VON HEINI RINGGER
Ein kurzer Weg, die vergangenen 150 Jahre des heutigen Bundesstaates. Die Rede von der Schweiz hat allerdings einen längeren Weg hinter sich. Da muss man über 700 Jahre zurückgehen. Ohne den Rütli-Mythos kommt man nicht aus. In einem Rückgriff auf die Vorgeschichte machten bereits die 1798er und die 1848er Demokraten Tell und das Rütli zum Symbol schweizerischer Identität. Das ist bis heute so geblieben. Am legendären 1. August wird jedes Jahr die Staatsgründung gefeiert, nicht am 12. September, dem Datum der Validierung der Bundesverfassung.
In Rückgriffen auf Daten und Jahre der Vorgeschichte spiegelt sich die kollektive Identität. Bei runden Zahlen, als Jubiläen gefeiert, wird dann jeweils das gemeinsame Selbstverständnis hinterfragt. Wer und was sind wir? Wer und was wollen wir in Zukunft sein?
Der Milleniumwechsel 2000 wird wieder ein solches Datum sein. Selbstverständlich ein Datum für die ganze christliche Welt, deshalb auch unser Datum. Ein Datum, das von Nord- über Südamerika bis nach Australien gefeiert werden wird. Ein Triumph des europäischen Modells sozusagen. Und ein schwieriges Datum nicht nur für Computersysteme. Denn: Welches gemeinsame Selbstverständnis haben etwa amerikanische Bürger orientalischer, afrikanischer, indianischer Herkunft, die sich nicht mit diesem Modell identifizieren?
Amerika und einige lateinamerikanische Länder illustrieren, was für das nächste Jahrtausend auch für Europa prognostiziert wird: ein grosses «Gemisch von Kulturen». Wie in New York kann es dann zugehen. Verschiedene Kulturen mit unterschiedlichen Werten werden nebeneinander existieren. Einige werden sich miteinander vermischen, andere getrennt bleiben in verschiedenen Quartieren, mit ihren jeweiligen Sprachen und Traditionen. Wann ist man dazumal Franzose, Deutscher oder gar Schweizer? Muss man national-historische Vorbilder, Ereignisse und Legenden verinnerlicht haben?
Ein gemeinsames Selbstverständnis als errungene und verpflichtende Grösse stösst da an seine Grenzen. Wie kann man es neu gestalten? Werden die verschiedenen Ethnien sich künftig Geschichten ihrer unterschiedlichen Vergangenheit und Herkunft erzählen, um eine oder gleich mehrere gemeinsame Geschichten zu finden? Und: In welcher Sprache soll dies geschehen? Ohne einen konstanten Dialog wird vermutlich kein gemeinsames Selbstverständnis entstehen können.
Aspekte dieser Entwicklung haben wir im vorliegenden Magazin «Zukunft Schweiz. Make-up
für Helvetia» thematisiert. Da wir uns zwischen Vergangenheit und Zukunft bekanntlich
immer in der Gegenwart befinden, sind es Betrachtungen, Untersuchungen und Wertungen aus
unserem gegenwärtigen Bewusstsein. Die Autoren äussern Vorstellungen, wie wir uns selbst
sehen, weniger wie wir uns in Zukunft sehen möchten. Das verdeutlichen die präsentierten
Fakten, die sich an der heutigen Realität orientieren. Immerhin: Die Einschätzung des
Jetztzustands kann Verständigungsmöglichkeiten schaffen, um anstehende Zukunftsprojekte
anzugehen. Pragmatisch helvetisch. Erfolgsorientiert im globalen Wettkampf. Visionäres
oder gar Visionen haben aber in solchen Bewusstseinslagen einen schwierigen Stand.
Zu diesem Thema angeregt hat uns selbstverständlich das Jubiläumsjahr 1998. Massgebliche
Inspiration kam durch das Schwerpunktprogramm «Zukunft Schweiz» des Schweizerischen
Nationalfonds. Viele der hier schreibenden Autoren forschen in diesem Projektverbund.
Geplant wurde das Forschungsprogramm aus der Einsicht heraus, dass die Schweiz nicht mehr
von den Problemen verschont bleiben wird, die andere europäische Länder schon seit
längerem beschäftigen. Ein Novum soll der Umgang mit dem gewonnenen Wissen sein. Es soll
nicht nur den Entscheidungsträgern, sondern auch den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern
ein besseres Verständnis des sozialen Wandels erlauben.
Diese Verständigungsmöglichkeiten wollen wir fördern. Zweifellos macht es da Sinn vor Ablauf des Forschungsprogramms jetzt schon Zwischenergebnisse zu kommunizieren. Das tun wir in Gebieten, in denen Wissenschafter der Universität Zürich besonders stark vertreten sind wie etwa in den Bereichen «Gesellschaftliche Ungleichheit und Konflikte», «Dynamik der Arbeitswelt», «Lebensverläufe und Lebensperspektiven im mittleren Lebensalter», «Familienleben in der Schweiz» oder «Kommunikation in der modernen Informationsgesellschaft».
Von grossen Entwürfen werden Sie wenig erfahren. Unser Zeitverständnis hält uns weiter fest im Griff. Stattdessen lässt sich viel Handfestes lesen über unsere Zukunft, die immer schon in der Gegenwart aufbricht.
unipressedienst
Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 22.07.98