - nicht einmal Bill Gates würde sich wohl zutrauen, alle Bibliotheken weltweit seinem Diktat unterordnen zu können. Die Lösung bringt auch hier nur die Durchsetzung internationaler Standards, die eine einheitliche Schnittstelle für den Zugriff auf unterschiedliche Datenbanksysteme definieren. Dies und die Anwendung von Client-Server-Konzepten werden es ermöglichen, dem Endbenutzer auf seinem lokalen Computer eine Recherche-Software zur Verfügung zu stellen, die für die Vielfalt der Katalogdatenbanken eine einheitliche Oberfläche anbietet.
3. Dokumentenlieferung: So erfreulich es auch ist, heute auf nahezu beliebige Bibliothekskataloge zugreifen und die gesuchte Literatur finden zu können - die Ernüchterung folgt immer dann, wenn das gefundene Dokument auch beschafft werden muss. Es folgt der Gang zur lokalen Bibliothek und - wenn das Dokument hier nicht vorhanden oder gerade ausgeliehen ist - die oft langsame Mühle des interbibliothekarischen Leihverkehrs. Dass es auch anders gehen kann, demonstriert seit einigen Jahren die ETH-Bibliothek. Die Akzeptanz von ETHICS bei den Benutzern ist auch der Tatsache zu verdanken, dass via Telekommunikation nicht nur der Katalog abgefragt, sondern direkt auch Bestellungen aufgegeben werden können und die gewünschten Dokumente per Post zugeschickt werden!
4. Online-Publishing - auf dem Weg zur digital library: Die wichtigste Herausforderung für die Bibliotheken stellt zweifellos die rasante Entwicklung des elektronischen Publizierens dar: Immer mehr werden aktuelle wissenschaftliche Informationen nicht mehr über Zeitschriften oder andere Printmedien, sondern (dank Internet) elektronisch und online verbreitet. Bisher ist diese Entwicklung an den Bibliotheken weitgehend vorbeigegangen. Einerseits stellen elektronische Publikationen die traditionelle Funktion der Bibliotheken als Vermittler in Frage: Auf digitalisierte Informationen können die Benutzer direkt zugreifen. Andererseits: Wer heute durchs Internet surft, sieht sich vor allem mit dem Problem konfrontiert, Wege zu den für die eigene Fragestellung relevanten und aktuellen Informationen zu finden. Hier könnten die Bibliotheken ihre Erfahrung und fachliche Kompetenz ausspielen, wenn es darum geht, das Weltwissen zu ordnen und überschaubar zu machen. Das Stichwort dafür ist die digital library. Neue Formen des Nachweises von Dokumenten und bibliothekarischer Dienstleistungen sind zu entwickeln; Standards für die Speicherung, Identifizierung und den Zugriff auf elektronische Dokumente müssen sich international durchsetzen, das Problem des Urheberrechts stellt sich neu, die Finanzierung dieses Systems ist zu klären, um nur einige Beispiele zu nennen.
Wenn die Bibliotheken auf dem zukünftigen Markt der Informationsversorgung nicht in eine sukzessive unbedeutender werdende Nische abgedrängt werden wollen, müssen sie aktiv werden. Einzelne Bibliotheken oder Verbünde werden dazu aber allein nicht in der Lage sein. Diese Herausforderung ist eine Aufgabe, die nur gemeinsam angepackt werden kann - eine schweizerische Bibliothekspolitik, die diese Anstrengungen koordiniert, die Kräfte bündelt und die notwendigen Ressourcen bereitstellt, ist deshalb das Gebot der Stunde.
von Josef Wandeler
Dr. phil. Josef Wandeler ist Mitinhaber der Trialog AG, die auf die konzeptionelle, organisatorische und technische Beratung von Bibliotheken, Archiven und Dokumentationsstellen spezialisiert ist.