VON BENEDIKT REINERT
Wer mit verschiedenen Gegenden der islamischen Welt in Berührung kommt, ist gemeinhin überrascht von der kulturellen Mannigfaltigkeit, die ihm dabei entgegentritt. Sie betrifft zunächst Sitten und Gewohnheiten des täglichen Lebens, Wohnung, Kleidung, Speisen, dann die Umgangssprache, die schon im arabischen Gebiet stark variiert und desto bunter wird, je mehr man gegen Südosten kommt. Sie umfasst vor allem auch den religiösen Bereich, besonders den volkstümlichen, etwa die Heiligenverehrung, nichtkanonische Feste oder das kulturelle Umfeld religiöser Pflichten.
Selbst beim Wahrzeichen islamischer Einheit, der Moschee, findet man ganz verschiedene Typen, wobei jeweils das Weiterleben von Elementen des vorislamischen lokalen Sakralbaus die Unterschiede bewirkt. Wenn man schliesslich die Urform der Moschee, der von Muhammad in Medina, betrachtet, so fallen charakteristische Ausstattungselemente wie Minarett, Gebetsnische (Mihrab) oder Ablutionsgelegenheit (Brunnen, Wasserbecken) weg, und es bleibt ein rechteckiger, von einer Ziegelmauer umgebener Hof, dessen Seite zur Gebetsrichtung mit einem Dach aus verlehmten Palmblättern zugedeckt war, das zwei Reihen Palmstrünke stützten.
Muhammad selbst war einem kulturellen Pluralismus abgeneigt. Er sah seine Aufgabe im Gegenteil darin, die Araber zu einer Umma, einer einheitlichen Religionsgemeinde mit gemeinsamen, gottgegebenen Zielen, zu machen. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der Monotheismus. Die entsprechende Formel «Es gibt keine Gottheit ausser Gott» ist koranisch und bildet die erste Hälfte des zweiteiligen islamischen Glaubensbekenntnisses.
In seiner Vaterstadt Mekka, einem allen religiösen Winden offenen heidnischen Wallfahrtszentrum, stiess Mohammed damit allerdings auf derartigen Widerstand, dass er nach der jüdisch-arabischen Oase Jathrib (Medina) übersiedeln musste. Dort wiederum nahm die jüdische Bevölkerung am zweiten Teil des muslimischen Credos Anstoss, «Muhammad ist der Gesandte (Prophet) Gottes», und musste auf unsanfte Weise der Idee einer einheitlichen Umma weichen. Die Einigung aller Araber unter dem Banner des Islams konnte Muhammad selbst nicht mehr verwirklichen. Sie blieb seinem ersten Nachfolger (Kalifen) in der Leitung der Gemeinde, Abu Bakr,überlassen und wurde ebenfalls mit einiger Gewalt durchgeführt.
Die eigentliche damalige Multikulturalität auf der Arabischen Halbinsel, das Nebeneinander von Nomaden (Beduinen) und Sesshaften (Bauern und Städtern), bestand aber weiter und hat in ganz verschiedener Form immer wieder, auch andernorts und bei anderen ethnischen Gruppen, wie Berbern und vor allem Türkstämmen,ähnliche Islamisierungs- und Akkulturationsprobleme aufgeworfen, nur dass die Lösungen jeweils verschieden ausfielen.
Die älteste, «arabische»Lösung bestand darin, dass die unterdessen Muslim gewordenen Mekkaner von der neuen Hauptstadt Medina aus die Kräfte der geeinten Beduinen dazu benützten, in zwei Jahrzehnten die ganzen reichen Kulturländer vom Nil bis zum Oxus in ihre Hand zu bringen, sie zum «Herrschaftsgebiet Gottes» zu machen, das heisst im Klartext, die vorhandenen Kulturgüter zu kassieren, zuüberwachen und mitzugeniessen. Ein kulturelles oder gar revolutionäres Programm war damit nicht verbunden. Der kulturelle Pluralismus der unterworfenen Völker blieb vielmehr unangetastet, sogar im Bereich der Religion. Gegen die Entrichtung einer «Schutzsteuer» konnte die nichtarabische Bevölkerung, darunter auch die vordem verfolgten christlichen bzw. mazdaistischen (zoroastrischen) Häretiker, als «Eingeborene» im arabisch-islamischen Kolonialreich ihre Traditionen und Religionen weiterleben. Nicht Zwang war es, der dieüberwiegende Mehrheit der nächsten undübernächsten Generation bewog, zum Islamüberzutreten, sondern eher der Wunsch, bei der Entwicklung und Ausgestaltung der neuen Lage aktiv mitzuwirken. Die Konversion verschaffte einerseits vermehrte soziale Sicherheit, andererseits aber auch die Möglichkeit, den eigenen kulturellen Hintergrund in die eben erst im Entstehen begriffene islamische Kultur einzubringen und dort in neuen Formen fruchtbar zu machen.
Damals, im 8. und 9. Jahrhundert, wurde nicht einfach alter Wein in neue Schläuche gegossen, sondern versuchte man, seine geistige und materielle Erfahrung an einer neuen Situation zu erproben und deren Bewältigung dienstbar zu machen. Unter dem einenden Titel des Islams waren alte kulturelle Schranken gefallen und wurden neue, synkretistische Strukturen möglich. So findet man in der damals entstandenen islamischen Rechtswissenschaft (fiqh) genauso römisch-byzantinische Spuren wie persisch-sassanidische oder flossen in der Geschichtsschreibung altsüdarabische mit byzantinischen und sassanidischen Einflüssen zusammen. Es gab aber auch genug neue, aus der inneren Entwicklung der islamischen Gesellschaft erwachsene Probleme, die eine Lösung erheischten, soziale wie die Gleichstellung von konvertierten Eingeborenen und Vollblutarabern, religiös-politische wie die rechtliche Bewältigung der Ermordung des dritten Kalifen Uthman (656) oder theologische wie die Frage der Willensfreiheit im Lichte der Theodizee. Die Antworten fielen nicht nur recht verschieden aus, sondern entwickelten gerne auch vorislamische Denkformen in neuem Kontext weiter oder kamen nochmals zu bereits vorislamisch bekannten Resultaten. Paradebeispiel hierfür ist der islamische Asketismus, der als Reaktion auf dieüppige Entfaltung der sinnlich-materiellen Kultur eine Abkehr von der Welt und Besinnung auf das Jenseits predigte und damit sowohl an den mekkanischen Koran als auch an das gemeinsame christliche Pendant anknüpfen konnte und schliesslich wie dieses direkt in die Mystik ausmündete.
Als einigendes Band, sogar direkt als kulturelles Einheitssymbol gegenüber all diesen Pluralismen, wirkte die Arabiyya, die arabische Literatursprache. Deren beredte Beherrschung bildete seit jeher den Stolz des Arabers, besonders des Beduinen. Jetzt, nachdem sie zum Medium von Gottes letzter Offenbarung geworden war, gewann sie eine geradezu sakrale Würde und wurde zum unabdingbaren Kommunikationsmittel aller, die sich an der Ausgestaltung der neuen Kultur beteiligen wollten. Die nichtarabischen Proselyten machten sie sich nicht nur zu eigen, sondern auch zu einem gefügigen Instrument ihrer eigenen Gedankenwelt, um die arabische Literatur schliesslich bis in deren Herz, die Dichtung, mitzuprägen. Als Umgangssprache allerdings hat sich das Arabische nur da durchgesetzt, wo entweder schon ein aramäisches Substrat vorhanden war (wie im Fruchtbaren Halbmond) oder wo die Einwohner es gewöhnt waren, sich fremden Herren anzupassen (wie in Ägypten, der nordafrikanischen Küste oder Spanien). Widerstand dagegen leisteten Völker mit starkem kulturellem Identitätsempfinden wie die Berber im Westen oder die Perser im Osten. Hier, in Iran, hielt vor allem der Landadel, die Dihqane, die weitgehend die Infrastruktur beherrschten, an ihrer Muttersprache fest, während das Arabische besonders den Beamten, Schreibern, Richtern und Gelehrten geläufig war. Nach dem Zerfall der Zentralgewalt (ab Mitte 9. Jahrhundert) förderten die lokalen Machthaber Ostirans bewusst eine Renaissance des autochthonen kulturellen Erbes und unterstützten energisch die Emanzipation des Persischen als Literatursprache.
Die Tragweite dieser Entwicklung sollte sich erst später zeigen. Während im Westen die Einschmelzung der latenten Multikultur in eine arabisch-islamische ständig Fortschritte machte, brach im Osten der kulturelle Pluralismus wieder durch und machte deutlich, dass neben einem arabischen Islam auch anders gefärbte, lokale Varianten möglich seien. Die eigentlich aktiven Träger der Entwicklung waren freilich nicht die Perser selbst, sondern die zahlreichen türkischen Stämme Mittelasiens, die sich seit dem 10. Jahrhundert zusehends islamisierten, um dann nach Westen vorzudringen oder ihre Macht nach Indien auszudehnen, und seit dem Mongolensturm solche Stärke erhielten, dass sie bis nach Südosteuropa vordrangen. Den Islam hatten sie aber nicht von den Arabernübernommen, sondern von den Persern, hatten sich kulturell, vor allem im Bildungsbereich, persifiziert, und sich das unterdessen hochentwickelte Persische als Literatursprache angeeignet und dank ihrer Völkerwanderung und staatenbildenden Machtausdehnung zur islamischen Weltsprache gemacht, deren Ausdehnungsbereich im Mittelalter von Anatolien bis Mittelasien und Südindien reichte. Erst nach dem Zusammenbruch des Mongolenreichs (14. Jahrhundert) fingen sie sukzessive an, ihre eigenen türkischen Idiome zu Literatursprachen zu machen und gaben damit das Signal, den multikulturellen persischen Samen noch weiter auszubreiten, nach Indien und Südostasien, wo die Islamisierung zunehmend in den Lokalsprachen erfolgte und parallel zur Sprache regelmässig auch andere Kulturgüter in den jeweiligenörtlichen Islam eindrangen.
Hier stellt sich die Frage, welche Kraft in der kulturell verzweigten islamischen Welt noch für ein gemeinsames, abgrenzendes Identitätsgefühl sorgte. Es ist nicht oder nicht mehr der erste, monotheistische Teil des Glaubensbekenntnisses. Ursprünglich gegen das arabische Heidentum gerichtet, wurde dieser bei Feindseligkeiten zwar immer wieder wenn auch aus jeweils anderen Gründen gegen Christen, Mazdaisten, Hindus und Buddhisten herangezogen, aber ein largeres Verständnis von Monotheismus und Offenbarung erlaubte schliesslich doch, gerade hier einen gemeinsamen Nenner für alle Hochreligionen zu finden, so dass beispielsweise Sukarno in seiner indonesischen Verfassungsbasis das Bekenntnis zur «All-Einen Göttlichkeit» zum gemeinsamen, multikulturellen Ansatz für Muslime, Christen, Hindus und Buddhisten machen konnte. Die gesuchte vereinheitlichende Kraft liegt vielmehr im zweiten Teil des islamischen Credos, «Muhammad ist der Gesandte (Prophet) Gottes».
Nicht dass damit etwa das Auftreten anderer Propheten bestritten würde. Aber sie müssen allesamt vor Muhammad gelebt und gewirkt haben. Denn der Koran ist die letzte Offenbarung Gottes, Muhammad also auch der letzte Prophet und sein normatives Verhalten, die Sunna, allgemeinverbindlich. Und aus Koran und Sunna wiederum leitet sich die Scharica her, die Satzung, die das ethisch-religiöse und sittlich-rechtliche Verhalten des Muslims und der islamischen Gemeinschaft regelt. Was sich mit Sinn und Geist von Koran und Sunna nicht vereinbaren lässt, steht im Widerspruch zur Scharica. Mit dieser Formulierung ist eine flexible Toleranzgrenze anvisiert, zumal wenn man bedenkt, dass die Sunna aus einem Corpus von Nachrichten (Hadith) ermittelt wird, die zwar in die Zeit des Propheten zurückdatiert werden, vielfach aber die Multikulturalität des 8. und 9. Jahrhunderts widerspiegeln. Auf dieser Basis kann bei vielen Sitten und Gebräuche per analogiam das Scharica-Auge zugedrückt werden. Die Religionsgelehrten (cUlama) nehmen freilich in der Regel eine strengere Haltung ein, die systematisch eine Trennung von Scharica, «Satzung», und cAda, «Gewohnheit», vornimmt. Es versteht sich, dass viel lokal-charakteristisches Kulturgut nur als cAda geduldet wird, zunächst Rechtliches, dann aber auch Verehrungsrituale oder Feste mit ihren Begleiterscheinungen.
Bei den Berbern hat sich längst ein Modus vivendi zwischen cAda und Scharica durchgesetzt in Indonesien, wo das Problem viel aktueller ist, ringt man noch darum. Ähnliche Probleme gibt es in Schwarzafrika. Der Konflikt ist jeweils so alt wie die Islamisierung selbst. Im übrigen sind es vielfach an arabischen geistlichen Hochschulen geschulte cUlamas, die im Geiste des «arabischen» Einheitsideals die Scharica durchzusetzen suchen, auch im indisch-südostasiatischen Gebiet.
Die eigentlichen Protagonisten einer derartigen innerislamischen Multikulturalität waren seit jeher und sind noch heute die Sufis bzw. Kreise, die vom sufischen Denken geprägt sind. Die mystische Erfahrung der Gegenwart Gottes und seines Wirkens in allem Geschöpflichen fördert einerseits den Sensus für das hintergründige Wesen aller Dinge und relativiert damit die formalen Grenzen der Scharica, verfeinert aber andererseits auch den Blick für die wahren Nöte, Anliegen und Bedürfnisse der Kreatur. Einen entsprechend hohen Stellenwert erhalten Hilfsbereitschaft und menschliche Konzilianz, und die Sufis haben diese Form des Islams gelebt, nicht nur gepredigt. So waren sie vielfach auch eher bereit, den kleinen Schwächen und eigensinnigen Gewohnheiten der Neumuslime im Bereich des Brauchtums (cAda) nachzugeben als ihre Kontrahenten, die Vertreter der Scharica. Nicht etwa aus Verachtung für deren Weisungen. Waren sie doch von ihrem Noviziat her bei einem Meister (Scheich) eine viel strengere und unerbittlichere Zucht gewohnt, als sie Koran und Sunna je vorgeschrieben hätten, ganz abgesehen davon, dass es auch Sufis gab, die generell auf das Einhalten der Scharica achteten. Aber letztlich bildete dies alles doch nur die Präliminarien für eine vertiefte Gotteserfahrung, und auf diese gründete ihre Nachsicht und Offenheit für andere Menschen und Kulturen. Ihre Konvente (Chanaqah) standen und stehen noch heute jedermann offen und stellten seit jeher Orte des Gedankenaustauschs und der Begegnung mit Andersartigen und Andersgläubigen dar. Daher waren sie immer auch Zellen der stillen Mission, besonders in den Grenzgebieten zu anderen Kulturen. So nach wie vor in Indien und Indonesien.
Manche Sufis liebten das Reisen. Daher weisen die grossen Orden, die seit dem 12. Jahrhundert mehr und mehr die sufische Szene beherrschen, oft ein weites Verbreitungsgebiet auf und haben immer für einen regen kulturellen Austausch zwischen den verschiedenen Gegenden der islamischen Oikumene gesorgt. Heute sind sie in ihrer Bedeutung mancherorts zurückgedrängt worden, vor allem von säkularistischen Strömungen, teilweise aber auch von ihren alten Gegenspielern (cUlama), obwohl diese mit ihnen heute eigentlich im gleichen Boot sitzen und es sich immer wieder gezeigt hat, dass der Islam da am besten gedeiht, wo sich die beiden Kontrahenten befruchten und die Waage halten und wo letztlich auch das Gleichgewicht zwischen Einheitsbestrebungen und kultureller Vielfalt gewahrt bleibt.
Dr. Benedikt Reinert
ist ordentlicher Professor für Islamwissenschaft am Orientalischen Seminar der Universität Zürich.
unipressedienst Pressestelle der Universität Zürich
Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
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Last update: 25.6.1996