unimagazin Nr. 2/98

Wir werden immer älter, aber geht es uns auch gut dabei?

Die neunziger Jahre scheinen keine gute Zeit für eine neue Bundesverfassung zu sein. Die Nachführung bringt zwar Verbesserungen, aber institutionelle Reformen werden aufgeschoben. Gibt es denn eine «gute Zeit» für eine Verfassungsreform? Und was müsste in sie aufgenommen werden? Einer, der es wissen muss, ist der Zürcher Staatsrechtsprofessor Alfred Kölz. Zusammen mit seinem Berner Kollegen Jörg Paul Müller hat er vor 14 Jahren erstmals einen privaten Verfassungsentwurf der Öffentlichkeit vorgestellt. Christine Tresch hat mit Alfred Kölz gesprochen.

Alfred KölzAlfred Kölz: «Das Parlament will die Demokratie nicht ausweiten.»

Herr Kölz, was muss man mitbringen, um eine Verfassung entwerfen zu können? Juristisches Handwerk scheint vorausgesetzt, aber braucht es auch so etwas wie «Kunst», ein Gespür?

Alfred Kölz: Man muss das Gefühl für die politischen Strukturen haben und sich auch überlegen, wo man überhaupt Reformchancen hat. Dann muss man versuchen, diese Reformideen in eine harmonische Verbindung mit dem geltenden Recht zu bringen. Das ist wahrscheinlich ein Abwägen, das mehr ist als nur Juristerei.
Mein Kollege Jörg Paul Müller und ich hatten beim Verfassen unseres Entwurfs ein seltenes Einverständnis über diejenigen Punkte, in denen man etwas bewegen kann oder müsste. Auch bei den Formulierungen fanden wir rasch Lösungen. Zudem sind wir in keine Partei eingebunden. Wir stehen politisch gesehen in der progressiven Mitte. Das erklärt auch, weshalb keine Partei unseren Entwurf voll unterstützt. Das macht auch nichts, denn eine Verfassung kann nicht einfach einer Partei dienen.

Kann man sagen, dass es gesellschaftliche Verhältnisse gibt, die eine Verfassungsreform befördern, und Zeiten, in denen man zufrieden ist mit dem bereits Bestehenden?

Für eine wirkliche Verfassungsreform, etwas anderes, als was mit der derzeitigen Nachführung geschieht, braucht es beinahe historische Sternstunden. Sie treten in glücklichen Situationen ein, meist in Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität, verbunden mit einer Emanzipationsbewegung.

1874, als die heute noch gültige Verfassung zustande kam, bestanden wirtschaftliche Prosperität und Wachstum. Die Emanzipationsbewegung der bürgerlichen Kräfte gegenüber den alten, aristokratisch konservativen und kirchlichen Strukturen begünstigte damals die Verfassungsgebung enorm. Dazu wurde in ganz Europa das Nationalgefühl immer stärker. Dies nutzten die damaligen Verfassungsgeber geschickt aus.

Heute haben wir diese Situation nicht mehr. Die wirtschaftliche Krisensituation seit Anfang der neunziger Jahre erschwert die Schaffung neuer Verfassungsstruk-
turen. Ich warte darauf, dass das wieder ändert, das sind Zyklen.

Die sechziger und siebziger Jahre waren Zeiten von Prosperität und Emanzipationsbewegungen gewesen – die Jahre nach 1968, vor allem der Aufbruch neuer sozialer Bewegungen, insbesondere der Frauenbewegung. Warum ist es der damaligen Expertenkommission um Bundesrat Kurt Furgler trotzdem nicht gelungen, ihren Verfassungsentwurf durchzubringen?

Zum einen war das gewählte Verfahren nicht besonders geschickt. Man hat in der Expertenkommission zuwenig praktische Politiker eingesetzt, den Föderalismus zuwenig gewichtet und sich zuwenig um wirtschaftliche Fragen gekümmert. Und man hat mangels genügender Geschichtskenntnisse vieler Mitglieder dieser Expertenkommission zuwenig berücksichtigt, dass in der Schweiz Verfassungsbewegungen nur dann eine Chance haben, wenn sie die Demokratie verbessern. Denn die Demokratie ist der Grundpfeiler der schweizerischen Staatsorganisation. Der «Entwurf Furgler» war aber im Bereich der Demokratie äusserst schmalbrüstig. Der Reformbedarf der demokratischen Institutionen des Bundes wurden darin zu wenig berücksichtigt. Der Entwurf hatte, wie zum Teil die Helvetische Verfassung 1798 auch, etwas aufklärerisch-elitäre Züge.

Jörg Paul Müller und Sie haben 1984, nach dem Scheitern des «Entwurfs Furgler», mit Ihrem privaten Verfassungsentwurf versucht, die Diskussion in Gang zu halten. Und Sie haben Ihren Entwurf 1990 und 1995 den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst. 1984 war die AKW-Diskussion aktuell und das Waldsterben: Ihr Entwurf setzte ökologische und energiepolitische Akzente. 1990 standen die Fichenaffäre und der Rücktritt von Bundesrätin Kopp auf der innenpolitischen Agenda: Sie nahmen den Datenschutz in die Überarbeitung auf und eine Reform der Parlaments- und Regierungsstrukturen. 1995 schliesslich – die Alpeninitiative war ein Traktandum genauso wie die Transitfrage – schlugen Sie die Schaffung einer Landschaftsschutzkommission vor, eine leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe. Haben Verfassungsentwürfe also bei all ihrer Statik auch etwas Zeitgeistiges?

Ja. Verfassungen müssen in einer lebendigen Demokratie auch aktuelle Probleme aufgreifen, nur schon damit überhaupt eine Diskussion in Gang kommt. Man kann zwar sagen, wenn zu viele aktuelle Probleme in einer Verfassung verarbeitet werden, veralte sie rascher, als wenn bloss die Strukturen der Institutionen darin verankert sind. Aber die Schweiz verfügt im Gegensatz zu den meisten anderen Staaten der Welt über ein ausgesprochen aktualisierendes Verfassungsverständnis.
Diese Tradition geht weit ins 19. Jahrhundert zurück. Die Kampfartikel im Verhältnis Staat und Kirche und erste sozialpolitische Elemente waren vor 1874 enorm wichtige Themen, und das Interesse der Bevölkerung an der Verfassungsrevision wurde dadurch auch geweckt. Es waren natürlich zentral politische Probleme, vergleichbar ökologischen Problemen oder Aspekten des Persönlichkeitsschutzes heute.

Manche Ihrer Vorschläge liegen im Trend, andere werden vielleicht weniger laut diskutiert. So haben Sie schon in Ihrem Entwurf von 1984 eine Parlamentsreform vorgeschlagen.

Es stimmt, unsere Neuerungsvorschläge im Bereich der Demokratie sind damals im Verhältnis zu den ökologischen Vorschlägen zu wenig beachtet worden. Wir sahen schon 1984 eine Reform des Bundesrates vor, samt Erhöhung der Zahl der Bundesräte und Abschaffung der Kantonsklausel. Wir waren auch der Meinung, dass Parlamentarier, die sich sehr stark im National- oder Ständerat einsetzen, besser entschädigt werden und bessere Arbeitsbedingungen erhalten müssen, dass überhaupt das Parlament aufgewertet werden muss, denn dort befinden sich unsere wichtigsten Gesetzgeber. Schweizer und Schweizerinnen neigen gerne zur Auffassung: Wir haben ja das Referendum und die Initiative, das Parlament können wir schwach ausgerüstet lassen. Aber das Parlament ist nach wie vor ein Zentralstück der Demokratie. Unsere Reformvorschläge haben aber im «Verfassungsentwurf Koller» keinen Niederschlag gefunden.

Genauso wie Ihr Vorschlag eines Verwaltungsreferedums oder der Reform der Volksrechte?

Ein weniger wirksames Verwaltungsreferendum, als wir es in unserem Entwurf vorschlagen, findet sich zwar auch im «Entwurf Koller», aber das Parlament will hier die Demokratie nicht ausweiten. Genauso wenig wie es die Gesetzesinitiative will, die wir vorgesehen haben.

Wir haben auch die Einführung einer sehr zurückhaltenden Verfassungsgerichtsbarkeit vorgesehen. Das Bundesgericht sollte nach unseren Vorstellungen Bundesgesetze nach Verfassungs- und Völkerrechtskonformität überprüfen können. Das ist zwar in den «Entwurf Koller» aufgenommen worden, aber gleichzeitig will man im Reformpaket «Justiz» den Zugang zum Bundesgericht abbauen und mit einer allgemeinen Klausel den Rechtsanspruch der Bürgerinnen und Bürger, an das Bundesgericht gelangen zu können, massiv beschränken. Da stecken teilweise Prestige- und Machtgründe dahinter. Die Bundesrichter wollen ihre Kapazität nicht erhöhen und sind gegen eine Erhöhung der Zahl der Bundesrichter.

Und der Bundesrat reagiert nicht?

Einzelne Bundesrichter erstrebten und gewannen zuviel Einfluss auf die Verfassungs- und Gesetzgebung, und im Parlament sind viele gegenüber einem Ausbau der Justiz skeptisch. Von ganz rechter Seite hört man seit Jahren polemische Schlagworte: Wir hätten einen Rechtsmittelstaat, und die Rechtsmittel würden unabhängig von ihren Erfolgschancen ergriffen.

Es stimmt zwar, das zu viele aussichtslose Prozesse geführt werden, doch das ist auf der ganzen Welt so. Andrerseits gibt es halt, weil wir so viele Juristinnen und Juristen ausbilden müssen, mehr Anwälte und Prozesse. Aber den Zugang zur Justiz einfach generell zu beschränken aus der Überlegung heraus, es dürfe nicht mehr als dreissig Bundesrichter geben, das ist für mich untragbar. Und der Entlastungseffekt dürfte sich in engen Grenzen halten, weil in einer aufwendigen Pararechtssprechung jeweils über den Zugang von Rechtsuchenden zu entscheiden ist.

Sie betonen immer wieder, dass unsere demokratische Tradition eine genossenschaftliche Tradition ist, die sehr weit zurückgeht in die Geschichte der Eidgenossenschaft.

Anfänge eines republikanischen Denkens reichen in der Schweiz tatsächlich bis ins Spätmittelalter zurück. Die modernen demokratischen Institutionen haben wir aber aus dem atlantischen Raum rezipiert, vor allem aus Frankreich und den USA, das muss man klar sehen. Wir haben sie jedoch wegen dieser genossenschaftlichen Demokratietradition grundlegend rezipiert. Die ausländischen demokratischen, rationalen Institutionen sind bei uns quasi auf fruchtbaren Boden gestossen.

Die Stärkung der demokratischen Strukturen ist ein zentrales Anliegen Ihres Verfassungsentwurfs. Haben Sie denn den Eindruck, dass ein Thema wie die Demokratiefrage die Bevölkerung heute noch interessiert?

Mit Bestimmtheit. Und auch im gesamteuropäischen Ausland wird die Verbesserung der demokratischen Institutionen eines der Haupttraktanden der Staatsreform bleiben, noch prioritärer, weil mit ihnen zunehmend wirtschaftliche Probleme bewältigt werden müssen.

Ihr Verfassungsentwurf geht davon aus, dass grundsätzlich das föderalistische Prinzip gestützt wird und der Bund die Aufgaben übernimmt, die von den Kantonen nicht erledigt werden können. Wie sehen Sie das perspektivisch mit der finanziellen Situation der Kantone und des Bundes. Können die Kantone ihre verfassungsmässigen Aufgaben in Zukunft noch erfüllen?

Die Kantone verfügen jetzt schon nicht mehr über die Mittel, um all ihre Aufgaben erfüllen zu können. Und mit drastischen Steuererhöhungen kann man gegenwärtig überhaupt nicht arbeiten. Man müsste wahrscheinlich den interkantonalen Finanzausgleich stärken, um denjenigen Kantonen, die in schweren wirtschaftlichen Problemen stecken, zu helfen, ihre Aufgaben zu erledigen. Ich denke vor allem an die Westschweizer Kantone, das Wallis und Bern.

Was bedeutet die europäische Gemeinschaft für die ganze Verfassungsdiskussion? Gibt es bald eine europäische Verfassung?

Die gibt es schon, nur nicht im Sinne eines geschlossenen Dokumentes, sondern als Vertragsgeflecht von Bestimmungen, die für die jetzigen Mitglieder Verfassungscharakter haben. Es wäre meines Erachtens zu wünschen, wenn es eine europäische Verfassung geben würde, die dieses Vertragsgeflecht zusammenfasst. Es wäre aber ganz zentral, dass die Bevölkerung in einen solchen Verfassungsgebungsprozess eingebunden wird. Es müsste also in den Mitgliedsstaaten der europäischen Union die Möglichkeit eines Verfassungsreferendums geben.

Es ist meines Erachtens auch nicht damit zu rechen, dass die Substanz der Nationalstaaten massiv schwindet. Das wäre angesichts der enormen kulturellen und mentalitätsmässigen Unterschiede der europäischen Staaten auch nicht sinnvoll. Man darf auf keinen Fall Europa mit den USA vergleichen.

Würden dann die nationalen Verfassungen überflüssig?

Auf keinen Fall. Wir haben ja in der Schweiz auch einen Prozess gehabt, 1848 und 1874. Damals hatten die Kantonsverfassungen noch grössere Bedeutung als heute, und die Bundesverfassung wurde einfach über die Kantonsverfassungen gestellt. Solches ist in Europa denkbar. Wobei die europäische Verfassung viel weniger zentralisierend und vereinheitlichend wirken könnte als etwa unsere Bundesverfassung von 1874. Das gemeineuropäische Verfassungsdenken ist noch nicht so weit entwickelt, wie es das gemeineidgenössische Verfassungsdenken vor 125 Jahren war.

Die Nachführung der Bundesverfassung wird über die Bühne gehen und dann dem Volk vorgelegt. Geben Sie dem Projekt eine Chance?

Ja, das Projekt der Nachführung soll und kann man machen. Mit dem Vorbehalt, dass man, wenn die Reform an der Urne eine Mehrheit findet, nicht meinen soll, wir hätten jetzt die Bundesverfassung revidiert und können wieder zwanzig, dreissig Jahre warten. Der Nachführungsentwurf, so wie er jetzt ist, ist deutlich besser als die geltende Bundesverfassung, weil in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Bereichen ohne formelle Verfassungsänderungen Verbesserungen zustande gekommen sind, welche nun in der Nachführung verankert sind. Aber die institutionellen Reformen, die jetzt verschoben worden sind, müssen weiterbearbeitet werden. Das ist ein Auftrag, den ich nicht nur als privater Verfassungsentwerfer sehe, sondern auch für Bundesversammlung und Bundesrat.

Ich gehe also davon aus, dass die Nachführung eine Mehrheit finden wird. Bei den Reformpaketen «Justiz» und «Volksrecht» bin ich viel skeptischer, wenn man so ungeschickt arbeitet wie jetzt. Beim Reformpaket «Volksrechte» gibt es ähnlich wie beim «Entwurf Furgler» kaum Forschritte. Da gibt es praktisch nichts Besseres als das, was schon existiert.

Sie haben, was die Reform Ihres Entwurfs betrifft, bisher einen Vier- bis Fünfjahresrythmus eingeschlagen. Ist auf die Jahrtausendwende hin eine Neuauflage Ihres Verfassungsentwurfs zu erwarten, oder geht Ihnen bald der Schnauf aus?

An Schnauf fehlt es mir nicht, ich stand erst letztes Jahr noch auf dem Montblanc. Es ist gut möglich, dass wir aufgrund des Nachführungpaketes eine vierte Auflage ausarbeiten werden, um zu zeigen, wo man weiterarbeiten muss. Man sieht jetzt ja auch im Parlament einen sehr interessanten Prozess: Engagierte Leute wollen im Rahmen der Nachführung ständig Reformen einbringen. Ihnen sagt Bundesrat Koller jeweils: Das dürft ihr jetzt nicht, sonst scheitert das Ganze.

Wir haben lernen müssen, dass strukturelle, wirklich tiefgehende Neuerungen sehr lang brauchen, bis sie endlich in die politische Praxis umgesetzt werden können. Wir sind geduldig und hoffen, dass unsere Initiative Früchte tragen wird. Ich darf an die Verfassungsentwürfe aus dem Jahre 1833 von I.P.V. Troxler, James Fazy und anderen erinnern. Damals dauerte es fast zwanzig Jahre, bis deren Ideen sukzessive Wirkung zu zeigen begannen. Und die meisten Reformer zur Zeit der Helvetik von 1798 waren unter dem Boden, als 1848 nur ein Teil ihrer Ideen in die Praxis umgesetzt wurde.


Der Verfassungsentwurf

«Die gegenwärtige Verfassungslage in der Eidgenossenschaft veranlasst uns, mit einer überarbeiteten Neuauflage des Entwurfs an die Öffentlichkeit zu treten» schreiben Alfred Kölz und Jörg Paul Müller im Vorwort der dritten Auflage zu ihrem Verfassungsentwurf.

In der Präambel verzichten sie nicht auf die Anrede «Im Namen des Allmächtigen», aber mit der Absicht «ein Gemeinwesen zu gestalten, in dem die Menschen solidarisch in einer gerechten Ordnung zusammenleben» werden bereits deutliche inhaltliche Akzente gesetzt. Die 122 Artikel der Verfassung sind in fünf Teile gegliedert, die Bundeszweck und Grundrechte, das Verhältnis von Bund und Kantonen, die Organisation des Bundes, die Eidgenossenschaft im internationalen Verhältnis sowie Verfassungsrevision und Schlussbestimmungen regeln.

Der Stämpfli Verlag Bern hat noch wenige Exemplare des Entwurfs zum Preis von 14 Fr. an Lager.


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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 09.08.98