Magazin der Universität Zürich Nr. 2/96

Warum die Seele Brasiliens schwarz ist

VON URS STRÄSSLE

In blendend weisse Trachten gekleidet bieten schwarze Bahianerinnen typische Speisen der afro-brasilianischen Küche an.



Die Antwort auf die Frage, was den speziellen Charakter einer Nation ausmache, beruht fast zwangsläufig auf Projektionen, deren Kolorit jeweils der Geschichte entnommen ist. Das ist auch im Falle der Frage, was Brasilien zu Brasilien mache, nicht anders. Im «Land der Zukunft» glaubte sich etwa Stefan Zweig, als er vor fast 60 Jahren Brasilien zum ersten Mal bereiste. Zweigs Bild von einer in den «lusitanischen Tropen» sich formierenden Gesellschaft der Zukunft, die als Modell für ein gelingendes Zusammenleben verschiedener Kulturen gelten könnte, war zweifellos Wunschdenken: eine Projektion, deren Negativ die Alte Welt und die bereits sichtbaren Anzeichen der kommenden Barbarei bildeten. In Zweigs Eloge an Brasilien aber verbirgt sich noch etwas anderes: Die Faszination des Europäers über eine Gesellschaft, deren multikulturelle Herkunft sich als schlichtes Faktum zuallererst in den Hautfarben, aber auch in den Praktiken des Alltags widerspiegelt. In der Tat gibt es eine so weitgehende Durchmischung von Kulturen wie in Brasilien wohl nur selten. Das vielleicht farbigste Beispiel solcher Verflechtung zeigt sich im Bundesstaat Bahia, Brasiliens Afrika.

Salvador da Bahia, die offiziellen Angaben zufolge zwei Millionen Einwohner zählende Hauptstadt des brasilianischen Bundestaates Bahia, lebt in besonderem Masse von jenem «je ne sais quoi» des afrikanischen Einflusses, auf den sich die Brasilianer wortreich beziehen, wenn vom Zentrum des schwarzen Brasilien die Rede ist. Lärmig, ein offenbar von Stadtplanung weitgehend unbehelligtes Gewirr von Hochäusern und von lieblos über die Hügel gestreuten Wohnvierteln, ist Salvador auf den ersten Blick wenig geeignet, den Besucher für sich einzunehmen. Doch beginnt man zu ahnen, warum viele Brasilianer der Stadt mit Stolz und mitunter gar mit einem Anflug von Zärtlichkeit begegnen, wenn man Salvador zu hören, zu riechen, zu schmecken beginnt.

Duftspuren

Den bleibendsten Eindruck im olfaktorischen Gedächtnis des Europäers hinterlässt zweifellos der säuerlich-herbe Duft kochenden Palmöls, des Azeite-de-dendê, das so vielen Gerichten der afro-brasilianischen Küche ihren charakteristischen Geschmack gibt. Die Duftspur führt zu improvisierten Strassenständen, hinter denen schwarze Bahianerinnen in ihren blendend weissen Trachten typische Gerichte feilbieten: Acarajé, in Azeite-de-dendê fritierte Bohnenbrei-Bällchen, Vatapà, eine cremige Masse aus Dendê, Kokosmilch, Krabben und Erdnusscrème, Caruru, ein zähflüssiger Brei aus Okraschoten, Cashewnüssen und getrockneten Krabben. Die weissen Trachten der schwarzen Bahianas ­ bauschige, spitzenbesetzte Röcke und turbanähnlich Kopfbedeckungen ­ verwandeln Salvadors Strassen alljährlich im Januar in eine wogende Tapisserie aus Maiglöckchen, deren Duft den Festzug Zehntausender begleitet. Es ist dies der Festtag der «Lavagem do Bonfim», gefeiert zum Andenken an den Herrn des Guten Endes (Bon-fim), den christlichen Erlöser. Was in den Zeiten der Sklaverei der dem Kirchenfest der weissen Herren vorangehende Donnerstag war, an dem die Sklavinnen die Treppen der Erlöserkirche blitzblank zu scheuern hatten (daher: Lavagem ­ Waschung), ist im Laufe der Zeit zum wichtigsten religiösen Festtag des schwarzen Salvador geworden. Daher ist es zugleich das Fest Oxalás (auch: Orixalá), des Sohnes von Schöpfergott Olorum, Erschaffers der Menschheit und damit des ranghöchsten Gottes der afrikanischen Candomblé-Religion.

Von der Kampfform zum Tanz

Aber nicht nur die Düfte, auch die Klänge scheinen sich in der afrikanischen Luft Salvadors behender auszubreiten als anderswo. Der sonore, dumpf-jaulende Klang des Berimbau, eines aus einem Kürbisklangkörper und Bogen bestehenden Schlaginstruments, auf dem die da und dort gezeigten Capoeira-Darbietungen begleitet werden, ist jedenfalls weitherum in der Unterstadt von Salvador zu vernehmen. Capoeira bedeutet soviel wie Lichtung und verweist damit möglicherweise auf seinen Ursprung in den von entlaufenen Sklaven im 17. Jahrhundert im unwegsamen Hinterland verschiedenenorts gegründeten Siedlungen, den sogenannten Quilombos. Der legendäre Quilombo von Palmares etwa entwickelte sich zwischen 1630 und 1697 zu einer veritablen Schwarzenrepublik von zwanzig- bis dreissigtausend Einwohnern mit eigener Verwaltung, Regierung und Schutzorganen. Sklaven vom Stamme der Bantu aus Angola waren es, die mit dem Capoeira mangels Waffen eine von den Kolonisatoren gefürchtete und deswegen lange Zeit verbotene Kampfform schufen. Heute existiert nur noch die gleichsam befriedete, stilisierte Variante des Capoeira: ein wunderschöner, in geschmeidiger Langsamkeit zelebrierter Kampftanz, dessen klassische Form fast nur im Raume von Salvador anzutreffen ist.

Bemalter Oberkörper Bemalter Oberkörper
Tansatlantische Parallele ­ Initiationsritus in Nigeria (links) und in Bahia.

«Axé» kommt von weit her

Was den Sinnen in Salvador zufliegt, lässt sich vielleicht sogar benennen: «axé». Unter dieser Bezeichnung trat vor wenigen Jahren in der monatelangen Vorkarnevalszeit ein Musikstil seinen Triumphzug durch das ganze Land an, der seine Wurzeln ebenfalls im schwarzen Salvador hat. Die Stimme der (weissen) Sängerin Daniela Mercury und mehr noch die Perkussionsinstrumente des über die Landesgrenzen hinaus bekannten Bloco Afro-Olodum, waren ein unüberhörbarer Nachweis dafür, dass das Herz der brasilianischen Musikszene in Salvador seinen Sitz hat und seine Schläge afrikanischen Rhythmen folgen. Das der Yoruba-Sprache entstammende Wort «axé» bezeichnet ursprünglich eine positive Energie, eine Kraft, die in den Orixás ­ den Gottheiten des Candomblé ­ ihre religiösen Sinnbilder erhalten hat.

Axé kommt von weit her ­ räumlich und zeitlich: vom schwarzen Kontinent jenseits des Atlantik und über drei Jahrhunderte Kolonialgeschichte hinweg. «Pelourinho» ist der Name für die ehedem an zentral gelegenen Plätzen in den Boden gerammten Prangerpfähle, an welchen die schwarzen Sklaven länger als anderswo auf der Welt die körperlichen Züchtigungen der Kolonisatoren über sich ergehen lassen mussten. Heute brauchen Touristen, die sich in dem noch bis 1992 von Tagedieben und Prostituierten bewohnten Oberstadtviertel gleichen Namens aufhalten, Taschen und Kameras nicht mehr wie ehedem unwillkürlich fester an sich zu drücken, als dem Besuch dieses heruntergekommenen, aber vom Charme der Kolonialstilbauten noch immer zehrenden Viertels der Ruf vorauseilte, das Eldorado der Taschendiebe zu sein. Geblieben ist nach der mittlerweile abgeschlossenen Renovation des Altstadtkerns, der «cidade alta», der Name Pelourinho als Allegorie der unterprivilegierten Existenz.

Nomen est omen

Vielleicht ist es eine jener wunderlichen Fügungen, welche Geschichte mitunter als listig erscheinen lassen, dass der in portugiesischen Diensten segelnde Amerigo Vespucci just an Allerheiligen, dem 1. November 1503, gute hundert Kilometer südlich des zwölften Breitengrades in eine weitläufige Bucht einlief und diese nach dem Tag der Landung benannte: «Bahia de Todos os Santos» ­ eben ­ Allerheiligenbucht. Dem Entdecker folgten die kolonialen Verwalter des Besitzes und der Seelen. Bereits 1549 landete der erste Gouverneur Portugals, Tomé da Souza, in Salvador da Bahia ­ so der Name der inzwischen am nördlichen Zipfel der Bucht gegründeten Siedlung. Mit ihm kamen die ersten Jesuiten, die sich schon bald im Namen des weissen Gottes der rund um die Allerheiligenbucht ansässigen Indios annehmen sollten. Freilich erhielten die kirchlichen Seelenjäger schon bald gefürchtete Konkurrenz durch weisse Stammesbrüder, die es auf die Leiber der eingeborenen Bevölkerung abgesehen hatten. Im Auftrag der ersten Plantagenbesitzer durchstreiften ganze Horden von Sklavenjägern die Küstenstriche der Neuen Welt, um den neuen Herren des Zuckerrohrs die dringend benötigten Arbeitskräfte zuzuführen. Weil aber die meisten Indios die Zwangsarbeit nicht lange überlebten, entstand bereits seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ein transatlantischer Sklavenhandel. Die aus dem fernen Afrika importierten Sklaven erwiesen sich nicht nur gegen die von Kolonisatoren eingeschleppten Krankheiten als resistenter, sondern auch gegen die psycho-physischen Folgen der Zwangsarbeit: Apathie, Alkoholismus, Suizid.

So kamen denn mit den Kolonisatoren die Bantus aus dem südlichen Afrika, die Gegé aus Benin, Fanti und Ashanti von der Goldküste, Yorubas aus Nigeria und auch Schwarze von islamischen Ethnien. Und mit ihnen kamen ihre Gottheiten, die «Heiligen» der afrikanischen Naturreligionen ­ so auch die Orixás: Gottheiten des Candomblé, der heute lebendigsten und verbreitetsten religiösen Gemeinschaft afrikanischen Ursprungs in Brasilien, die ausserhalb von Bahia auch als Macumba, Xangô oder Batuque bekannt ist. Mit der Ankunft der Orixás erhielt der Name der Allerheiligenbucht von Salvador einen neuen, bis heute gültigen Sinn.

Zwar gerieten viele der afrikanischen Gottheiten im Laufe der Zeit in Vergessenheit. Aber etliche sind an der Allerheiligenbucht heimisch geworden, wenn auch unter Zuhilfenahme einer List: Sie schlüpften in die Gestalten und die Namen von katholischen Heiligen. Dass sie darin bis heute lebendig geblieben sind, beweisen die tanzenden Leiber ihrer Schutzbefohlenen, durch welche die Orixás Zeugnis von ihrer ungebrochenen Macht ablegen. Das trifft vielleicht in besonderem Masse für Iemanjá zu, die Mutter aller Orixás, Göttin des Meeres und der Fruchtbarkeit, in deren Namen jeden Februar in Salvador ein grosses Volksfest stattfindet.

Das Bildnis im Sand

«Ich sass am Strand,/ dem Wiegen des Meeres lauschend;/ Ich sah ein Bildnis im Sand,/ es war das von Iemanjá» ­ so heisst es, sinngemäss übersetzt, in einem Lied. Der ausgelassene Gesang, begleitet von rhythmischem Händeklatschen und dem Knallen von Feuerwerkskörpern, hätte eher auf ein nächtliches Strandfest schliessen lassen denn auf eine Zeremonie zu Ehren Iemanjás. Mit Bussen war die Gruppe von etwa dreissig schwarzen Frauen und Männern an den Strand gefahren, um der als eitel und wählerisch geltenden Schutzherrin der Fischer ihre Opfergaben zu entbieten: einen grossen Korb voll Esswaren, einige Kosmetika, einen kleinen Spiegel, das ganze liliengeschmückt und mit grosser Sorgfalt hergerichtet. Hin und wieder begleitet den Gesang und die rituellen Handlungen der «mãe-de-santo», der Priesterin, ein Trommeln, das wie durch eine Membran hindurch unter die Haut fährt. Es gibt Brasilianer, die sich hüten, solchen Ritualen beizuwohnen, weil man nie wissen könne, welchen Leib sich die angerufenen Götter erwählen und zum Tanzen bringen. Und Iemanjá wählte: Immer wieder fällt eine ihrer Töchter wie ohnmächtig zu Boden, rollt dann in zuckenden Bewegungen von Seite zu Seite oder windet sich wie ein Fisch, vielmehr: wie eine Nixe, im Sand. In der Tat begegnet Iemanjá in Darstellungen oft in Nixengestalt, mit den langen, schwarzen Haaren der Meerjungfrau, aber zugleich mit den Gesichtszügen der Gottesmutter aus der katholischen ikonographischen Tradition. In der Gestalt von «Nossa Senhora da Conceição» ­ Unserer lieben Frau der Empfängnis ­ hat die Fruchtbarkeitsgöttin Iemanjá ihr katholisches Ebenbild gefunden. Alte Darstellungen von Maria/Iemanjá mit der Korona und dem Gesicht der Gottesmutter sowie überproportionierten Brüsten als Symbolen der Fruchtbarkeit zeigen, mit welcher Leichtigkeit der afro-brasilianische Synkretismus sich selbst in den schweren Zeiten der Sklaverei Ausdruck verschafft hat.

Augen- und damit sinnfällig wird die Verbindung von Katholizismus und afro-brasilianischer Religion auch in den Farben. Weiss und Hellblau sind die gemeinsamen Farben Iemanjás und Marias. Weiss und Hellblau sind auch die Farben der Töchter Iemanjás und deren Priesterin. Unter dem Gesang der Umstehenden trifft die «mãe-de-santo» die letzten Vorbereitungen, ehe der Opferkorb ins Meer getragen und damit Iemanjá übergeben wird. Weiss und Blau sind schliesslich auch die Farben des unendlich weiten Himmels von Bahia. Nirgendwo sind sie von so intensiver Heiterkeit wie unter der sengenden Sonne von Brasiliens Afrika. Ihr Echo finden die himmlischen Farben in den Kirchen und auf den Friedhöfen: der Stätte der Hoffnung auf eine Zukunft im Himmel und der letzten Ruhestatt in der hellen, sandigen Erde.


Lic. phil. I Urs Strässle (ursstr@zuv.unizh.ch) ist Redaktor beim unipressedienst; er arbeitet an einer Dissertation im Fach Germanistik an der Universität Zürich.


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Last update: 24.6.1996