Wie wirkt sich die multimediale Leseumgebung auf die Lese- und Schreibentwicklungen von Kindern und Jugendlichen aus? Diese Frage steht im Mittelpunkt des Nationalfondsprojekts «Literalität im medialen Umfeld».
VON ANDREA BERTSCHI-KAUFMANN UND HORST SITTA
Auszug aus Esthers Lesetagebuch
Ich habe mir gedacht, da Akte X auch im Fernsehen läuft, einmal einen Vergleich zwischen dem Buch und der Folge «Blut» zu machen. Mal schauen, wie weit das Ganze (Dialoge usw.)übereinstimmt.»
So lautet der Anfang einer Eintragung in Esthers Lesetagebuch. Ihren Vorsatz, den gesprochenen Text in der TV-Serien-Version auf seine Entsprechungen mit der Buchvorlage zuüberprüfen, hält sieüber längere Zeit durch: Esther «visioniert», liest nochmals nach und vergleicht sehr genau. Ob der Bildschirm die Geschichte «richtig» zeigt, wird hier an der vorangegangenen Lektüreerfahrung gemessen. An andern Stellen zeigt sich das Umgekehrte: neugierig und aufmerksam geworden durch die Präsentation am Bildschirm, holt sich die Jugendliche ein Buch, in das sie sich lesend und weiterschreibend vertieft.
Esther ist Schülerin einer der 26 Schulklassen (vom 1. bis 9. Schuljahr), die ihren Lese- und Schreibunterricht nach den Anlagen des Projekts «Literalität im medialen Umfeld» gestalten.
Leseerfahrung dokumentieren: Eine Schülerin beim Notieren in ihr Lesetagebuch.
Individuelle Lese- und Schreibanstösse
In ihren Lesestundenüben die Schülerinnen und Schüler nicht an isolierten und kanonisierten Lesebuchtexten; ihnen stehen vielmehr Klassenzimmer- oder Schulbibliotheken und Computereinrichtungen zur Verfügung. Im Angebot finden sie Klassiker und ganz neue Titel, teils «einfache Literaturen» mit grossen Schrifttypen, kurzen,überblickbaren Zeilen und sinntragenden Bildern, teils anspruchsvolle und dichte Texte, Sachbücher, Comics und Gedichtsammlungen, elektronische Bücher, das heisst CD-Rom-Versionen, die Geschichten erzählen und zur interaktiven Beteiligung auffordern, multimediale Nachschlagewerke und Internetprogramme: eine offene Auswahl unterschiedlicher Qualitäten und für verschiedene Ansprüche.
Entsprechend dem Alter der Kinder und Jugendlichen sind die Beispiele selbstverständlich unterschiedlich zusammengestellt, durchgehend ist aber das Prinzip des vielfältigen Angebots und der individuellen Wahlmöglichkeit. Die Kinder und Jugendlichen entscheiden sich jeweils für eine Lektüre, ziehen sich lesend zurück oder lesen seltener einander vor, beraten einander und machen in der Klasse aufmerksam auf Wichtiges, Neues und besonders Lesenswertes.
Ziel solcher Unterrichtskonzepte ist also nicht die Vermittlung lesepädagogisch bestimmter Stoffe, sondern die Unterstützung und Entwicklung interessegeleiteter Lese- und Schreiberfahrungen die Voraussetzung dafür, dass sich Identifikation aufbauen lässt mit dem, was Schrift vermitteln kann.
Lesetagebücher
Inwiefern die neuen Bildschirmmedien (wie CD-Rom und Internet) den Prozess der Schriftaneignung verändern, darüber gibt es bislang nur Vermutungen. Sie werden zwar oft mit Vehemenz und Überzeugung geäussert, es fehlen ihnen aber vorläufig die Grundlagen einer längeren und genauen Beobachtung: Auf der einen Seite steht die Befürchtung, der Schriftgebrauch am Bildschirm nivelliere und beschränke die sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Auf der andern Seite werden in den Computer und vorab in das Internet als das neue umfassende «Bildungsmedium» erstaunlich grosse Hoffnungen gesetzt.
Rückzug in die «Freie Lesestunde»
Auf der Grundlage bisheriger Forschungsarbeiten (Schön 1995; Sturm 1995) kann man allerdings davon ausgehen, dass der freie Zugang zu vielerlei Medien und die Möglichkeit, eigenen Themen und Interessen nachzugehen, für den Schrifterwerb besonders förderlich sind. Hier schliesst das Forschungsprojekt mit seinen besonderen Fragen an: Es untersucht die Wirkungen dieser multimedialen Leseumgebung für die Lese- und Schreibentwicklungen der Kinder und Jugendlichen.
Kernstück der Förderarbeit in der Praxis sind die offenen Klassenzimmerbibliotheken, die in sogenannt «Freien Lesestunden» genutzt werden, und die Lesetagebücher, in welchen die Kinder und Jugendlichen die gewählten Titel laufend notieren und ihre Leseeindrücke unmittelbar anschliessend schreibend dokumentieren.
Erzählend und weiterspinnend, kommentierend und reflektierend verarbeiten sie in den einzelnen Eintragungen ihre Lektüren und vermitteln damit auch Einblick in ihre Lese- und Schreibprozesse.
Die Tagebücher werden während knapp zwei Jahren, von 1997 bis 1999, geführt; in zeitlich engen Abständen geben sie Schrifterfahrungen und Verarbeitungsweisen verschiedener Altersgruppen wieder, sie zeigen Entwicklungen, Interessenbildungen, Sprünge und Stagnationen.
Als Sammlungen kontinuierlich geschriebener, authentischer Texte stehen die Dokumente deshalb im Mittelpunkt unseres Interesses. Zum einen lässt sich in ihnen ermitteln, welche Leseaktivitäten und welches Leserepertoire Kinder und Jugendliche aufbauen, wenn sie an ihre eigenen Medienerfahrungen anknüpfen und diese in die schulische Lesearbeit integrieren können. Zum andern sollen mit der linguistischen Analyse des umfangreichen Textmaterials (insgesamt dreihundert Lesetagebücher) die Schreib- und Erzählfähigkeiten in ihrer Entwicklung festgestellt werden.
Die Eintragungen in den Lesetagebüchern entstehen unmittelbar nach dem Lesen im Buch oder am Bildschirm. Bildschirmtexte sind oft mit Ton und Bild zu einem Hypertext verknüpft und präsentieren sich anders als Buchseiten. Besonders interessiert hier, in welcher Weise die sprachliche und visuelle Gestaltung der Vorlage die Schreiberin oder den Schreiber beeinflusst: die Wechselwirkung zwischen den Text- und Medienprodukten, die Heranwachsende aufnehmen und verarbeiten, und den Möglichkeiten und Mustern, die sie daraus für ihr eigenes Schreiben beziehen.
Was sich im Raum der Schule beobachten lässt, gibt auch Hinweise auf die Art der Entwicklung und der Vielfalt von Lese- und Schreibtätigkeiten und der Schriftkompetenzen in der «Mulitmedia-Gesellschaft». Und umgekehrt braucht die Schule die genauen Einsichten und Beobachtungen zum Lerngeschehen, vorab als Orientierungshilfen und Anregungen zur Gestaltung eines zeitgemässen und wirksamen Unterrichts.
Die Medienentwicklung eine Gefahr für die Schrift?
Dass Lese- und Schreibgewohnheiten einem für alle sichtbaren Wandel unterworfen sind, beklagen viele als «Untergang der Schriftkultur» wohl doch zu Unrecht. Die Bedeutung des gedruckten Textes wird zwar von neueren Angeboten der «Informations- und Unterhaltungsmedien» zurückgedrängt. Damit ist aber erst einmal festgestellt, dass sich Schrifterfahrungen verändern (Bonfadelli 1995, Schön 1998), nicht auch schon, dass sie im Rahmen umfassender kommunikativer Fähigkeiten weniger wichtig wären und auch nicht, dass sich mit der zunehmenden medialen Vielfalt geringere Anforderungen an Lese- und Schreibkompetenzen stellten.
Heranwachsende (und zunehmend mehr Erwachsene) sammeln ihre Leseerfahrungen inmitten eines zusehends grösser werdenden und sich verändernden Medienangebots. Schrift präsentiert sich in verschiedensten Verbindungen und Zusammenhängen (im Hypertext mit Ton und Bild anders als im klassischen Bilderbuch, im Sachbuch anders als auf der Homepage), der Umgang mit ihr wird laufend anspruchsvoller und vielfältiger.
Was sich für die einen Nutzerinnen und Nutzer als eine persönlich spannende oder beruflich bedingte Herausforderung darstellt, ist für andereüberhaupt nicht zugänglich, Schrift bleibt ihnen am Bildschirm ebenso wie auf dem Papier verschlossen. Dass der «funktionale Analphabetismus» in den vergangenen Jahren in den Industriestaaten ebenso zugenommen hat wie der Anteil der häufig Lesenden und Schreibenden, ist nur scheinbar ein Widerspruch und passt in diesen Zusammenhang. Mit den neuen Medien sind Lese- und Schreibfähigkeiten nicht weniger gefragt, hingegen ist die «Wissenskluft» zwischen den Bildungsschichten in unserer Gesellschaft grösser geworden.
Lesen und Schreiben sind gerade auch im Zusammenhang mit der Entwicklung der neuen elektronischen Medien nach wie vor prominente Lernziele unserer Schule. Werden sie allerdings zu eng verstanden als die blosse Vermittlung von Kulturtechniken, zu welchen alle Kinder im Gleichschritt angeleitet werden, erreichen die schulischen Bemühungen gerade diejenigen Heranwachsenden nicht, die in ihrer familiären Umgebung keinerlei weitere Anregungen zum Umgang mit Schrift erhalten.
Stabile Leseförderung wichtig
Neuere Studien der Leseforschung (unter anderen diejenigen von Hurrelmann et al. 1993 und Eggert/Garbe 1995) belegen mit verschiedenen Ergebnissen die Bedeutung einer frühen und zwanglosen Hinführung und weisen auf die besonderen Bedingungen einer Umgebung hin, die Lesen begünstigt: Zu einer stabilen Leseförderung gehören Erfahrungen mit Büchern, eigenständige Entdeckungen und der rege Austausch mit andern Leserinnen und Lesern. Dazu zählt heute auch die Erkundung verschiedener Medien und die Erfahrung, sie selektiv, das heisst selbstgesteuert und nach eigenen Interessen nutzen zu können.
Die Institution Schule bietet dafür Raum und Zeit. Allerdings wird sie den souveränen Umgang mit dem vielfältigen Schrift- und Medienangebot nur unterstützen können, wenn sie auch Brücken zum ausserschulischen Lesen und Schreiben schlägt, Freizeitlektüren anregt und umgekehrt auch die Lese- und Medienerfahrungen, welche die Heranwachsenden mitbringen, integriert. So verstanden haben «Lese- und Schreibförderung» ihr Ziel dann erreicht, wenn die Zugänge, die die Kinder und Jugendlichen in der Schule zum Buch und zum Bildschirm gefunden haben, für ihre Leseinteressen und für ihren Umgang mit Schrift auch ausserhalb der Schulstunde wirksam werden.
Lesetagebücher machen Entwicklungen sichtbar. Sie zeigen nicht nur, wie häufig und wie intensiv die verschiedenen Schriftmedien genutzt werden, sondern geben auch Aufschluss darüber, wie sich Leseinteressen und Schreibfähigkeiten im Zusammenhang mit der jeweils getroffenen Medienwahl und der Lesearbeit verändern und entwickeln. In ihnen zeigt sich beispielhaft, was wir verlieren und was wir hinzugewinnen in einer von Medien geprägten Umgebung, in der das eine «gute» Buch durch ein laufend sich erweiterndes Angebot an gedruckten und multimedial vermittelten Texten ersetzt wird.
Zu den Lese- und Schreibfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen liegen zur Zeit widersprüchliche Beobachtungen und Befunde vor: Auf der einen Seite wird ein Rückgang des Bücherlesens beklagt, auf der andern Seite steht die Faszination des Bildschirms, der neue Lese- und Schreibaktivitäten anregt. Im Spannungsfeld von Buch, Bildschirm und Schule will das Projekt «Literalität im medialen Umfeld» didaktisch relevante Fragen klären:
Literatur
- Bonfadelli, Heinz: Lesen und Fernsehen Lesen oder Fernsehen? in: Bodo Franzmann et al. (Hg.): Auf den Schultern von Gutenberg, Berlin und München 1995
- Eggert, Hartmut/Garbe Christine: Literarische Sozialisation, Stuttgart 1995
- Hurrelmann, Bettina, et al. : Leseklima in der Familie. Lesesozialisation Band 1, Gütersloh 1993
- Schön, Erich: Zur Zukunft des Lesens im Medienzeitalter, in: Harro Segeberg/Gerd Eversberg (Hg.): Theodor Storm und die Medien. Berlin 1998
Lic. phil. Andrea Bertschi-Kaufmann ist Dozentin für Fachdidaktik Deutsch an der Höheren Pädagogischen Lehranstalt (HPL) des Kantons Aargau.
Dr. Horst Sitta (hsitta@ds.unizh.ch) ist ordentlicher Professor für deutsche Sprache (Deutsches Seminar), besonders Gegenwartssprache.
unipressedienst Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update:
09.08.98