VON DANIELA BERTA
Als Fremde unter Fremden soll die Weltbevölkerung im allgemeinen und die Stadtbevölkerung insbesondere bezeichnet werden. Diesem pathetisch wirkenden, aber nüchtern gemeinten Leitsatz folgend, wird in diesem Beitrag versucht, über die Diskussionen um die multikulturelle Gesellschaft hinaus Multikultur und Fremdheit in ein Licht zu rücken, das eine aprioristische Zuschreibung von mehr oder weniger Fremdheit einzelner Menschengruppen ausschliesst.
Die Stadt ist eigentlich der Ort, wo sich multikulturelles Zusammenleben abwickelt. Traditionell gehören Heterogenität und Vielfalt zu den Hauptcharakteristika der Stadt. Die ethnische Vielfalt ist nur ein Aspekt der kulturellen Vielfalt, die sich in den urbanen Räumen aufgrund der zunehmenden Differenzierung und Pluralisierung der Lebensweisen manifestiert.
Grossstadttypische Heterogenität und ethnische Vielfalt waren bislang wenig sichtbar in der Schweiz. Aufgrund derökonomischen und technologischen Umwälzungen der letzten Jahre ist es nicht mehr die Grösse der Städte, die sie zu Grossstädten macht, sondern ihre Bedeutung im Weltsystem. Daher kommen in manchen schweizerischen Städten insbesondere in denjenigen, die zum Weltstädtesystem gehören neuerdings Phänomene zum Vorschein, die uns zuvor nur aus ausländischen Grossstädten bekannt waren: sichtbare Armut und Obdachlosigkeit, ethnisch durchmischte Quartiere, dissonante städtische Lebensweisen, sichtbare Marginalisierung, sichtbare Konsumförderung und -orientierung, sichtbarer innerer undäusserer Protest, schrumpfende ffentlichkeit, Monofunktionalisierung von Strukturen, Orten, Wegen und Plätzen. Unzählige neue und fremde Erscheinungen, die verunsichern und desorientieren. Diese Phänomene kommen in den Städten als Schauplatz des gesellschaftlichen Zusammenlebens konzentriert vor. Sie sind aber nicht reine Stadtphänomene. Typisch städtisch sind dagegen Vielfalt, Andersartigkeit, Anonymität, Differenz und Indifferenz. Schon Aristoteles schrieb seinerzeit, eine Stadt bestehe aus unterschiedlichen Arten von Menschen; Richard Sennetts Stadt verheisst eine Kultur des Unterschieds.
Das Wort «multikulturell» wird im Alltagsverständnis als Synonym von «multiethnisch» gebraucht. Medien und Politik generieren und verstärken diese implizite und automatische Gleichsetzung. Somit wird dieses Wort in seiner Bedeutung reduziert und in seiner emotionellen Aussagekraft zu einem Reizwort potenziert. In seiner differenzierteren Bedeutung ist der Begriff «multikulturell» Objekt aktueller politisch-philosophischer Debatten zu Gerechtigkeit und Anerkennung. Diese theoretische Diskussion hat den Alltag noch nicht geprägt und ihn nur insofern beeinflusst, dass man sich langsam fragt, ob «multikulturell» wirklich nur Vielfalt der Sprachen und der Kochrezepte bedeutet.
In Abgrenzung zur Festivalisierung oder Verteufelung von Multikulturellem, was tagtäglich aufgrund der Reduktion der multikulturellen Frage auf die Polarität Bereicherung versus Bedrohung geschieht, undüber die theoretische Multikulturalismusdebatte hinaus stehen hier einige Bilder und Impressionen einer weitgefassten und heterogenen Multikulturalität in der Stadt.
Auf einmal waren vor einigen Jahren arme, kranke, bettelnde Leute in der Zürcher Bahnhofstrasse zu sehen. Obdachlose bevölkerten mit ihrem gesamten Hab und Gut Tag und Nacht das Shopville. Diese für Zürich und die Schweiz neue Erscheinung verunsicherte die Bevölkerung, die BesucherInnen und die zahlreichen BenutzerInnen des damals neuen Verkehrsverbundes. Der Hauptbahnhof wurde gemieden, der Anblick dieser Misere war unerträglich. Im Gegensatz dazu wurde der zuvor unscheinbare und unbedeutende Bahnhof Stadelhofen als Alternativbahnhof zu einem heimatlichen, vertrauten, effizienten Kleinstadtbahnhof. Verbote, Vergitterungen, Monofunktionalisierung von Räumen und Einrichtungen1, vermehrte polizeiliche und parapolizeiliche Präsenz haben inzwischen den Hauptbahnhof gesäubert. Gezielte architektonische Massnahmen erlauben eine hermetische und zugleichästhetische Schliessung der Stadelhofenpassage. Die konkrete Koexistenz zweier widersprüchlicher Welten im gleichen Raum war nur eine vorübergehende Erscheinung.
«Diese Stadt gibt Dir alles was Du nicht gebrauchen kannst.»
Ein inzwischen verwischter Trottoirspruch in Zürich, der auf die Dissonanz zwischen Weltstadtorientierung und lokalen Bedürfnissen hinweist. Die Bettler an der Bahnhofstrasse und die Obdachlosen im Shopville waren eine Methapher für die zweigeteilte Stadt.
Eckert und Kissler haben in ihrer Analyse der Kölner Südstadt aufgezeigt, wie die Grenzen der Fremdheit durch die ethnischen Gruppen verlaufen und wieder Fremdheit konstruiert wird. Ihre Untersuchung gibt eine Binnensicht der BewohnerInnen dieses Stadtteils wieder. Eine Aussensicht der multiethnischen Quartiere von Paris finden wir in den Ausführungen von Vronique De Rudder. Sie unterstreicht die Bedeutung der strukturellen Zusammensetzung des Quartiers für die Entwicklung und die Qualität der multiethnischen Kohabitation.
Eckert und Kissler untersuchten die funktionellen und sozialen Interdependenzen innerhalb des Stadtteils und analysierten die sich dabei abzeichnenden «Wir»- und «Sie»-Gruppierungen. Die Südstadt ist ein sehr heterogener sozialer Raum, der durch die differenzierte Infrastruktur der traditionellen und neuen BewohnerInnen stark markiert wird. Mittels narrativen und leitfragenorientierten Interviews wurden Darstellungen des «Lebens im Viertel» zusammengetragen, die dann entlang der sich abzeichnenden Wir- und Sie-Gruppierungen gegliedert wurden. Folgende Verflechtungen wurden abgezeichnet:
«Während sich Kölsche Traditionelle gegenüber Ausländern abstrakt reserviert zeigen, schildern sie konkret unterschiedliche, häufig positive Beziehungen vor allem zu Italienern, hingegen fast gar nicht zu Türken. Verflechtungen zwischen den traditionellen Kölschen und den Alternativen sind ausgesprochen begrenzt, während bürgerliche Traditionelle den Alternativen nahestehen, welche als ihre Nachfolger gelten können.
Für Türken sind die Verflechtungen mit Deutschen unbefriedigend bis konfliktträchtig. Engere Beziehungen bestehen kaum.Ältere berichten von einem Rückgang der Kontakte.
In den Beziehungen der Alternativen zu den «Eingeborenen» steht der erwähnten Reserve von kölscher Seite eineüberlegene Position der Alternativen gegenüber. Noch deutlicher als bürgerliche Traditionelle unterstreichen sie bewusst ihre Akzeptanz der aus Distanz wahrgenommenen Ausländer ohne ethnische Differenzierung.
Im Gegensatz zu Türken schildern Italienerüberwiegend positiv enge und vielfältige Beziehungen zu Deutschen und zeigen sich teils mit der traditionellen, teils mit der alternativen Gruppierung verflochten.
Die interethnischen Verflechtungen mit traditionellen Kölschen und alternativen Deutschen durch die Italiener, die ihrerseits am wenigstens «Wir»-Gruppen bilden, stellen die ausgeprägteste Verflechtung zwischen den Gruppierungen dar. Von einer engen ausländisch-alternativen Verflechtung kann deshalb nicht gesprochen werden, weil der alternative Lebensstil die ethnische Orientierungüberdeckt. Umgekehrt lassen die kölschen Traditionellen selbst in familiären Beziehungen den ethnischen Aspekt erkennen, so dass am ehesten von Ansätzen einer kölsch-italienischen Gruppierung gesprochen werden kann. Demgegenüber ist die intraethnische Differenzierung der Deutschen in Alternative und Kölsche Traditionelle kaum weniger stark als die ethnische zwischen Türken und Deutschen
Aus der Perspektive der Kölschen Traditionellen, die auf der Ebene des Viertels die Inländer sind, unterscheiden sich somit die Einwanderer folgendermassen: Ausländer sind fraglos die Türken, die als Fremde betrachtet werden müssen. Als inländische Ausländer sind die Alternativen anzusehen, wobei die Betonung auf der Fremdheit liegt. Ausländische Inländer schliesslich sind die Italiener, bei denen der Aspekt des Fremden nicht mehr im Vordergrund steht.»
Vronique De Rudder beschreibt in ihrem Artikel drei Situationen von multiethnischer Kohabitation in Paris und Umgebung, die sowohl konfliktreich als auch integrativ sind. Die Variationen in der Konflikthaftigkeit sind von der sozialen Zusammensetzung und der Art und Intensität der Beziehungen abhängig.
Im «beau quartier» La Muette im XVIe Arrondissement sind die Immigranten meist als Dienstboten der hierübervertretenen nationalen Bourgeoisie tätig. Die AusländerInnnen sind hier unsichtbar, obwohl sie 20% der Bevölkerung ausmachen. Interethnische Beziehungen sind weder gut noch schlecht, sie existierenüber das Verhältnis Arbeitgeber-Arbeitnehmer hinaus nicht. Die Komplementarität der Klassenüberschattet die interethnische Dimension der Beziehungen.
Das Aligre-Quartier im XIIe Arrondissement ist durch rege handwerkliche und kommerzielle Aktivitäten gekennzeichnet. Die Immigranten 25% der Bevölkerung und die Franzosen gehören grundsätzlichähnlichen sozioprofessionellen Kategorien an. Die Anzahl und die Vielfalt der Unternehmen schliessen konkurrenzbedingte Konflikte aus. Derökonomische Austausch verläuft in einem Netz interethnischer Beziehungen, in welchem sich Konflikte und Integration tagtäglich ablösen.
In Quatre-Mille Courneuve, einer peripheren Siedlung, die in den sozialen Repräsentationen exemplarisch für das Malaise des «Sozialbetons» steht, bilden die Immigranten ein Drittel der Bewohnerschaft. Das Zusammenleben von Franzosen und Immigranten ist weniger konfliktreich, als gemeinhin angenommen. Die sozialen Beziehungen entwickeln sich aber in einem stigmatisierten Umfeld und sind defizitär, anomisch und labil. Ein Grossteil der BewohnerInnen entzieht sich den sozialen Kontakten und zieht sich in die Familie zurück. Diese Zurückgezogenheit und die soziale Leere lassen sich indirekt in der negativen Besetzung deröffentlichen Räume spüren. Angst und Unruhe beherrschen den Alltag der BewohnerInnen, die darauf bedacht sind, sich von der Nachbarschaft abzuheben, indem sie sich beispielsweise physisch oder diskursiv von den anderen Ethnien distanzieren.
Das Rollschuhmädchen erschien eines Abends. Eine siebenjährige Türkin, die aus Sprachgründen noch den Kindergarten besucht, jedoch aufgrund des Alters und der Rollschuhkompetenz von den anderen Mädchen als Zweitklässlerin eingestuft wird. Es ist dunkel, sie will zu uns kommen, ihre Mutter sei damit einverstanden, sagt sie. Aus Sicherheit telefoniert sie doch noch, zwei, drei Telefonnummern wählt sie, spricht ein wenig Deutsch, ein wenig türkisch und bleibt. Das Essen schmeckt ihr nicht. Meine fünfjährige Tochter betont, dass dies kein Schweinefleisch sei es war Thonfisch und erklärt mir, dass Türken, Albaner und manche Jugoslawen Schweinefleisch nicht essen. Das Rollschuhmädchen sagt, sie sei Muslimin, sie kenne aber viele Muslime, die nur Schweinefleisch essen.
Anfang Januar 1996: Arbeitsamt. Mehr als 100 Leute haben sich heute als neue Arbeitslose angemeldet. Das merkt man an der Nummer, die man beim Eingang ziehen muss. Einige Leute ziehen keine Nummer, sie warten einfach und werden nie dran kommen. Heute kommen auch diejenigen mit der Nummer nicht mehr alle dran. Um 15 Uhr wird die Türe geschlossen, niemand darf mehr Nummern ziehen. Dieüberforderten Angestellten lassen sich eine grosszügige Lösung einfallen und kündigen sie mehrmals an. Man soll doch die Nummer mit dem heutigen Datum abstempeln lassen und dann morgen oderübermorgen oder sogar nächste Woche wieder kommen. Dann gilt es so, als ob man heute drangekommen wäre. Dem Ratschlag folgend, lösen sich zögernd etwa fünf Leute aus der wartenden Menge. Sie dürfen durch die Hintertüre nach Hause gehen. Es sind Leute, die die Nummer gezogen haben, die Deutsch verstehen, aber nicht nur, es sind auch solche, die nicht mehr denken, dass sie durch Warten büssen müssen, nur weil sie arbeitslos sind. Vielleicht Leute, die schon mit dem neuen Managementsdenken des sozialen Systems vertraut sind. Schliesslich gelten Zahlen und Facts, nicht wie lange einer gewartet hat. Darüber hinaus sind beide Gruppen heterogen, die fünf Leute und die wartende Menge. Es sind Frauen, Männer, Schweizer, Ausländer, Weisse, Farbige. Eine multikulturelle arbeitslose Gesellschaft.
«Wenn Fremdeüber eine Brücke fahren und unter der Brücke fährt ein Eisenbahnzug mit Fremden durch, so sind die durchfahrenden Fremden Fremde unter Fremden.»
(K. Valentin)
Die Kornhausbrücke und das Lettenareal boten bis vor kurzem ein Szenarium an, das heute mit einem nüchteren Blick2 als die Inszenierung von Karl Valentins konkretistischer Passage interpretiert werden kann. Während tagein tagaus willkommene auswärtige Pendlerüber die Kornhausbrücke die Stadt aufsuchten, durchsuchten Beamte das Lettenareal nach auswärtigen Drogenabhängigen, die sich tagein tagaus unter der Brücke ansiedelten.
Das Exotische wurde früher auf fernen Inseln gesucht. Später in unserer Vergangenheit und noch später im Alltag, nach dem Leitbild «l'exotique est quotidien». Können wir heute sagen, «le quotidien est exotique»?
1
Beispiel: Sitzbänke als Sitzbänke und nichts anderes als Sitzbänke.
2
Bis Februar 1995 hatte sich auf dem unter der Kornhausbrücke gelegenen ausgedienten Bahnhofareal Letten eine grosse offene Drogenszene angesiedelt. Die tagtäglich vorgeführte Tragik, Trostlosigkeit und Misere der Drogenszene dominierte in emotionaler Hinsicht deren Betrachtung.
Literatur
De Rudder, Vronique (1994). Conflits et intgration dans les quartiers populaires. In: Bassand et Leresche (Hrsg.). Les faces caches de l'urbain. Bern: Peter Lang, 113 128.
Kissler, Mechtilde, und Eckert, Josef (1992). Multikultur und ethnische Vielfalt. Überlegungen angesichts gewandelter städtischer Lebensweisen. Soziale Welt, (4), 462 475.
Friedman, Jonathan (1994). Cultural Identity and Global Process. London: Sage.
Lic. phil. I Daniela Berta
(daberta@sozpsy.unizh.ch) ist Doktorandin an der Abteilung Sozialpsychologie des Psychologischen Instituts der Universität Zürich.
unipressedienst Pressestelle der Universität Zürich
Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
http://www.unizh.ch/upd/magazin/2-96/
Last update: 24.6.1996