Bilderlesen will gelernt sein. Christian Doelker versammelt in seinem Buch «Ein Bild ist mehr als ein Bild» Material gegen das falsche Verstehen von Bildtexten. Seine Sehsschule schärft die Wahrnehmung und schafft einen neuen Zugang zu visuellen Texten.
VON CHRISTINE TRESCH
Was wir in der Schule lernen, basiert zu weiten Teilen auf Schrift. Zwar illustrieren Bilder das Lesebuch, machen Filmeanspruchsvolle Stoffe verständlicher, erklären Modelle naturwissenschaftliche Grundlagen, und das Verstehen ikonographischer Botschaften gehört zur kulturellen Kompetenz. Im Unterschied zur Sprache, deren Grammatik wir lernen, fehlt aber nicht nur im Unterricht, sondern auch im Alltag eine allgemeine Bildgrammatik.
Oben:Universell
verständliche Bildsprache. Unten: Lesekultur versus Bildkultur: Dieter Becher, Der Anfang. (Aus: Christian Delker: Ein Bild ist mehr als ein Bild. Klett-Cotta 1997) |
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Und dies im Zeitalter der digitalen Bilderflut. Wo das Auge hinschaut: Bilder. Werbung auf der Strasse, Werbung im Internet, keine Information am Fernsehen ohne Bild, immer grösser werdende Bildanteile in den Zeitungen. Und eine immer grösser werdende Verunsicherung darüber, ob das, was wir sehen, wirklich ist.
Sinnlich, stofflich, emotional
Christian Doelker, Professor für Medienpädagogik an der Universität Zürich, dessen «Kulturtechnik Fernsehen Analyse eines Mediums» zum Standardwerk im Umgang mit dem Fersehen geworden ist, geht in seiner neusten Publikation «Ein Bild ist mehr als ein Bild» mehr als nur auf die Bildsituation in industriealisierten Gesellschaften ein. Doelker stellt die visuelle Sprache der verbalen gegenüber. Er nutzt unsere Kompetenz im Umgang mit Worten, um einen differenzierten Umgang mit Bildern aufzuzeigen und eine eigenständige Bildgrammatik zu erarbeiten.
Ausgangspunkt von Doelkers auf Klarheit angelegter Versuchsanlage sind Beobachtungen zur Bildsprache in der Multimedia-Gesellschaft. Bilder gelten als allgemeinverständlich. Sie werden mit Adjektiven wie sinnlich, stofflich, konkret, emotional oder vieldeutig assoziert. Und stehen damit in einer klaren Opposition zur Sprache.
Doelker untermauert seine Feststellungen mit viel Bildmaterial und präzisen Beobachtungen, auch zur hiesigen Medienlandschaft. So merkt er etwa an, dass im Schweizer Fernsehen immer mehr nackte Haut zu sehen ist, weil man herausgefunden hat, dass ZuschauerInnen beim Zappen an Bildausschnitten mit viel Haut eher hängenbleiben.
Flexion, Syntax, Modus
In einem zweiten Teil untersucht der Autor die zahlreichen Bedeutungsebenen von Bildern analog zu denjenigen der Sprache. Doelker unterscheidet funktionale, spontane, feste, latente, deklarierte, artikulierte, kontextuelle, intertextuelle und transtextuelle Bedeutungen.
Im Kapitel «Artikulierte Bedeutung», zum Beispiel, wird ein grundlegender Unterschied zwischen Wort- und Bildsprache manifest. Was entspricht etwa den Phonemen, den kleinsten, sinnstiftenden Einheiten, aus denen Worte aufgebaut sind?
Das Wissen, dass Bilder aus Rasterpunkten zusammengesetzt sind, nützt nichts für ihr Verstehen. Es gilt also, mit den Grundelementen visueller Darstellung Punkt, Linie, Fläche, Körper, Helligkeit, Farbe und Bewegung zu arbeiten.
So versteht denn Christian Doelker unter der Bild-Flexion, analog zur Flexion der Worte, die Einpassung eines Bildinhalts und seine Abstimmung auf das Bildganze; unter der Bild-Syntax unterschiedlichste Montageformen; unter dem Bild-Modus den Wirklichkeitsgehalt eines Bildes oder unter dem Bild-Stil, das Genre, die Form, in der ein Bild gehalten ist.
All diese Bedeutungsebenen werden in fünf Kodes zusammengefasst, die es erlauben, das Ensemble der Bildbedeutungen beim Lesen von Bildern handhabbar zu machen. In der Möglichkeit, dass sich mehrere dieser Kodes überlagern können, sieht der Autor eine Erklärung dafür, warum audiovisuelle Texte ein breiteres Publikum ansprechen als verbale Texte.
Sehen lernen
Wir lernen in unserem Kulturraum, dass Schrift oben links beginnt. Der Blick bei einer Bildbetrachtung geht andere Wege. Es gibt eine Rangliste der phylogenetischen Reize, die ihn leiten. Das heisst, bewegte Inhalte kommen vor unbewegten, Inhalte der primären Bedürfnisse vor Inhalten der sekundären Bedürfnisse, Auffälliges vor Neutralem und Visuelles vor Verbalem.
Diesen Reizen nicht völlig ausgeliefert zu sein bedeutet seine Wahrnehmung zu dekonditionieren und sehen zu lernen.
Christian Doelkers Buch macht klar, was diese Sehschule alles bedeuten würde und wie weit wir in unserer alltäglichen Perzeption von dem von ihm intendierten analytischeren Blick entfernt sind.
unipressedienst
Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 23.07.98