Wissenschaft erleben und verstehen

Eine Berufsausbildung, Berufs- oder Familienerfahrung wird vorausgesetzt und vor allem Interesse am wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten. Die private Hochschule Holzen in der deutschen Nachbarschaft von Basel animiert Seniorinnen und Senioren zur wissenschaftlichen Weiterbildung.

VON ERNST PETER FISCHER

In dem südbadischen Dorf Holzen (bei Kandern im Markgräflerland und somit ganz in der Nähe von Basel) wird seit 1995 in privater Trägeschaft ein Studienkolleg für Seniorenstudium und Weiterbildung errichtet. Inzwischen haben sich mehr als vierzig Studierende eingeschrieben, die auf drei Studiengänge verteilt sind.

Die Gründung strebt in naher Zukunft die staatliche Anerkennung an, um als private Hochschule Holzen der alten Idee der «universitas» eine neue Entfaltungsmöglichkeit zu geben.

Hintergründe und Motivation

Durch die Zusammenarbeit sowohl der Natur- als auch der Geisteswissenschaften mit den Künsten soll in Holzen die Ästhetik in ihrer ursprünglichen Form als Theorie der sinnlichen Wirklichkeitserkenntnis wiederbelebt und der traditionellen Form der logisch-rationalen Suche nach Wissen gleichwertig an die Seite gestellt werden, um die Kultur des Denkens mit der Kultur der Anschauung zu vereinen.

Am Anfang der Initiative stand ein Ästhetik-Symposion, in dem sich Künstler und Wissenschaftler mit Laien trafen. Die Lebhaftigkeit, mit der vor allem diejenigen Menschen, die auf das Ende ihres Berufslebens zugingen, bei dieser Konzeption mitmachten, gab den entscheidenden Impuls für eine Erweiterung der gemeinsamen Kulturarbeit. Die Teilnehmer empfahlen den Aufbau einer Hochschule, wie sie jetzt in Holzen entsteht.

Zielsetzungen

Ihre Zielsetzung leiten die Initiatoren aus Industrie, Wissenschaft, Kunst, Medien und Politik vor allem aus dem demographischen Wandel und dem wachsenden Orientierungsbedürfnis einer zunehmenden Zahl von Menschen ab, wie es sich in dem Unbehagen an Wissenschaft und Technik zeigt. – Die absehbare demographische Entwicklung in der Bundesrepublik lässt erwarten, dass kurz nach dem Jahr 2000 jeder fünfte Deutsche älter als sechzig Jahre sein wird und dann noch viele Jahre vor sich hat, die es mit Leben zu füllen und sinnvoll zu nutzen gilt. Die Hochschule Holzen bietet dazu ein Seniorenstudium an, das dem offenkundigen Bildungsbedürfnis der älteren Menschen Rechnung trägt.

Durch Einbeziehung der Berufs- und Lebenserfahrungen, die diese Studenten mitbringen, kann die Idee der universitas ihre Bedeutung als Gemeinsamkeit von Lehrenden und Lernenden in der Suche nach Erkenntnis zurückgewinnen. Ältere Menschen können erwarten, dass man ihren Eigenwert akzeptiert. Sie haben ein Recht auf Subjektivität und möchten weder das Objekt von Untersuchungen noch von Belehrungen sein, wie es die gerontologische Forschung in ihrem herkömmlichen Rahmen vorsieht.

– Die zunehmende Komplexität der Welt, in der sich jeder von uns täglich zurechtfinden muss und die durch die wachsende und weltweit zugängliche Informationsflut aus zusammenhanglosen Daten nur unüberschaubarer wird, hat bei vielen Menschen Ratlosigkeit hervorgerufen und den Wunsch nach Stärkung der eigenen Orientierungsfähigkeit geweckt.

Die Hochschule Holzen hilft bei der Suche nach zusammenhängendem Wissen und bietet Weiterbildung für alle diejenigen an, die ihre Fähigkeit zum aktiven Kulturerleben entwickeln und sie im Anschluss an das Berufsleben für das Gemeinwohl nutzbar machen wollen.

– Leitidee und geistiges Band soll die Wissenschaft der Ästhetik sein. Dieser Begriff leitet sich vom griechischen Wort für «Wahrnehmung» ab. Die Ästhetik ist im 18. Jahrhundert als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis entwickelt worden, in deren Mitte der die Welt erlebende Mensch steht.

Die Hochschule Holzen will als Stätte der wissenschaftlichen Forschung die Tragweite der so verstandenen Ästhetik erkunden, um zum einen der Versöhnung und dem Zusammenwirken der Disziplinen näher zu kommen und um zum anderen die Trennung von Erleben und Wissen zu überwinden, die viel zum Unbehagen an den modernen Naturwissenschaften beigetragen hat.

Forschung und Lehre an der Hochschule Holzen haben begonnen, ein eigenes Kulturkonzept zu entwickeln. Hierbei wird Humanität als Fähigkeit zum Gespräch verstanden und die Kunst des Dialogs als ästhetische Form in den Mittelpunkt gestellt. In den ersten beiden Jahren ihres im Herbst 1996 aufgenommenen Studienbetriebs wurden in Holzen geeignete Lehrformen entwickelt, um in kleinen Gruppen von Studierenden und Lehrenden den Weg zu den vorgestellten Zielen zu finden. Die dabei angestrebte Gemeinsamkeit und das Bemühen um Bildung hat Immanuel Kant in dem Satz ausgedrückt, der auf dem Grundstein
in Holzen zu lesen ist:

«Der Mensch ist bestimmt,
in einer Gesellschaft
mit Menschen zu sein
und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften
zu kultivieren.»

Wissenschaftliche Weiterbildung für Senioren

Der Terminus «Weiterbildung» besitzt seit 1970 die höheren Weihen des öffentlichen Bildungswesens. Damals definierte der Deutsche Bildungsrat Weiterbildung als die «Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Ausbildungsphase».

Heute gilt als Konsens, dass Weiterbildung «allen Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht und Alter, ihrer Bildung, sozialen und beruflichen Stellung, politischen oder weltanschaulichen Orientierung und Nationalität, die Chance bieten soll, sich die für die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Mitgestaltung der Gesellschaft erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen».

1992 gab in Deutschland die «Konzertierte Aktion Weiterbildung» erste gesonderte «Empfehlungen zur wissenschaftlichen Weiterbildung älterer Menschen» heraus. Dieser Text stellt die bisher klarste bildungspolitische Willensäusserung zu diesem Thema dar. Er begründet die Notwendigkeit von Angeboten wissenschaftlicher Weiterbildung mit vier Argumenten:

Erstens ist mit einer ständig wachsenden Zahl älterer Menschen zu rechnen, die sich an Hochschulen weiterbilden wollen. Dazu zählen nicht nur alle Personen jenseits der Pensionierungsgrenze, sondern auch Frauen nach der Familienphase, Berufstätige im letzten Drittel ihres Berufslebens oder junge Ältere, die arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind.

Zweitens lässt sich ein zunehmender Bedarf der Gesellschaft an weitergebildeten Älteren erkennen. Eine von Wissenschaft, Technik und tiefgreifenden Veränderungen geprägte Welt erfordert in immer höherem Mass die qualifizierte Mitwirkung aller Bevölkerungsgruppen.

Drittens führt die Empfehlung der «Konzertierten Aktion» die Bedeutung der wissenschaftlichen Weiterbildung für die Selbstverständigung der älteren Generation in der Gesellschaft an. Sie spricht von der «Ausfüllung der nachberuflichen Lebensphase».

Das vierte Argument nennt Vorteile für die Hochschulen selbst. Die Weiterbildung bringt ihnen «aufgrund des umfangreichen Erfahrungswissens, das die Älteren in die Lehrveranstaltungen einbringen, einen wesentlichen Erfahrungsgewinn, der wiederum der grundständigen Lehre in einem bisher noch nicht voll erkannten Umfang zugute kommen kann».

Aus diesen Gründen hält es die «Konzertierte Aktion Weiterbildung» für unzureichend, wenn an vielen Hochschulen wissenschaftliche Weiterbildung für Senioren nur dadurch stattfindet, «dass reguläre Lehrveranstaltungen für ältere Gasthörer geöffnet werden». Eine «über den Gasthörer-Status hinausgehende wissenschaftliche Weiterbildung Älterer ist eine originäre Aufgabe der Hochschule», die «eine eigenständige Struktur und die Einbeziehung zusätzlicher Lehrveranstaltungen mit eigenständiger Methodik und Zielsetzung» erfordert.

Die wissenschaftliche Weiterbildung Älterer ist somit eine notwendige Aufgabe der Hochschulen. Angesichts der weiterbestehenden Überfüllung der Hochschulen kann sie nur getrennt von den Massenveranstaltungen realisiert werden. Sie kann nur in gesonderten (experimentellen) Studiengängen und –mit Blick auf die leeren Staatskassen – nur in privater Trägerschaft gelingen. Die Initiatoren der Hochschule Holzen haben daraus die Konsequenz gezogen.

Interdisziplinäre Studiengänge

Das Studium in Holzen geht auf den ersten Blick wie an einer normalen Universität vor sich. Es gibt Vorlesungen, es gibt Übungen, und es gibt Seminare. Insgesamt ist man bis zu vier Stunden am Vormittag und zwei Stunden am Nachmittag im Hörsaal, im Seminarraum oder im Atelier, wobei dieser letzte Raum eine Holzener Besonderheit andeutet. Studierende nehmen an praktischen Übungen teil, die an der Staffelei im Atelier der Hochschule durchgeführt werden und sie mit dem Kunstschaffen vertraut machen. Kunst und Wissenschaften gehören in Holzen untrennbar zusammen, und aus diesem Grund werden den Studierenden interdisziplinäre Veranstaltungen angeboten.

Das Studium in Holzen ist auf drei Jahre angelegt, wobei ein Studienjahr in drei Trimester von jeweils acht Wochen eingeteilt wird. (Die Trimester dauern von Mitte Oktober bis Mitte Dezember, von Anfang Februar bis Ende März und von Anfang Mai bis Ende Juni.) Das erste Jahr besteht konkret aus einem «Grundstudium» (Studium fundamentale), bei dem ein Thema – zum Beispiel «Wahrnehmung von Raum und Zeit» – aus den drei genannten Perspektiven anvisiert und den Studierenden nahegebracht wird.

Im Grundstudium kann man seine Studierfähigkeit kennenlernen und herausfinden, für welches Fach das wissenschaftliche Interesse am grössten ist. Die so gewählte Richtung lässt sich in dem nachfolgenden «Aufbaustudium» (Studium generale) im zweiten Jahr vertiefen und ausbauen. Das «Fachstudium» (Studium speziale) im dritten Jahr bietet die Möglichkeit, eine wissenschaftliche oder künstlerische Arbeit anzufertigen.

Sowohl das Grund- als auch das Aufbaustudium verlaufen interdisziplinär, und zwar auch in dem Sinne, dass die Dozenten mit zuhören, wenn ihre Kollegen vortragen. Der Naturwissenschaftler nimmt an den Vorlesungen über Kunst und Philosophie teil, die Philosophin ist dabei, wenn die Künste und die Naturwissenschaften verhandelt werden, und Entsprechendes gilt für den Kunstwissenschaftler. In solch einem interdisziplinären Kreis können dann die aktuellen wissenschaftlichen Fragen aufgegriffen und erörtert werden, die zwar in der Öffentlichkeit von Interesse sind, zu denen sich aber die spezialisierten Universitätsprofessoren längst nicht mehr verbindlich vernehmen lassen.

Lernen in Gemeinschaft

In Holzen sollen wissenschaftlich begründete Stellungnahmen zu Zeitfragen – etwa zum Klonieren von Lebewesen oder zur Wahrnehmung von Arbeitslosigkeit – in Gemeinschaft von Lernenden und Lehrenden erarbeitet werden. Die Lebenserfahrung der Studierenden kann der Diskussion dabei zugute kommen, vor allem, wenn – wie es konkret im ersten Jahr der Fall war – so unterschiedliche Berufsgruppen zusammenkommen. In einem Hörsaal in Holzen sitzt die ehemalige Sekretärin neben dem früheren Arzt, der Kunsthändler tauscht seine Mitschriften mit der Krankengymnastin aus, die Botschaftsleiterin bereitet mit dem Manager ein Referat vor, der Oberst interpretiert Lyrik und die Haufrau wundert sich über das Verschwinden der Gegenstände, das die Physiker erkennen und die Maler vollziehen.

Wer in Holzen studiert, hat die Chance, Wissenschaft zu erleben und sie dabei zu verstehen. In Holzen wird in einer Gemeinschaft gearbeitet, die sich durch das Ziel der wissenschaftlichen Weiterbildung definiert. Nach Holzen kommt, wer das Gefühl hat, dass die moderne Entwicklung des Wissens und der Kultur einfach so an ihm oder ihr «vorbeigerauscht» ist, wie es viele Studierende ausgedrückt haben, und sich damit nicht abfinden will, sondern die Konsequenz zieht, dass die Jahre nach dem Berufsleben die Chance bieten, hier wieder den Anschluss zu finden. Holzen macht Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.


Zusätzliche Information über die private Hochschule Holzen: http://www.ub.uni-freiburg.de/holzen/


Prof. Dr. Ernst Peter Fischer, Wissenschaftshistoriker, ist Mitbegründer der privaten Hochschule Holzen und unterrichtet Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz.

unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 17.04.99