Zäh wie Schusterpech klebt die alte Meinung, die «Alten» hätten es früher besser gehabt; im sozialen Netz der Kernfamilie seien die Probleme der dritten Generation in gelungener Weise aufgefangen worden, und diese alte Institution könne der modernen Gesellschaft zum Vorbild dienen. Das Geschichtenbuch der Geschichte warnt indes vor allzu raschen Idyllisierungen der Vergangenheit.
VON RUDOLF SCHENDA
|
Früher, so heisst es oft, sei alles noch in Ordnung gewesen; in heiler Umwelt seien vor allem die Alten eines harmlosen Auskommens und der Hochachtung der Jüngeren sicher gewesen. Da habe noch die Weisheit des Jesus Ben Sirach (genannt «Ecclesiasticus») gegolten: «Wer den Vater ehrt, sühnt Sünden, und wer seine Mutter achtet, ist wie einer, der Schätze sammelt.» (Sir. 3, 3-4).
Aber zeigen diese Ermahnungen nicht auch, dass sie nötig waren und vielen Menschen der mittleren Generation immer wieder vorgelesen werden mussten? Und beziehen sich solche Gebote nicht eher auf den alten Verbund der Kernfamilie und viel weniger auf eine Verpflichtung gegenüber der gesamten Gemeinde? Und haben sich seit Jesus Sirach die sozialen Verhältnisse nicht grundlegend geändert?
Die Idylle vom «Stöckli»
Die Einwände sind berechtigt, und Tadel an den bestehenden Verhältnissen ist zunächst einmal angesagt. Denn es lässt sich ja nicht leugnen, dass heute in vieler Hinsicht und mehr noch in manchem Land das Auskommen und Einkommen der Rentnerinnen und Rentner zu wünschen übrig lässt, dass die Jungen die Alten nicht ehren, sondern stören, und dass das Glück der Greise, vor allem ihre Gesundheit, trotz aller Anstrengungen der chemischen Industrie, oftmals im Argen liegt. Die moderne feministische Theorie spricht gar von «ageism» in Parallele etwa zu «racism» oder «sexism»: «Greisismus» wäre dann die Summe der heute grassierenden Vorurteile und Diskriminierungen in bezug auf alte Menschen eine lange Liste des Elends.
So stellt sich mancher betagte und benachteiligte Mensch vor, die Um- und Zustände müssten doch früher weniger herb gewesen sein, ausgeglichener, sorgloser, «gäbiger». Doch die Idylle vom «Stöckli» oder dem «Altenteil» der guten alten Zeit täuscht.
Da liessen sich mehr als tausend Geschichten anführen aus der frühen Neuzeit, Texte, die andere Aussagen machen (auch wenn die strengen Historiker solche «weichen» Quellen gering achten). Doch hier gilt es, sich kurz zu fassen, und so mögen wenige Beispiele genügen. Sie beziehen sich auf die althergebrachte Missachtung der dritten Generation allgemein, insbesondere aber der «alten» Frauen.
Das vierte Gebot
Die Achtung vor den Älteren musste den Jüngeren immer wieder im Rahmen der katechetischen Erklärungen zum vierten Gebot («Du sollst Vater und Mutter ehren ...») nahegelegt werden: «Ob gleich dein natürlicher Vatter und Mutter arm, kranck, gebrechlich, unachtbar sind, soltu dich ihres Elends nicht schämen, noch vil weniger jnen ubel nachreden und fluchen, [...] jnen ohn Widerbellen, Klagen und Murren gern gehorsamen [...]» so lehrte es der Zürcher Pfarrer Otto Werdmüller um die Mitte des 16. Jahrhunderts die Gläubigen der mittleren Generation, deren Eltern schon betagt und folglich nicht mehr im Vollbesitz ihrer Arbeitskräfte waren.
Die Eltern, das sind die Alten, welche auf die Hilfe der mittleren Generation angewiesen sind. Nicht immer erfuhren sie die gebotene Unterstützung und Hochachtung; sie mussten stattdessen die Jungen fluchen und «widerbellen» hören.
Hat die massive Tugendlehre, wie sie seit der Reformation von protestantischen wie von katholischen Kanzeln schallt, einen disziplinierenden Effekt gehabt? Die Antwort auf die schwierige Frage nach dem allfälligen Erfolg von moralischer Indoktrination fällt uns leichter, wenn wir einen Sprung in das aufgeklärte Jahrhundert wagen: zu den führenden Intellektuellen, die von der Perfektibilität unserer Zivilisation überzeugt waren.
Johann Samuel Patzke, Herausgeber einer moralischen Wochenschrift mit dem Titel «Der Greis», schreibt dort 1763 in seiner Einführung: «Das Alter giebt uns ein gewisses Zutrauen zu uns selbst, und die Gesellschaft hat grösstentheils [!] für hohe Jahre und ein graues Haupt ein günstiges Vorurtheil und einige Ehrfurcht. [...] Wenig Menschen werden so ungezogen seyn, dass sie über ein graues Haupt spotten [...]. Sein silbernes Haupthaar, welches mit einigen Verdiensten für die menschliche Gesellschaft wie mit einer Krone gezieret ist, leget jedermann einen Tribut von Ehrfurcht auf.»
Das gäbe nun Anlass zu Vertrauen in die Fortschrittsfähigkeit der Gesellschaft, doch gebieten Patzkes Metaphern aus dem Bereich des Adels einige Vorsicht. Achtung vor den Greisen war wohl in gebildeten bürgerlichen Kreisen der kulturellen Blütezeit nach dem Siebenjährigen Krieg vorherrschend, doch dürfen wir bezweifeln, ob diese humanitäre Lehre schon bis in das Bewusstsein der Unterschichten vorgedrungen war, und wir müssen auf jeden Fall die Frage stellen, ob alte Frauen denn ebenso geachtet waren wie ihre männlichen Mitbürger. Denn selbst in Patzkes aufgeklärtem «Greis» steht (4. Teil, 1763, 373) zu lesen: «Man findet alte Frauenzimmer unerträglicher, weil sie schlechtere Eigenschaften an sich haben als alte Männer [...]. Sie haben nicht gelernt, womit sie sich beschäftigen und unterhalten sollen, sie sind daher in ihrem Alter schwächer [...], können weniger unterhalten und den Abgang ihrer Annehmlichkeiten nicht durch Weisheit und Tugend ersetzen. Sie müssen unerträglicher sein.» Doch hat die alttradierte Verachtung betagter Frauen noch andere Gründe.
Alte Weiber fressen viel
Der Lirum-larum-Löffelstiel-Reim erinnert an den Vorwurf der Jüngeren, die Alten lägen ihnen auf der Tasche. Alte Frauen, so der Vorwurf, vergeuden nicht nur die knappen Geldressourcen des Familien- oder Staatsbudgets; sie stören auch ästhetische Ansprüche.
Es sind besonders die alten Frauen, denen in einer auf die Antike zurückgehenden misogynen Überlieferung Unansehnlichkeit oder gar abstossende Hässlichkeit unterstellt wird. Drei stets wiederkehrende Themen seien in diesem Zusammenhang nur kurz erwähnt: die Missbilligung des Wunsches nach Verjüngung, die Verspottung der verliebten Matrone und die Gegenüberstellung von runzligem Alter und blühender Jugend; diese Themen haben letztlich mit Sexualität und Fortpflanzung des Menschengeschlechts zu tun; sie reduzieren die Qualitäten der Frau biologistisch auf erotische Ausstrahlung, Paarungstätigkeit, Mutterschaft, Nährung der Nachkommen und hausfrauliches Walten und billigen ihr keine weiteren Eigenschaften oder Aktivitäten zu. Ein solches Bild der Frau ist, teilweise bis heute, eine Collage aus Naturzuschreibungen; positive geistige Tätigkeiten, psychische Ausstrahlungen und soziale Rollen bleiben dabei ungenützte Farbtöpfe. Nehmen wir nur einmal das Beispiel der Werturteile über das äussere Aussehen (sie wirken heutzutage ebenso mächtig wie lästig über die Werbung der Kosmetikindustrie).
Hässlichkeit und Jungbrunnen
Je älter, um so hässlicher diese Redensart war auch der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans (der «Liselotte von der Pfalz») geläufig. Am 26. November 1693 schreibt sie aus Versailles an die Kurfürstin Sophie von Hannover: «[...] Je älter ich werde, je hesslicher muss ich woll werden, aber mein Humor undt Gemühte konnen nicht mehr endern.» Die Fürstin schätzte ihr Aussehen offenbar realistisch ein, hatte aber gleichzeitig den Trost parat, dass Geist und Seele nicht einen Alterungs-, sondern einen Reifungsprozess durchmachen.
Doch auf der populären Ebene lieferte das Alter der Frauen Stoff genug zu Spöttelei und Witz: Da steht zum Beispiel in einem barocken Schwankbuch («Hans-Wurst von Frölichshausen», 1712, Nr. 209) von der alten Frau zu lesen, die sich in verschiedenen Spiegeln betrachtete und, ihr Alter nicht wahrhaben wollend, bemerkte: «Da ich noch jung war, machte man weit schönere Spiegel.» Für noch lächerlicher hielten die Weisen den doch gemeinmenschlichen Wunsch, noch einmal wieder jung zu sein, und das um so mehr, wenn sie die Verjüngungssehnsucht bei alten Frauen festmachen konnten.
In der ältesten Märchensammlung Europas, dem «Pentamerone» des Giambattista Basile (um 1635) ist keine Geschichte so grausam wie die von der Alten, die sich schinden lässt, um wieder schön zu erscheinen. («La vecchia scortecata», I, 10). Weiter im Norden liest sich das sanfter, aber ebenso deutlich:
Der könnte manchen Kuss und gute Pfenning haben von einem alten Schatz, wenn er hätt diese Gaben: Das zarrichte [spannige] Gesicht, die rauche Runzel-Ware zu machen wieder glatt und geben junge Jahre.
So spottet der Zürcher Stadtarzt Johann von Muralt im Jahre 1692 in seinem «Hippocrates Helveticus» über alle Versuche, «Alte Weiber jung [zu] machen». Es sei, so meint er, «alten Weibern sehr vor übel zu halten, wann sie sich mit Schmincken behelffen wollen»; die Anstrengungen der Verjüngungskosmetik nennt er «vergeblich und lästerlich», und doch gesteht er ein, dass die antike und die moderne Literatur Exempel von fernab wohnenden Menschen kenne, denen «die Brüste starck und bausend worden, und die Runtzeln und Falten der Haut alle wieder vergangen».
Doch solcher Beispielgeschichten «darff sich niemand getrösten und sich Hoffnung machen», denn hierzulande fehlten die notwendigen exotischen Elixiere und die fabulösen Jungbrunnen.
Kein Anrecht auf Sexualität
Oder nehmen wir den Kasus der Liebesbegierden und des Austausches von Zärtlichkeiten unter den Greisen:
[...] Vors erste müsset ihr den Trieb des Muhtes zwingen, und euch die Lüste nie nicht lassen unterbringen. Was unsern Geist entstellt, das ist uns nimmer guht, und mehr noch, wann wir alt und kalt von Muht und Bluht.
Das meint der niederländische Arzt Johannes von Beverwijk aus Dordrecht in seiner «Allgemeinen Artzney» von 1674 in einem Gedicht über die «Lebensahrt der Alten Leute». Der «Mut» (das Mütchen, das die Jungen so gerne kühlen), der des Geistes unwürdig ist, bedeutet den Sexualtrieb, doch auf den sollten die Betagten (die damals zwischen fünfzig und sechzig Jahren zählten), alt und kalt wie sie sind, verzichten. «Wenn es in den Bergen schneit» (die Haare weiss werden), so spottete schon der Arzt François Rabelais in seinem «Pantagruel», «dann wird es kalt im Tal» und über diesen Scherz lachten die Schwänke-Sammler noch im ganzen 17. Jahrhundert. «Die Liebe stehet einem Greisen eben so an als ein Harnisch», meint Beverwijk denn auch die Kräfte seien eben dahin, und (immer mal wieder gereimt) «wenn jemand fräut [eine Frau nimmt], der kahl und greise / so ist er weder klug noch weise».
Der Verspottungstopos «alter Mann und junges Weib» und mehr noch
sein Pendant «altes Weib freit jungen Mann» hat in Bildern und Texten
im 16. und 17. Jahrhundert eine solche Verbreitung gehabt, dass die modernen
Kunst- und KulturhistorikerInnen ganz Bücher dazu schreiben konnten. Wir
brauchen diesen Vorwurf der «ungleichen Paare» oder «unequal
couples» hier nicht auszupinseln. Genug der Geschichten zur Geschichte
des Alters! Was lässt sich aus
dem hier so knapp Vorgestellten lernen?
Ja, es stimmt, die Zeiten sind besser geworden; es gibt keinen Grund, eine «laus temporis acti» anzustimmen und dem Vergangenen auch nur eine verstohlene Zähre nachzuweinen. Auf der anderen Seite kann es nicht schaden, Augen und Ohren gegenüber den Glücksbotschaften der Massenmedien offenzuhalten: Es ist nicht alles Gold, was jung und modern aussieht, und es ist noch nicht Zeit, die Hände in den Schoss zu legen, wenn es um die solidarische Verbesserung der sozialen Einrichtungen und der öffentlichen Aufmerksamkeit in bezug auf die Rentnerinnen und Rentner geht. Nicht zuletzt steht es einer Universität gut an, wenn sie die Sozialgerontologie als Forschungsgegenstand institutionell gut verankert.
LITERATUR
Andermahr, Sonya; Lovell, Terry; Wolkowitz, Carol: A concise glossary of feminist theory. Arnold, London 1997, S. 12 f.: ageism.
Borscheid, Peter: Geschichte des Alters: Vom Spätmittelalter zum 18. Jahrhundert. Franz Steiner Verlag, München 1989.
Göckenjan, Gerd: Altersbilder als Konzepte sozialer Praxis in deutschen Zeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Archiv für Kulturgeschichte 75 (1993) 395-418.
Hausmann, Frank-Rutger: Das Thema der hässlichen Alten in der neulateinischen Lyrik Italiens im Quattrocento und seine volkssprachlichen und klassisch-lateinischen Quellen. In: Köhler, Erich (Hg.): Sprachen der Lyrik. Festschrift für Hugo Friedrich zum 70. Geburtstag. Frankfurt/M. 1975, 274-286.
Joerissen, Peter / Will, Cornelia (Hg.): Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter. [Ausstellungskatalog]. Köln 1983.
Schenda, Rudolf: Hässliche Alte lüsterne Greise? Bilder der dritten Generation in Märchen, Sagen, Sprichwörtern. In: Boeckler, Richard / Dirschauer, Klaus (Hg.): Emanzipiertes Alter, Bd. I. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1990, 149-165.
Schenda, Rudolf: Gut bei Leibe. Hundert wahre Geschichten vom menschlichen Körper. C. H. Beck Verlag, München 1998.
Rudolf Schenda, emeritierter Professor für europäische Volksliteratur, lebt in Jona SG.
unipressedienst
Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 17.04.99