unimagazin Nr. 2/98

Das Quartier als Spannungsfeld

Die Zürcher Hard ist ein Quartier der kleinen Leute geblieben. Verändert hat sich in den letzten Jahrzehnten aber die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung. Schweizer und Ausländer halten sich heute die Waage, die ausländische Bevölkerung ist jedoch deutlich jünger als die schweizerische. Die Hard und ihr soziales Kräftefeld ist Teil eines Nationalfondsprojekts zum Thema «Integration – Segregation».

VON DIETER KARRER

Quartier (35242 Byte)Die Zürcher Hard ist ein Wohnquartier geblieben mit einem grossen Anteil an Genossenschaftswohnungen.

Die Hard ist ein Teil von Zürich. Wer hier wohnt, hat aber nicht das gleiche Zürich wie ein Bewohner von Hottingen zum Beispiel.

Das Quartier Hard gehört zum Kreis vier, zum «Chreis Cheib», wie das benachbarte Langstrassenquartier. Die Hard ist jedoch nicht die Langstrasse – ein Unterschied, auf den viele Bewohner vor allem dann Wert legen, wenn sie von aussen mit ihrem tiefen Mitgliedschaftsstatus konfrontiert werden. Nicht nur Berufe, auch Wohnorte klassifizieren.

Sozialer Abstieg

Die Hard ist traditionell ein Arbeiterquartier, wo früher viele Handwerker und Eisenbahner wohnten. Und ein Quartier der «kleinen Leute» ist die Hard bis heute geblieben, auch wenn sich ihr soziales Profil gewandelt hat und neben Arbeitern und einfachen Angestellten auch vermehrt Studenten und Angehörige soziokultureller Berufe (vorübergehend) hier leben.

Im Unterschied zur Langstrasse hat die Hard den Charakter eines Wohnquartiers erhalten, was auch mit dem relativ hohen Anteil an günstigen Genossenschaftswohnungen zusammenhängt. Die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung hat sich in den letzten Jahrzehnten aber grundlegend verändert. Viele Schweizer, vor allem Familien mit Kindern, sind weggezogen, während die Zahl der Menschen mit ausländischem Pass stark zugenommen hat. Bis Anfang der siebziger Jahre lag der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung in der Hard noch unter dem städtischen Durchschnitt, 1996 war er mit 47,6% erstmals sogar höher als im Langstrassenquartier.(*)

Verändert hat sich nicht nur die Zahl, sondern auch die Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung: Viele Angehörige status höherer bzw. aufgestiegener Nationalitäten – Italiener zum Beispiel – sind weggezogen, statustiefere, Jugoslawen oder Türken zum Beispiel, zugezogen. Diese ethnischen Gruppen finden sich innerhalb der Hard an den «schlechtesten Orten» wieder.

Die Unterschiede zwischen Schweizern und Ausländern werden verstärkt durch Altersunterschiede: Die ausländische Bevölkerung ist nicht nur deutlich jünger als die schweizerische, auch der Anteil der Kinder ist höher. Die Zukunft liegt also gewissermassen auf seiten der Ausländer, die Vergangenheit auf der Seite der Schweizer. Das verleiht Geschichten wie der folgenden, die ich in verschiedenen Variationen gehört habe, in den Augen vieler Alteingesessener ihre besondere Bedeutung:
«Oder zum Beispiel, da ist ein Lichtsignal (…), da sind mal drei ausländische Frauen mit Kopftüchern … sind da einfach zugelaufen, es ist rot gewesen, die Autos sind angefahren und die sind einfach zugelaufen. Da habe ich gesagt, Sie, Sie können doch jetzt nicht durchgehen, Sie gefährden sich ja.«Heb du diis Muul zue, du häsch eus gar nüt z’säge, i feuf Jahr sind mir sowieso da Chef und säget was gaht».

Die Hard hat in den letzten Jahrzehnten einen sozialen Abstieg erlebt, der für viele Alteingesessene wohl auch deshalb besonders drückend ist, weil er mit ihrem Altwerden einhergeht.

Verlust der Ordnung

Für viele dieser Alteingesessenen war die Welt früher noch «in der Ordnung». In der Erinnerung von Frau R., die vorüber vierzig Jahren mit ihrem Mann in eine Genossenschaftswohnung gezogen ist, erscheint das Wohnquartier als eine saubere, geordnete Welt, wo jede und jeder seine Aufgabe hatte, wo man sich daheim fühlte, sich gegenseitig kannte und unterstützte. Und wo alle bereit waren, sich anzupassen. Das war für sie nicht nur eine Frage der Haltung, sondern ein Erfordernis des knappen Raumes, in dem man zusammenlebte. «So eng ineinander rein. Man muss sich doch auch anpassen, oder nicht? Und jedes kommt aus einem andern Haus.»

Ordnung war jedoch nicht einfach ein zentraler Wert, an dem man sich orientierte. Ordnung bildete innerhalb der Genossenschaft auch ein Kapital, mit dem man seine Wohnsituation verbessern konnte:

«Sie durften sich auf dem Büro melden und sagen, was Sie für einen Kummer haben und was Sie gern hätten. Und dann nach zehn Jahren durften Sie zum Beispiel nach oben. Aber nur wenn Sie eine ordentliche Person gewesen sind, nur ordentliche Leute hat man hinaufgenommen, sonst mussten Sie dort bleiben, wo Sie sind, wenn Sie der Wohnung nicht so Sorge getragen haben».

Heute ist alles anders. Die Garanten der Ordnung werden immer weniger: Viele sind weggezogen, manche sind gestorben. Und es sind Leute zugezogen, die sich nicht mehr an die herkömmliche Ordnung gebunden fühlen.

«In den letzten Jahren haben wir so einen Haufen Ausländer bekommen, oder. Das hat man halt schon nicht gern. Die Verwaltung, die wir heute haben, die nimmt zuviele Jugoslawen in die Wohnungen rein. Wissen Sie, die tun so wunderbar heilig, lieb und nett, und nachher passen sie sich halt gar nicht an. Ja, die passen sich doch nicht an, können Sie denken. Denen muss man zuerst sagen, was sich gehört».

Wenn sich Ausländer nicht an die Ordnung halten, dann verletzen sie nicht einfach eine zentrale Norm des alteingesessenen Milieus, sie stellen auch jenes spezifische Kapital in Frage, auf dem die Identität und der Status einer Arbeiterfrau wie Frau R. wesentlich beruht.

Verunsicherungen

Der Zusammenbruch der Ordnung zeigt sich für Frau R. exemplarisch an den Bewohnern eines Hauses gleich neben dem Laden, wo sie hin und wieder als Aushilfe arbeitet:

Ja, schauen Sie jetzt mal diese Hütte an. (…) Früher hat es aber noch andere Leute drin gehabt, die sind auch gestorben. Schauen Sie, ich bin jetzt auch wieder in dem Alter. Sind die gestorben, und die Stadt hat jetzt alles Ausländer drin. Alles, von zuunterst bis zuoberst, Katastrophe. (…) Wissen Sie, zum Beispiel diese Leute … das ist mal eine unkultivierte Gesellschaft. Die lärmen bis in alle Nacht und da schiessen sie manchmal, dass man die Polizei holen muss.

–     Schiessen?

–     Ja, wir wissen gar nicht wieso, da lassen sie so Knaller ab, sagen wir gegen Weihnacht oder sagen wir … eine Woche bevor der erste August kommt. Einfach katastrophale Leute. (…) Und drin, wenn sie ins Haus reinkommen, haben sie das Velo angebunden, damit es nicht gestohlen wird. Ein Dreck, ein Dreck. Jesses Gott (…) Und dann bringen sie immer die Abfallsäcke runter, bringen sie noch in den Laden rein und stellen sie einfach im Vorbeiweg ab. Das macht doch denen nichts. Müssen wir denen dann nachrennen. Und dann stehlen sie eben auch noch. Ist einer gekommen, jeh … ist einer gekommen und sagt, grüzi, der kann ja nicht anders reden, oder, ich kann seine Sprache ja auch nicht.Kaufen. Da sag ich: Was möchten Sie kaufen, was haben Sie da genommen? Grad zwanzig, ein ganzes Garett runtergenommen von dem Rechen, einfach runtergenommen. Da habe ich gesagt: Was wollen Sie?Kaufen?. Alles kaufen, da habe ich gemerkt, dass er es stehlen will. Er wollte davon. (…) Dann bringen sie manchmal kocheti War abe, die kaputt ist, wissen Sie, faul, faule Schüblig, alles treffen Sie in den Säcken und im Container drin, werfen sie in den Container rein, das ist der Container von der Firma, nicht ihrer. Der muss jede Woche sechzig Franken zahlen, um das zu leeren. (…) Wir müssen jeden Tag schauen, was sie wieder fortwerfen, hinstellen. Grausam. Also ich schäme mich für diese Frauen, was das für gruusigi Wiiber sind. So etwas Gruusiges kann man sich nicht vorstellen. Die müssen ja scheints eine Ordnung haben …

Die Aufrechterhaltung der Ordnung im und ums Haus ist in erster Linie Sache der Frau. Deshalb schämt sich Frau R. vor allem für die ausländischen Frauen. Und sie regt sichüber jene einheimischen, jungen Nachbarinnen auf, die sich auch nicht an die (Geschlechter-)Ordnung halten.

Wenn so eine jüngere Frau ins Haus kommt, dann macht sie nur das Minimalste, sie macht nicht das, was vorgeschrieben ist. Eine gewisse Ordnung muss sein. Sonst verlottert das Zeug alles, wie in Neapel, wo sie den Kübel aus dem Haus raus bringen und in eine Ecke rein werfen. Und das wollen die nicht machen. Können Sie denken, der Haushalt ist also nicht so wichtig, he. (…) Es ist schon mancher Mann weggelaufen, er wäre geblieben, wenn die Sache in der Ordnung gewesen wäre. (…) Eben, sie passen sich einfach nicht an, ob es jetzt Schweizer sind oder andere, sie passen sich nicht so an.

Werüber wenigökonomisches und kulturelles Kapital verfügt, für den kann «Ordnung» die Funktion eines leicht zugänglichen Ersatzkapitals annehmen, das man auch in der Beziehung zu jenen zugezogenen Schweizerinnen in die Waagschale werfen kann, die besser gebildet sind und sich andere Werte leisten können. Frau R. vermisst, dass man das Treppenhaus nicht mehr selber putzen muss, eine befragte Sozialwissenschafterin fand das höchst mühsam und ist froh, dass es abgeschafft wurde.

Auch hier ist es der Habitus, der das Habitat macht (Pierre Bourdieu). Deshalb kann man nominell am gleichen Ort leben, ohne real den gleichen Ort zu haben. Ist die ethnische Vielfalt jenen ein Graus, die sich ihre Nachbarn nicht aussuchen können, kann es für die andern gerade diese multikulturelle Buntheit sein, die sie anzieht – zumindest bis ihre Kinder eingeschult werden. Und was für die einen innerhalb ihres (alternativen) Milieus mit einem Zugewinn an Prestige verbunden sein kann: in einem «offenen» und nicht «bünzlig-schweizerischen» Quartier zu leben, ist den andern nur ein weiteres Zeichen ihrer Deklassierung.


«Und plötzlich haben wir niemanden mehr da»

Die Veränderung der Wohnbevölkerung hat auch die Kräfteverhältnisse innerhalb des kirchlichen Feldes verändert: Während die Zahl der Muslime stark zugenommen hat, ist jene der Christen zurückgegangen – auf Kosten der reformierten Gemeinde, die in den letzten Jahren einen eigentlichen Einbruch erlitten hat.

Ein reformierter Pfarrer:

«Als ich gekommen bin, sind etwa 4200 Menschen da gewesen in dieser Kirchgemeinde Zürich-Hard. Und jetzt sind wir glaub knappüber 2700. Also in zehn Jahren haben wir fast 1500 Leute. … Abgang gehabt. (…) Die Gemeinde … vor circa fünfzehn, zwanzig Jahren, da hat es nur so gewimmelt von Jungen. Man musste Jugendgottesdienste zweimal durchführen (…) Das ist etwas … also Wunderbares gewesen, da haben wir angefangen, Kontakt zu haben mit diesen Familien, es sind mehrere Kinder zur Sonntagsschule gegangen. Und die Familien sind auch in die Kirche gekommen, wir haben einen Kinderhütedienst gehabt, wir haben bis zu dreissig Kinder pro Sonntag in der Kinderhüte gehabt. Also, es hat nur so gewimmelt von Kindern, und man hat extra so einen Spielraum eingerichtet, also wirklich schön. Das ist noch heute da, aber es ist leider leer, oder. Und dann haben wir uns schon gefreut, ich habe so gerechnet, 70–80 % Sonntagsschüler haben wir. Und sobald diese Kinder in die Schule gekommen sind, sind diese Familien weggezogen. Und die Begründung ist gewesen: also erstens die Wohnlage. Zweitens: Es gibt Klassen von ausländischen Kindern, wo zum Teil pro Klasse nur zwei oder drei Schweizerkinder gewesen sind. (…) Und eben, haben so angefangen auszuwandern. Und plötzlich haben wir niemanden mehr da. Und jetzt haben wir so eine Situation, dass fünf oder sechs Sonntagsschüler kommen, und das ist wirklich alles. Also jetzt ist die Situation da bei uns, im Hardquartier, sehr schlecht, wenn es um reformierte Kinder geht. Wir haben da genug Kinder, aber das sind vor allem türkische Kinder und katholische Kinder. Da wimmelt es nur so von Kindern, aber es sind eben nicht reformierte. (…) Aber was soll man klagen, die Situation ist da so. Und die Menschen, die wir da auf den Friedhof begleiten, das ist auch eine Art Seelsorge (lacht etwas bitter), da kann man nichts machen.»
Diese Entwicklung hat den lebensweltlichen Unterschied zwischen Katholiken und Reformierten (weiter) verblassen lassen und die Zusammenarbeit der beiden Kirchgemeinden verstärkt. Die Unterscheidung zwischen Christen und Andersgläubigen ist aber bedeutsam geworden.


*    Diese Entwicklung wurde wesentlich beeinflusst durch den Bau der Westtangente, deren Verkehrsströme seit Anfang der siebziger Jahre das Quartier durchpflügen und die Lebensqualität in Teilen der Hard erheblich verschlechter haben. Ein Ausländer, der an der stark befahrenen Sihlfeldstrasse wohnt, meint auf meine Frage, ob man hier nachts schlafen könne: «Ja, mit Schutzfenstern. Diese Seite, die Fenster müssen immer zu sein. Am Morgen ganz früh kann man öffnen und am Abend spät. Sonst den Tag durch darfst du nicht. Zwei, drei Minuten, ein bisschen andere Luft, Fenster zu, sonst ist …»


Dr. D. Karrer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nationalfondsprojekt «Integration – Segregation: interkulturelle Beziehungen in Basel, Bern und Zürich», das unter Leitung von PD Dr. Andreas Wimmer durchgeführt wird


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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 30.07.98