unimagazin Nr. 2/98

Die mediale Konstruktion der Wirklichkeit

Wir wollen informiert sein – und die Print- und Bildmedien bedienen uns rund um die Uhr. Welche medialen Bearbeitungsprozesse durchlaufen aber Informationen, bevor sie zu uns gelangen? Welches Verzerrungspotential liegt in diesen Prozessen? Das sind zentrale Ausgangsfragen eines Forschungsprojekts, das mit kommunikations- und sprachwissenschaftlichen Kriterien Strategien und Risiken der heutigen Informationsvermittlung untersucht.

VON HARALD BURGER, THOMAS BAUMBERGER UND MARTIN LUGINBÜHL

10 vor 10«10 vor 10» vom 6. Januar 1998: «… die Genoffensive läuft.»

Wer schreibt die Zeitungsartikel? Wer macht die Moderationstexte für die Tagesschau, wer die Bilder für die Filmberichte? Scheinbar triviale Fragen.
Natürlich sind es die Journalistinnen und Journalisten, die die Texte und die Bilder machen. So sieht es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Wenn man genauer hinschaut, erkennt man manchmal, dass sie andere Personen, zum Beispiel Politiker, zitieren. Weniger leicht kann man wahrnehmen, dass die Journalisten Texte anderer Journalisten benutzen, zum Beispiel Texte der Schweizerischen Depeschenagentur. In der Zeitung verrät das Kürzel sda diesen Sachverhalt, FernsehensprecherInnen sagen fast nie, worauf sich ihr Text abstützt.

Und von wem stammt das, was der Moderator der «Tagesschau» sagt? Hat er es selbst geschrieben? Oder eine Redaktion, die ihm vorgibt, was er (nur) vorzulesen hat? Und wie steht es mit der Moderatorin von «10 vor 10»? Nur ein Blick hinter die Kulissen gibt Antwort auf solche Fragen, die Moderatorin selbst sagt es uns in der Sendung nicht.

Die richtige Sicht der Dinge?

Ein alltägliches Beispiel: Als der Bund anlässlich einer Medienkonferenz am 6. Januar 1998 die Bewilligung einer gentechnisch veränderten Maissorte (Bt176-Mais) mitteilte, hiess es in der entsprechenden Meldung der Schweizerischen Depeschenagentur unter anderem: «… sagte BAG-Vizedirektor Urs Klemm vor der Presse in Bern.» Im «Anzeiger von Uster», der diese Agenturmeldungübernahm, heisst es dann nur noch: «… sagt Urs Klemm, Vizedirektor des Bundesamtes für Gesundheit in Bern.» Durch diese Kürzung ist der Hinweis darauf verloren gegangen, dass der Anlass für die Berichterstattung eine Medienkonferenz gewesen war, in der die wichtigsten Informationen für die Medientexte bereitgestellt wurden.

Aus verschiedenen Studien weiss man bereits, dass in vielen Fällen die …ffentlichkeitsarbeit («public relations») von Institutionen, Parteien, Firmen usw. bestimmt, was in den Massenmedien berichtet wird. Medienberichte beruhen oft nicht auf Eigenrecherche von Journalistinnen und Journalisten, sondern entstehen im Anschluss an Medienkonferenzen, basieren auf Pressemitteilungen oder Agenturmeldungen, die ihrerseits wieder auf Texte aus der …ffentlichkeitsarbeit zurückgehen können. Dabei gelingt es den Interessenvertretern oft, nicht nur die Themen und den Zeitpunkt der Berichterstattung zu bestimmen, sondern auch ihre Sicht der Dinge in die Medien zu transportieren.

Im Forschungsprojekt «Sprachliche Konstruktion der Wirklichkeit durch Medien: Strategien und ihre Risiken» sollen diese Erkenntnisse in einen allgemeineren Rahmen gestellt werden, und es soll mit kommunikations- und sprachwissenschaftlichen Kriterien untersucht werden, welches die typischen Wege sind, die Texte zum Beispiel von einer Pressekonferenzüber die Agenturmeldung zu den Zeitungen, zu Radio und Fernsehen durchlaufen, und in welchem Masse in den Medientexten zum Ausdruck kommt, auf welchen Vorlagen sie basieren.

Ferner geht es um die Frage, welche Veränderungen bei die-sem Parcours durch die Medien charakteristischerweise vorgenommen werden, insbesondere wie die Bewertungen von Ereignissen oder Sachverhalten sich unter Umständen verändern und wie sich die Perspektiven verschieben (können), unter denen die Ereignisse dargestellt werden.

Der Gang der Dinge

Ein normaler Ablauf bei einem wichtigen Ereignis kann so aussehen: Ein Bundesamt oder eine Firma lädt zu einer Medienkonferenz ein. Vor der eigentlichen Konferenz werden unterschiedlich umfangreiche Materialien abgegeben, darunter auch immer eine Medienmitteilung, die in den meisten Fällen bereits wie ein Zeitungstext verfasst ist. An der Medienkonferenz selbst werden die zentralen Punkte dessen, worüber informiert werden soll, vom Veranstalter erläutert. Im Anschluss daran können die Medienvertreter Fragen stellen.

Ist der offizielle Teil einer solchen Konferenz abgeschlossen, werden die Veranstalter meistens von den Journalistinnen und Journalisten belagert. Diese wollen zusätzliche Fragen beantwortet haben, und die Vertreter der elektronischen Medien wollen meist Kurzinterviews durchführen und diese aufzeichnen.

Im Anschluss an die Medienkonferenz verfassen sie dann ihre Berichte, wobei in der Regel auch schon die ersten Reaktionen von Interessenverbänden, Parteien usw. berücksichtigt werden. Diese Reaktionen liegen meist sehr rasch vor.

An der Medienkonferenz vom 6. Januar 1998 wurde den Medienvertretern sogar unmittelbar anschliessend an die Veranstaltung die Medienmitteilung des WWF in die Hand gedrückt. Normalerweise werden die Reaktionen im Laufe des Tages den Redaktionen zugestellt oder von den Journalisten (meist telefonisch) eingeholt.
Das Radio berichtet gewöhnlich als erstes Medium, meist in der ersten Nachrichtensendung nach der Medienkonferenz. Die Agenturen produzieren nach einer ersten Kurzmeldung laufend weitere, oftmals um Details, Hintergründe und Reaktionen ergänzte Fassungen. Den Abschluss bei den Agenturen macht in der Regel eine Tageszusammenfassung.

Transparenz der Autorenschaft

Vor allem kleinere, regional ausgerichtete Zeitungen verwenden für ihre nationale Berichterstattung Agenturberichte. Normalerweise werden längere Agenturberichte aber nicht eins zu eins in die Zeitungübernommen, sondern es wird gekürzt, hier und da neu formuliert, neue Schlagzeilen und Zwischentitel werden gesetzt.
Will man als Rezipient nun wissen, wer innerhalb eines Beitrages für welche Formulierungen verantwortlich ist, wer der «Autor» eines Textes oder einzelner Textpassagen ist, so findet man ganz unterschiedliche Hinweise (vom Namen des Journalistenüber sein Kürzel bis zum Kürzel der Nachrichtenagentur) – oder auchüberhaupt keinen Hinweis, wie es häufig in der Boulevardpresse, aber auch bei kürzeren Meldungen der elektronischen Medien der Fall ist.

Innerhalb eines Zeitungsberichtes können einzelne Zitierungen als solche markiert werden, etwa durch Anführungszeichen und Formulierungen wie «sagte Arthur Einsele, Pressechef von Novartis Seeds». In Berichten der elektronischen Medien ist bei der Verwendung von Originalbildern oder -tönen meist klar, wer gerade spricht. Doch werden für den redaktionellen Text meist Presseunterlagen und Agenturmeldungen verwendet, ohne dass dies transparent gemacht würde.

Ein wichtiger Bestandteil des Forschungsprojekts besteht darin herauszufinden, welche Vorstellungen die Rezipientenüber die «Autorschaft» des Medientextes haben, ob sie mit den zum Teil verklausulierten Hinweisen in den Textenüberhaupt etwas anfangen können, ob sie sich mehr Transparenz wünschen würden usw.
Auch wenn sich herausstellen sollte, dass die Rezipienten gar nichts auszusetzen haben an den Praktiken der Medien, so ist aus medienkritischer Perspektive die Frage nach der Transparenz der Autorschaft unabweisbar. Denn nur wenn man weiss, wie es um die Autorschaft steht, kann man ermessen, von wem welche Bewertungen der Sachverhalte stammen, wer die Verantwortung trägt für die «Konstruktion» der Wirklichkeit, also dafür, dass den Rezipienten die Wirklichkeit auf diese und keine andere Art vorgeführt wird und dass ihnen gerade diese und keine andere Bewertung nahegelegt wird.

Die Präsentation

In den elektronischen Medien ist es vielfach nicht die Redaktion selber, die Bewertungen formuliert, sondern manüberlässt das Bewerten den zitierten Personen und Institutionen. So erhält man im Journalbeitrag der Sendung «Echo der Zeit» (DRS) vom 6. Januar zunächst die folgenden knappen Informationen: «In der Schweiz ist künftig auch Genmais zugelassen. Das Bundesamt für Gesundheit entschied, dass der gentechnisch veränderte Mais von Novartis als Futter- und Nahrungsmittel importiert werden darf. – Allerdings gibt es strenge Auflagen.» Anschliessend werden die Reaktionen von Novartis, Migros, Coop, der Stiftung für Konsumentenschutz, von Umweltorganisationen, politischen Parteien usw. zusammenfassend dargestellt. Im Unterschied dazu haben die Printmedien am nächsten Tag meist ein Ensemble von mehreren Berichten und redaktionellem Kommentar zum Thema abgedruckt.

Auch innerhalb eines Mediums kann es im Hinblick auf die Bewertung grosse Unterschiede geben. Diese können zum Beispiel vom Konzept einer Sendung abhängen. So unterscheidet sich die Berichterstattungüber die Maisbewilligung der «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens DRS stark von der Berichterstattung des Informationsmagazins «10 vor 10».

Der Bericht der «Tagesschau» enthält fast keine direkten Bewertungen, im grossen und ganzen wird die Position des Bundesamtes wiedergegeben. Durch die Anordnung der Statements bekommt der Beitrag eine leichte Gewichtung in Richtung Befürworter, ohne dass aber Moderator und Reporter selber klar Position beziehen.

In «10 vor 10» hingegen wird deutlich aus der Perspektive der Konsumenten berichtet, die ja bekanntlich genmanipulierte Produkteüberwiegend ablehnen. Dies geschieht wiederum nicht durch direkte Bewertungen des Journalisten, sondern durch weniger explizite sprachliche Mittel. So wird das Ereignis mit sprachlichen Bildern aus dem Bereich des Krieges dramatisiert («die Gentechnologie ist auf dem Vormarsch», «die Genoffensive läuft», «die Konsumenten zittern»), Novartis wird leicht zwielichtig dargestellt («Novartis, der Agrar- und Chemiemulti, reibt sich schon die Hände»), und die Gegnerschaft wird unkommentiert zitiert («Die Gegnerschaft ist empört und spricht von einem Kniefall vor der Wirtschaft.»).

Es sind also nur zu einem Teil die Journalisten der Tageszeitung, die Redaktionen der Radionachrichten oder der Tagesschau, die die Texte verfasst haben, die wir lesen und hören. Gleichwohl sind sie es, die ihre Perspektive zur Geltung bringen und aus ihrer Sicht Wertungen vornehmen, die also diejenige «Wirklichkeit» zeichnen, die wir als Rezipienten wahrnehmen sollen.


Harald Burger (hburger@ds.unizh.ch) ist Professor für Deutsche Sprachwissenschaft (Deutsches Seminar), Thomas Baumberger (tbaum@ds.unizh.ch)  und Martin Luginbühl (mluginbu@ds.unizh.ch) sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Deutschen Seminar.


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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 09.08.98