unimagazin Nr. 2/98

Die Zukunft der Schweiz ist ethisch

«Das 21. Jahrhundert ist ein geistiges oder gar keines. Das hat AndrŽ Malraux, der französische Politiker und Schriftsteller, einmal gesagt. Die Abwandlung des Diktums – die Zukunft der Schweiz ist eine ethische oder gar keine – ist zwar eine provokative Übertreibung, aber mit einem zutreffenden Kern. Es gibt viele Gründe, eine solch steile These zu vertreten.

VON HANS RUH

Es gehört zu den Erfahrungen der griechischen Antike, dass sie die Bedeutung des Ethischen schrittweise erkannt hat. Die Geschichte des Begriffes «gut» ist dafür ein Beispiel. Gut war für Homer noch der kraftstrotzende Odysseus, das ethische Ideal war sozusagen identisch mit der Vitalität des Lebens. Erst in der Zeit von Sokrates und Aristoteles, aber auch bei den Verfassern der antiken Tragödien, kam die kritische Frage auf: Ist das Gute wirklich gut?

Das Ethische wurde entdeckt als eine Dimension, die nicht aufging im Vitalismus des Lebens und auch nicht im Strom der Natur, sondern die aus einer anderen Quelle nach dem wirklich Guten fragte. Im Zentrum dieser Dimension stand die Frage, was denn das eigentlich Menschliche des Menschen ausmache, was denn eigentlich dem Menschen zukomme.

Dafür steht ein Beispiel aus der Odyssee: «Mässige dich», rief der Ilias-Apoll dem Helden im Kampf zu, so wie der delphische Apoll den Besucher seines Tempels mahnte: «Erkenne dich selbst.» Diese Erkenntnis sollte dem Menschen vor allem vergegenwärtigen, «welcher Art» er sei: nicht ein Gott, aber auch nicht ein Tier. Damit gehörte eine weitere Einsicht zu diesem Moralbewusstsein: das Innewerden dessen, was dem Menschen als Menschen gebührt. Was Achill mit Hektor tat, war «nicht mehr Menschenart». Denn er liess sich «roh und wild wie ein Löwe» von seinem leidenschaftlichen Ungestüm hinreissen.

Die Idee des Guten

Seit damals war in Europa klar, dass so etwas wie die regulative Idee des Guten, des Richtigen, des Wahren, des Menschlichen zu den Voraussetzungen des Gelingens des Lebens und der Gemeinschaft gehörte. Nicht dass die Praxis der europäischen Gesellschaft immer das Prädikat «gut» verdiente. Aber die Idee des Guten blieb bestehen.

In Bezug auf das Verhältnis von Gesellschaft und Ethik finden wir heute eine ambivalente Lage vor. Wir stellen einerseits einen Ethikboom fest, bis hin zur Multiplizierung von Ethikkommissionen aller Art. Das ist möglicherweise ein Ausdruck dessen, dass wir zum einen in einen postmodernen Pluralismus auch der Werte hineingeraten sind, der die Wertorientierung der Gesellschaft aufzulösen droht, zum anderen, dass es eine Eigengesetzlichkeit der technologischen undökonomischen Entwicklung gibt, welche die Dimension des Ethischen immer fraglicher erscheinen lässt.

Welchen Platz hat die Unternehmensethik noch in der globalisierten Wirtschaft? Welche ethischen Orientierungen haben noch eine Chance angesichts der rasanten Entwicklung der Technologie? Man kann sich heute die Frage stellen, ob wir nicht wieder in eine vormoralische Periode zurückfallen, in der die kraftstrotzende Dynamik unhinterfragt zugleich das Gute und Richtige war.

Das menschliche Mass

Ein besonders sensibler Bereich in dieser Hinsicht ist das, was wir als dasökologische Problem vielfältig benennen, was uns aber kaum zu radikalen Verhaltensänderungen bewegt.

So wie in den Tragödien des antiken Griechenlands beklagt wurde, dass die Grausamkeit das menschliche Massüberschreite, so scheint heute das menschliche Mass hinsichtlich der menschlichen Eingriffe in die Natur dramatischüberschritten zu sein. Schon zeichnen sich Eigengesetzlichkeiten der von Menschen veränderten Natur in Form von Klimakatastrophen ab.

Die Botschaft im alten Griechenland ist dieselbe, die heute notwendig ist: Menschliches und gesellschaftliches Leben müssen sich orientieren an menschlichem Mass, an dem, was dem Menschen zukommt.

Zukunftsentwürfe kommen nicht an dieser Einsicht vorbei. Die Frage ist nun natürlich, was wir uns konkret unter dem menschlichen Mass für die Gestaltung einer Gesellschaft wie der schweizerischen vorstellen.

Der ethische Rahmen

Die Masslosigkeit des menschlichen Umgangs mit der Natur kann man in zwei Vorstellungen umschreiben, die also letztlich dieselben sind. Wir können sagen: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Stoffkreisläufe aufbricht. Oder wir können sagen: Er ist das einzige Wesen, das aus der organischen Zeit ausgestiegen ist und das in einem masslosen Tempo die natürliche Entwicklung verändert.

Beides – das Aufreissen der Stoffkreisläufe wie das Aussteigen aus der organischen Zeit – bringt ein Tempo der Veränderung der natürlichen Rahmenbedingungen mit sich, dem sich die Menschen nicht mehr anpassen können.

Was hiesse nun zurück zum menschlichen Mass in Bezug auf die Zukunft der Schweiz?

Im Kern ist die Antwort einfach: Es ist der Verzicht auf das Aufreissen der Stoffkreisläufe sowie der Verzicht auf das Tempo der Veränderungen. Aber was heisst das konkret für eine Vision Schweiz?

Die Masslosigkeit in bezug auf die Wirtschaft besteht darin, dass wir weltweit einen gigantischen Konkurrenzkampf eröffnet haben ohne jede Chance einer ethischen Ordnung. Arbeitslosigkeit, neue Armut, Working poors, Gefährdung der Sozialsysteme, Ausgrenzung sind die Folge der Mass- und Ordnungslosigkeit der Marktkräfte.

Was heisst hier die Rückbesinnung auf das menschliche Mass? Es ist die Erkenntnis,über die wirübrigens mindestens seit Adam Smith bis zur modernen sozialen Marktwirtschaft verfügen, dass der Markt nur dann menschlich funktionieren kann, wenn er in einen ethischen Rahmen eingebunden ist.

Leitlinien einer zukünftigen Schweiz

Angesichts der Tatsache, dass sich in absehbarer Zeit weder imökologischen noch imökonomischen Bereich eine Instanz schaffen lässt, welche ethische Rahmenbedingungen durchsetzen kann, müssen wir uns mit der Frage befassen, wie denn ein Land wie die Schweiz Visionen entwickeln könnte, welche sich an ethischen Vorstellungen orientieren.

Die Vision einer zukünftigen Schweiz muss prioritär der Anforderung entsprechen, wonach der Austausch und die Interaktion mit der Natur die immer rascher werdenden Veränderungsprozesse der Natur bremsen. Diese Anforderung muss allerdings zugleich mit dem Ziel einer sozial gerechten und einer wettbewerbsfähigen Schweizübereinstimmen.

Dabei muss klar bleiben, dass dieökologische Anforderung immer erste Priorität hat, weil im Konzept der Nachhaltigkeit eine Idee der Permanenzfähigkeit logisch vor der Idee der sozialen Gerechtigkeit und der Wettbewerbsfähigkeit rangiert.

Elemente einer ökologischen Schweiz:

So wie die Nationalbank eine politisch unabhängige Geldpolitik betreibt, braucht es eine Institution, die eine Langfristpolitik betreibt, die von der Tagespolitik unabhängig ist. Die Unternehmen müssen sich mehr und mehr umstellen und ihre Produktion und Dienstleistung an den oben genannten Grundregeln der Natur orientieren.

Elemente einer sozialen Schweiz:

Elemente einer wettbewerbsfähigen Schweiz:


Dr. Hans Ruh ist Professor für systematische Theologie mit Schwerpunkt Sozialethik.


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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 30.07.98