Lebenslauf als systemischer Prozess

Der Gerontologie wird gelegentlich vorgeworfen, zwar viele Einzelbefunde, aber keine konsistente Theorie hervorgebracht zu haben. Ist die Forderung nach einer einheitlichen, umfassenden Theorie überhaupt berechtigt? In der sozialen Gerontologie zeichnet sich diesbezüglich ein Paradigmenwechsel ab.

VON HANS RUDOLF SCHELLING

Die Gerontologie ist keine klar abgrenzbare Disziplin im klassischen Sinne. Sie steht quer zu den herkömmlichen Fächern und leitet ihre Relevanz nicht aus einer abstrakten Klassifikation, sondern aus Anforderungen der Praxis, aus aktuellen gesellschaftlichen Fragen ab. Sie ist – ähnlich wie etwa die Umweltwissenschaften – immanent eine inter- oder transdisziplinäre Wissenschaft, die Erkenntnisse aus verschiedenen Einzeldisziplinen zusammentragen, integrieren und für die Praxis nutzbar machen muss.

Da das menschliche Altern eine Vielzahl von Prozessen beinhaltet, die nur lose durch die Bestimmungsgrössen «menschlicher Organismus» und «Lebenszeit» zusammengehalten werden, ist der Ruf nach «der» Theorie der Gerontologie unrealistisch. Zu allererst wäre zu bestimmen, ob über das kalendarische (strikt lebenszeitgebunden), das biologische (Veränderungen des biologischen Apparats), das funktionale (Fähigkeit zur Bewältigung alltäglicher Anforderungen), das psychologische (kognitive, emotionale und selbstreflexive Aspekte) oder über das soziale respektive soziologische Alter (Aspekte der Rollen und des sozialen Status von Altersgruppen) gesprochen werden soll. Bereits diese Begriffe sind kaum scharf definierbar.

Eine Geschichte der sozialen Gerontologie kann nicht streng linear, als Kette sich überholender und differenzierender Theorien im engeren Sinne dargestellt werden. Vielfach handelt es sich bei den «Theorien» eher um Ansätze, um Blickwinkel, die sich als Ausdruck bestimmter Paradigmen verstehen lassen.

Grob vereinfachend lassen sich drei zeitlich überlappende Paradigmen der psychologischen und soziologischen Gerontologie ausmachen:

Alter als Defizit

Altern wurde herkömmlicherweise primär als Abbauprozess verstanden, in dessen Verlauf das Individuum seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten verliert. Belege für diese Auffassung lassen sich in vielen Quellen der «vorwissenschaftlichen» Zeit finden, durchmischt mit der gegensätzlichen Auffassung, das Alter sei
die Lebenszeit der Reife und Weisheit.

Die frühesten wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigten solche Abbauprozesse. So fand der Belgier Adolphe Quetelet 1835, dass die Produktivität englischer und französischer Dramatiker bis zum Alter von etwa fünfzig Jahren zunahm, nach 55 aber wieder zurückging. Sir Francis Galton untersuchte 1885 tausende von AusstellungsbesucherInnen hinsichtlich psychophysiologischer Leistungsfähigkeit und stellte einen Abbau ab rund siebzig Jahren fest.

Um die Jahrhundertwende dominierte eine physikalistische «Lebenskraft-Aufbrauch-Theorie», nach der durch Ruhigstellung und Reduktion des Energieverbrauchs eine Lebensverlängerung möglich sei.

In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts begann, vorerst in den Vereinigten Staaten, eine systematische Altersforschung. Da kurz zuvor die Intelligenzmessung erfunden worden war, lag es nahe, das neue Instrument des Intelligenztests auf Menschen verschiedenen Alters anzuwenden. Die Befunde, gewonnen aus Massenuntersuchungen der amerikanischen Armee, schienen eindeutig: Die höchsten IQ-Werte wiesen Männer zwischen zwanzig und dreissig Jahren auf, über dreissig waren zunehmende Defizite zu verzeichnen.

Dieses Bild – Kulminationspunkt im frühen Erwachsenenalter, danach stetig abfallende Leis-tungskurve – besteht auch heute noch in vielen Köpfen, nicht nur in bezug auf die kognitive Leis-tungsfähigkeit und nicht nur bei Laien. Gerade Praktikerinnen und Praktiker in sozialen und Gesundheitsberufen sind einem professionellen Bias ausgesetzt: Sie haben vornehmlich mit Menschen mit Defiziten zu tun; eine Generalisierung erfolgt oft allzu rasch. Auch in den Medien finden sich Texte, die Alter vornehmlich mit Krankheit, Beschwerden, Gedächtnisverlust, Armut, Hässlichkeit, Einsamkeit, Griesgram und Untätigkeit in Verbindung bringen.

Das Defizitmodell bildete auch eine Grundlage für die viel diskutierte, aber heute kaum noch vertretene Disengagementtheorie. Elaine Cumming und William E. Henry publizierten 1961 eine Studie, in der sie glaubten aufzeigen zu können, dass Menschen, die im höheren Alter ihre gesellschaftlichen Rollen reduzierten, zufriedener wurden. Daraus leiteten sie die These ab, Menschen sollten den Gleichgewichtszustand zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individueller Leistungsfähigkeit im Alter aufrechterhalten respektive wieder herstellen, indem sie sich von gesellschaftlichen Aufgaben und Verpflichtungen zurückzögen. Das Disengagement sei ein unvermeidlicher Prozess, der die Vorbereitung auf den nahenden Tod erst ermögliche.

Differenzierung: Abbau versus Stabilität

Bereits in den zwanziger und dreissiger Jahren hatten einzelne Autoren darauf hingewiesen, dass die festgestellte geringere Intelligenz älterer Menschen nicht zwangsläufig zu schlechteren beruflichen Leistungen führten, da diese Verluste durch Lebens- und Berufserfahrungen kompensiert werden könnten.

Ab den sechziger Jahren wurden solche Gesichtspunkte systematischer berücksichtigt. So wurde zwischen zwei Arten von Intelligenz unterschieden. Die «flüssige» Intelligenz, die sich auf abstrakte Informationsverarbeitung unter Zeitbeschränkung bezieht (zum Beispiel rechnerisches Denken), nimmt mit dem Alter ab, die «kristallisierte» Intelligenz hingegen, die stärker alltagsbezogene Kompetenzen wie Allgemeinwissen, Urteilsfähigkeit und Wortschatz beinhaltet, bleibt bis ins höhere Alter recht stabil.

Die Daten, die das Defizitmodell gestützt hatten, waren aus Querschnittstudien gewonnen worden. Längsschnittstudien, in denen die selben Individuen über einen längeren Zeitraum mehrfach untersucht wurden, ermöglichten nun eine Unterscheidung von Alters- und Kohorteneffekten – mit bemerkenswerten Folgen: Ein grosser Teil des vermeintlichen Altersabbaus konnte durch unterschiedliche Sozialisationsbedingungen nacheinander folgender Generationen erklärt werden. Innerhalb einer Kohorte bleibt die Leistungsfähigkeit über die Jahre weitgehend stabil. Auch in bezug auf die Gesundheit oder auf die Persönlichkeit mehrten sich die Hinweise auf Stabilität.

Solche Feststellungen verführten manche dazu, jeden alterskorrelierten Abbau in Abrede zu stellen. In krassem Widerspruch zur erwähnten Disengagementtheorie postuliert die Aktivitätstheorie, die Lebenszufriedenheit alter Menschen könne nur aufrechterhalten werden, wenn sie möglichst stark in der Gesellschaft integriert blieben und auch entsprechende Rollen beibehielten.

Dieser Theorie wurde vorgeworfen, sie sei zu sehr auf das mittlere Alter fixiert und ignoriere die spezifischen Anforderungen und Lebenslagen im höheren Alter.

Als Antwort darauf und in Abgrenzung von der Disengagementtheorie entwickelte Robert J. Havighurst eine Theorie von Entwicklungsaufgaben, die Konzepte der Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters auf die ganze Lebensspanne erweiterte. In jeder Lebensphase habe das Individuum bestimmte Aufgaben zu erfüllen, dessen erfolgreiche Meisterung Bedingung für Zufriedenheit und für die Kompetenz zur Bewältigung späterer Aufgaben sei. Die Entwicklungsaufgaben ergäben sich aus dem Spannungsfeld zwischen körperlich-biologischen Gegebenheiten, den gesellschaftlichen Erwartungen sowie individuellen Erwartungen und Bedürfnissen.

In dieser zweiten Phase – die bis heute andauert – erfolgten Differenzierungen in den Forschungsmethoden der Gerontologie, in den Perspektiven, unter denen zum Beispiel die Leistungsfähigkeit betrachtet wurde, aber auch in der Betrachtung der Gesamtheit der alten Menschen. Aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung wird heute häufig ein drittes und ein viertes, manchmal gar ein fünftes Alter unterschieden, entsprechend den jungen Alten, die häufig ein sehr aktives Leben nach der Pensionierung führen, den Betagten, bei denen vermehrt Altersbeschwerden und Einschränkungen vorkommen, und schliesslich den Langlebigen, die sich durch eine verlängerte Phase guter Gesundheit auszeichnen.

Diesen Stufen sind nur beschränkt Lebensjahre zuzuordnen; sie meinen ein funktionales Alter, dem eher als die Anzahl gelebter die Anzahl noch zu lebender Jahre entspricht, das also retrospektiv als Nähe zum Tod definiert werden könnte.

Wichtig ist die Unterscheidung zwischen «normalem» und «krankem» Altern. Leistungs- und Kompetenzverluste treten in erheblichem Ausmass nur bei Menschen auf, die medizinisch diagnostizierbare Krankheiten aufweisen.

Intervention, Prävention und Bewältigung

Erst ab den siebziger Jahren wurde die bisherige diagnostische Sicht des Alterns vermehrt durch eine interventionsbezogene ergänzt. Die Differenzierung öffnete den Blick auf die Bedingungen «erfolgreichen» Alterns und damit auf Möglichkeiten, mit gezielten Massnahmen nicht primär dem Leben mehr Jahre, sondern den Jahren mehr Leben zu geben. Ein Kompetenzmodell trat an die Stelle des Defizitmodells.

Statt nur Abbau oder Stabilität zu diagnostizieren, wurde etwa die Plastizität der menschlichen Leistungsfähigkeit ausgetestet. Ein generelles Resultat: Mit gezieltem Training lassen sich körperliche und geistige Fähigkeiten nicht nur lange auf hohem Niveau erhalten, sondern – sofern nicht etwa eine Demenzerkrankung vorliegt – sogar erlittene Verluste rückgängig machen. Damit bestätigte sich die alte «Disuse»-Hypothese, wonach nicht gebrauchte Kompetenzen verkümmern; landläufig: Wer rastet, der rostet.

Intervention darf indessen nicht als von den «Jungen» den «Alten» verordnete Massnahme verstanden werden. Der Verzicht auf behindernde Massnahmen, etwa auf einen strikt am kalendarischen Alter festgemachten Ausschluss aus gesellschaftlichen Funktionen, ist ebenfalls eine präventive Intervention in diesem Sinne.

Die Kontinuitätstheorie von Robert C. Atchley versucht solchen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen. Sie geht von der Feststellung aus, dass Brüche im Lebenslauf Krisen verursachen können, welche die Lebensqualität und die Kompetenzen beeinträchtigen. Der Mensch habe ein grundlegendes Bedürfnis nach Kontinuität innerer und äusserer Strukturen – sofern diese nicht belastend sind. Innere Strukturen beziehen sich auf das subjektive Orientierungssystem, auf kognitive Fähigkeiten, Persönlichkeitseigenschaften usw.; äussere Strukturen auf die soziale und physikalische Umwelt.

Kontinuität meint indessen nicht Konstanz, sondern schliesst Anpassungsprozesse an allmähliche Veränderungen mit ein. Entscheidend sind dabei weniger die objektiven Gegebenheiten als subjektive Wahrnehmungen und Bewertungen. Die individuelle Verarbeitungskompetenz hinsichtlich gerade im Alter vielfach unabwendbaren Veränderungen sowie deren Kompensation erhalten damit einen zentralen Stellenwert.

An dieser Stelle setzen auch Copingtheorien an, die in den letzten Jahren in die soziale Gerontologie eingeflossen sind. Während diese indessen auf das Individuum fokussieren, fordert die Kontinuitätstheorie auch Massnahmen auf der externen Ebene, etwa in sozialpolitischer oder infrastruktureller Hinsicht.

Eine allgemeine Systemtheorie des Lebenslaufs?

Während frühe Ansätze in der Gerontologie vorrangig das Individuum betrachteten, treten heute systemische respektive ökologische Betrachtungen in den Vordergrund.

«Ökologisch» meint dabei nicht nur die natürliche, sondern auch die soziale und kulturelle Umwelt, mit der das System – das alternde Individuum – sich in einem ständigen und sich laufend verändernden Transaktionsprozess befindet. Die Umwelt verändert das Individuum, das Individuum verändert gleichzeitig seine Umwelt.

Der Anspruch einer systemisch-ökologischen Gerontologie, nicht nur Zustände, Relationen oder einzelne Interaktionen sichtbar zu machen, sondern der Komplexität eines offenen Prozesses gerecht zu werden und daraus handlungsleitende Erkenntnisse zu gewinnen, erfordert eine Neuorientierung der Forschungsmethoden. Notwendig sind vermehrt Längsschnitt- und Zeitreihenstudien sowie eine Kombination quantitativer und qualitativer Methoden.

Eine moderne Theorie des «erfolgreichen Alterns» muss sich dabei auf Ressourcen des Individuums (psychische/kognitive sowie biologische Ressourcen), auf Ressourcen der Umwelt (physikalische, biologische, technische, ökonomische, psychosoziale und soziokulturelle Ressourcen) sowie auf deren Wechselwirkungen im Laufe der Zeit konzentrieren. Da die Ressourcen eines Individuums zu wesentlichen Teilen früher erworbene Kompetenzen und allozierte Umweltressourcen sind, reicht es nicht mehr aus, das Alter als separate Lebensphase zu betrachten – abgesehen davon, dass bisher niemand schlüssig aufzeigen konnte, wann dieses denn beginne. Mit einem solchen Ansatz bieten sich Anschlussstellen für alle Bereiche der Gerontologie, ebenso aber für alle übrigen Humanwissenschaften. Er bildet sicher nicht eine einfache, falsifizierbare Theorie des Alterns, aber einen Bezugsrahmen, ein Raster, in den sich spezifische Theorien und Befunde einordnen und vermitteln lassen.

Damit ist wenig gewonnen für die Ausdifferenzierung einer separaten Disziplin «Gerontologie» oder auch nur «Sozialgerontologie» – aber haben nicht zu lange schon einander benachbarte Disziplinen einen grossen Teil ihrer Kräfte in die gegenseitige Abgrenzung investiert? Die Gerontologie bleibt letztlich ein Flickenteppich, aber ein besser verwobener, der auf festerem Boden liegt.


LITERATUR

Robert C. Atchley: The social forces in later life. An introduction to social gerontology (2nd ed.). Wadsworth, Belmont, CA 1977.

Gertrud M. Backes, Wolfgang Clemens: Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung. Juventa-Verlag, Weinheim 1998.

Elaine Cumming, William E. Henry: Growing old. The process of disengagement. Basic Books, New York 1961.

Robert J. Havighurst: Developmental tasks and education (3rd ed., 6th print). Longman, New York 1981.

Ursula Lehr: Psychologie des Alterns (8. Aufl., erg. und bearb. von Hans Thomae). UTB/Quelle & Meyer. Heidelberg 1991.

H.-W. Wahl: Ökologische Perspektiven in der Gerontopsychologie: Ein Blick in die vergangenen drei Jahrzehnte und in die Zukunft. Psychologische Rundschau, 44, 232–248, 1992.


Hans Rudolf Schelling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Sozialpsychologie des Psychologischen Instituts und Mitglied des Beirats des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich.


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Last update: 17.04.99