Magazin der Universit?t Z?rich Nr. 2/96

EDITORIAL

Fremde unter Fremden

Seltsam, aber nach wie vor wahr: Alles hat mindestens seine zwei Seiten, meist sogar mehrere. Besondersäussert sich das im Verhältnis zum Fremden. Dieses Verhältnis ist ein ambivalentes: Das Fremde wirkt anziehend wie auch abstossend, es fasziniert und macht angst, es ist Freund wie auch Feind. Fremdes bewegt uns, ist ständig unter und selbst in uns.

In diesem eigenartigen Spannungsfeld tut man sich im Umgang mit dem Fremden, mit dem Andersartigen nicht eben leicht. Eingespielte Muster, Gewohnheiten und Vorurteile können aufeinander prallen selbst bei Personen der gleichen Kultur, erst recht bei Personen einander fremder Kulturen. «Wer sich befreunden will, muss sich befremden lassen», lautete vor Jahren ein Einwurf in den Diskurs der multikulturellen Gesellschaft. Ein merkwürdig paradoxer Satz. Eine Herausforderung: In der Abgrenzung zum Eigenen ohne Wenn und Aber das Fremde kennenzulernen. Dem Fremden wird dabei das Recht auf das Fremdsein, auf die fremde Identität zugestanden. Eine ungewohnte Annäherung. Die Begegnung mit dem Fremden wird als Chance verstanden, um das Schwierige im Eigenen zu klären.

Dieses Wechselspiel wäre sicher wünschenswert. Es wiese einen Weg, von Scheinbegegnungen zu echten Begegnungen zu kommen. Nur die Alltagsrealität und die Alltagserfahrungen sehen vielerorts anders aus. Zwar ist das Fremde in Zeiten gesellschaftlicher Stabilität und Prosperität selten ein grösseres soziales Problem. In Krisenzeiten kann sich das Verhältnis zum Fremden jedoch schnell in Fremdenangst und Fremdenhass verkehren, wenn es gilt das Eigene neu zu bestimmen und sich neu zu orientieren. Minderheiten und Aussenseiter werden unter solchen Umständen leicht ausgegrenzt, sogar verfolgt. Anschauungsbeispiele gibt es unweit vor unserer Haustüre. In Ost- und Südosteuropa finden seit Jahren wieder ethnische Säuberungen und die Unterdrückung von Minderheiten statt.

Das Anliegen des vorliegenden Magazins ist angesichts der unüberschaubar gewordenen Welt Vermittlung; Differenzierung ist dabei notwendig, doch Komplexitätsreduktion angebracht. Probleme im Umgang mit dem Fremden sollen weder verschwiegen nochüberbetont werden. Ein aufgeklärter Diskurs, wie er in der akademischen Welt geführt wird, wäre auch in deröffentlichen Debatte, zum Beispiel in den Medien, vermehrt zu begrüssen. Dabei gilt es die komplexen Zusammenhänge so zu veranschaulichen, dass konkrete sozialpolitische Arbeit möglich wird. Zweifellos besteht hier ein Handlungsbedarf

Ganz in diesem Sinne haben wir uns dieses Magazin vorgestellt: Zu sozialrelevanten Themen Arbeitswelt, Medien, Städte, Schule, Tourismus, Religionen, Politik Hintergründe zum Thema Multikulturalität anzubieten. Bevor wirüber die Grenzen hinausschauen, stellen wir universitäres Forschungswissen zur Multikulturalität-Debatte in der Schweiz vor. Denn die Schweiz ist längst eine multiethnische und multikulturelle Gesellschaft. Selbstverständlich tauchen da grundsätzliche Fragen auf: Was hält die multikulturelle Gesellschaft zusammen? Welches sind die integrierenden, welches die fragmentierenden Kräfte? Oder provokativ ausgedrückt: Kann der moderne Staatüberhaupt multikulturell sein? Die Antworten werden sich an der Alltagsrealität messen müssen. Zwei Features, das eine ein Besuch bei Muslimen in Zürich, das andere ein Besuch in Salvador da Bahia, in «Brasiliens Afrika», sind Annäherungen an solche Alltagsrealitäten. Mit mehreren Blickenüber die Grenzen, in die Welt des Islam, in die Welten der indigenen Völker, in die USA als beispielhaften «Melting Pot» der Kulturen sowie in den europäischen Raum, beschliessen wir dieses Dossier.

Mit dem Titelbild und der Illustrationsebene liegt das Befremden wieder bei uns. Manche Bilder zeigen die fast spielerische Entfremdung der uns Fremden. Da ist dieses Mädchen, das den Blick seltsam nach innen gerichtet im Laufen mit dem Flugzeug abzuheben scheint. Da sind die jugendlichen Eingeborenen, die im Angesichte der modernen Welt mit erstarrten Blicken von der martialischen Kinoreklame wegschauen. Manche der Bilder wirken auch polarisierend und aggressiv. Da ist der weisse Photograph, der gegen ein Entgelt den mumifizierten Urahn des Eingeborenen photographieren darf. Da sind die weissen Bekehrer und die bekehrten Eingeborenen, die selber wieder zu Bekehrern werden. Wer sind da eigentlich die Fremden?

Trotz allem: Lassen wir uns befremden. Nehmen wir das Andersartige bei uns selbst auf. Aber nicht, indem wir Fremdes angleichen, aus der Vielfalt der Kulturen nur dasübernehmen, was uns passt und gefällt. Versatzstücke der eigenen Kultur einverleiben. Missverständnisse sind da vorprogrammiert. Je mehr von aussenübernommen wird, umso schwieriger werden Begegnungen. Je mehr von innen kommt, umso eher kann echte Begegnung und damit multikulturelles Zusammenleben gelingen.

Heini Ringger


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Felix Mäder (fmaeder@zuv.unizh.ch)
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Last update: 24.6.1996