Beschreibungsmodelle für Rituale, wie sie die anthropologische Forschung entwickelte, kommen philosophischen Beschreibungsmodellen ästhetischen Handelns oft auffallend nah so auch das anthropologische Modell des Initianden und das philosophische Modell des Lesers. Dass der Anfang eines Buches zum Initiationsritual werden kann, das der Leser als Initiand zu durchlaufen hat, zeigt eine ganz spezielle Buchlektüre.
VON MIREILLE SCHNYDER
[ Antiheld Leser | Vollkommende Unterwerfung | Mit fremden Zungen reden ]
Das Buch wird immer wieder zum Heiligtum stilisiert, in das man durch einen «Eingang», über eine «Schwelle» gelangt, und oft suggeriert die künstlerische Gestaltung der Buchanfänge solche Raumstrukturen. Im Wechselspiel von Leserbewusstsein und Buchproduktion wird der Zugang zu einem zwischen Buchdeckeln gefassten Text immer wieder zu einer Abfolge von ästhetischen Räumen, die der Leser zu durchschreiten hat und in denen er sich in eine ganz spezifische Rolle hineinfinden muss, um vor dem Text zu bestehen, aber auch um den Text als etwas wahrnehmen zu können, das nicht nur bewusstseinsverändernd, sondern auch sinnkonstituierend und letztlich sakral ist.
Der Beginn der Lektüre als Prüfstein der Zugehörigkeit: Ernst Robert Curtius: «Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter». |
Am Beispiel eines wissenschaftlichen Buches aus der Mitte des 20. Jahrhunderts soll gezeigt werden, wie sich solche Ritualisierungen abspielen und inszenieren können. Es ist ein Buch, das die Idee einer geistesgeschichtlichen Einheit Europa vertritt, eine Art Sakralisierung dieser Idee betreibt und von grossem Einfluss war auf die literaturwissenschaftliche Forschung: Ernst Robert Curtius «Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter», Bern und München 1948. Ich ziehe hier nicht die Erstausgabe bei, sondern lege meinen Überlegungen die 10. Auflage von 1984 zugrunde.
Klassisches Entree
Ein gewichtiges Buch. 608 Seiten. Der Schutzumschlag, écrufarben, suggeriert in der graphischen Gestaltung schon die Tradition, auf die sich der Inhalt bezieht: die klassische, europäische. Nicht nur erinnert die grossbuchstabige Antiquaschrift an antike Inschriften, der schwarze und rote Druck reiht das Blatt auch in die Tradition des im frühen Buchdruck üblichen zweifarbigen Titels ein.
Der dünne Papierumschlag garantiert nicht nur ein heiles Buch, sondern ist auch Ort der Werbung, die dem inneren, festeren Raum nicht zugemutet werden kann. Leicht kleiner als der Name des Autors wird werbewirksam auf die zehnte Auflage hingewiesen, und eingeschlagen in den vollkommen leeren Raum zwischen Buckdeckel und Vorsatzblatt sind im vorderen Klappentext «Urteile über die früheren Auflagen» abgedruckt.
Da heisst es denn, dass hier «die abendländische Dichtung als eine geheimnisvoll-offenbare Einheit erschaut» und «ein faszinierender Blick in die geschichtliche Tiefe aufgetan» werde. Es sind Eingeweihte, frühere Leser und zwar nicht irgendwelche, sondern Experten: Max Rychner und Max Wehrli , die den hier gefassten Text als Ort einer in mystifizierender Art zur Schau stilisierten Erkenntnis zeigen. Man kann diese Rezensionsausschnitte als reine Werbung überlesen. Man kann darin aber auch eine erste Anweisung an denjenigen sehen, der das Buch in der Hand hält: eine Art Zielvorgabe und Hinweis auf das Geheimnis dieses Buches. Wer weiterblättert, reiht sich bewusst in die lange Kette derer ein, die sich auf den Weg zu der hier propagierten Schau machten.
Der Eintritt in den inneren Bereich nun ist geschützt durch Leere. Sowohl der Spiegel (das auf den Buchdeckel geklebte Blatt) wie das Vorsatzblatt sind, wie üblich, vollkommen unbedruckt. Erst die dritte Seite bringt, als traditionelles Anhängsel vor dem eigentlichen Titelblatt, den sogenannten Schmutztitel, eine Art innere Hülle um den Text. Die vierte Seite ist wieder leer, so dass das Auge von der fünften, der eigentlichen Titelseite, durch nichts abgelenkt wird.
Komplizen und andere Lesende
Ganz anders gegliedert als die inschriftmässige Graphik des Umschlagtitels auch wenn mit genau denselben Angaben lässt hier der schwere Titel unter sich Raum. Dieser Titel ist nicht mehr Aufschrift auf einem verschlossenen Buch, eine Art Versiegelung, sondern nur noch Hinweis auf das Kommende, keine Türe mehr, sondern Vorhang: Das Auge des Lesers tritt unter der Inschrift ein. Und erst da, hinter der dreifachen Betitelung, findet sich auf der Versoseite, der vom direkten Blick vernachlässigten linken Hand, das Kolophon: Der Hinweis auf die Erstveröffentlichung 1948, das Jahr dieser 10. Auflage, 1984, der Vermerk des Copyrights, der Name der Druckerei und die ISBN-Nummer.
Dem gegenüber nun aber, klein und verloren in der Mitte einer sonst leeren Seite, steht eine Widmung für zwei Verstorbene, deren Namen und Lebensdaten mit kurzem «in memoriam» verbunden ganz nüchtern dastehen: Gustav Gröber und Aby Warburg. Anders als in frühneuzeitlichen und barocken Dedikationen gibt es hier aber keine Erklärung; es ist eine Heimlichkeit darin, die den Leser in seltsamer Art zugleich ausschliesst und zum Komplizen macht. Durch den öffentlichen Memoriahinweis wird er im Moment der Lektüre in den Bereich des Gedenkens hineingezogen, ohne dass sich ihm der zwischen Autor und Bedachten geschlossene Kreis öffnen würde. An dieser kleinen Gedenktafel scheiden sich die Leser in diejenigen, die sich mit einem stillen «Aha!» den hier gezogenen Kreis durch Vorwissen erklären können, indem sie in den Namen Anreger, Vorläufer, Lehrer und Vordenker erkennen, und die, die lediglich einen Blick zu werfen meinen in die Intimität eines individuellen und privaten Lebensausschnittes. Ohne explizit zu werden wird durch diese zwei Chiffren am Eingang des Buches ein geistiger Raum abgesteckt und ein erster Hinweis auf das Zielpublikum des Werks gegeben.
Die Exklusivität des Absoluten
Blättert man nun weiter, folgt auf diese lakonische Gedächtnisinschrift eine Dekade von «Leitsätzen», die, dicht gedruckt, als kompakter Block eine ganze Seite füllen, durchnumeriert von eins bis zehn und chronologisch geordnet. Hat schon die Gedächtnistafel an ein Wissen des Lesers appelliert, das ihm erst den Eintritt in den Memorialraum ermöglichte, wird da nun endgültig mit einer Radikalität ausgewählt und ausgeschlossen, wie sie ihresgleichen sucht.
Denn was hier als «Leitsätze» aufgeführt wird, wohl aber als Wegweiser für die Lektüre genauso gedacht ist und als Motti für den Autor, besteht aus griechischen, lateinischen, deutschen, französischen und spanischen Zitaten; eine sprachliche Landkarte des europäischen Raumes die englischen Zitate folgen dann im Vorwort. Inhaltlich sind es Vorgaben für wissenschaftliches Arbeiten, die eine Art methodologische Legitimation des Unterfangens bieten. Indem aber die Gewährsmänner sowohl aus der Antike wie aus der Gegenwart stammen, wird der hier praktizierte Zugang zum Zeitlosen geschrieben: Die in diesem Buch gefasste Wissenschaft ist die Wissenschaft, wie sie seit der Antike Gültigkeit hat, ist Teil der Tradition. Dem Leser ist somit klar, worauf er sich einlässt und was von ihm erwartet wird.
Keine Demokratisierung
In seltsamem Kontrast zu diesen abschreckenden Anforderungen und ausschliessenden Mechanismen am Eingang des Buches heisst es dann im Vorwort: «Aber mein Buch wendet sich nicht nur an Gelehrte, sondern auch an Liebhaber der Literatur» (S. 9). Damit wird, kurz vor dem Anfang des Haupttextes, auf eine Doppeltheit desselben verwiesen, wie sie oft in wissenschaftlicher Literatur als Ideal thematisiert ist. Nach nur in Gelehrtenkreisen verständlicher Widmung und ebensolchen Motti ist aber fraglich, wieweit diese Bestimmung eines doppelten Zielpublikums nicht einfach Lippenbekenntnis ist.
Oder ist der Anfang dieses Buches gar nicht oder nicht nur Initiationsritual für den Leser, sondern mehr Initiationsritual des Autors in einen sehr spezifischen Kreis potentieller Leser: den exklusiven und auf diese Exklusivität sehr bedachten Zirkel der Wissenschafter? Ist die Gedächtnistafel nur Mittel des Autors, sein Werk an eine anerkannte Tradition zu knüpfen und sich in diesen bedachten Kreis einzureihen? Ist die Front gelehrter Leitsätze nur Zeichen seiner Gelehrsamkeit, Maske seiner Gedanken, die sich so nicht nur das Gesicht Europas überstülpen, sondern auch die klassische Tradition, wie sie in den Zirkeln hochgehalten wird, zu denen er sich zählt? Ist diese Auflösung des eigenen Wortes im Potpourri fremder Wörter nötig, um schliesslich als Wissender anerkannt zu werden?
In der ersten Fussnote des Werks mündet diese Selbstverwandlung und Zurechtschreibung schliesslich in die entschiedene Abkehr von jeder Demokratisierung des exklusiven Wissens. Hinter der Maske eines Max-Scheler-Zitats heisst es, dass «nur die sich aufkämpfende vorwiegend liberale Demokratie relativ kleiner Eliten, eine Bundesgenossin der Wissenschaft und der Philosophie» sein könne. Und: «Die herrschend gewordene und schliesslich auf Frauen und halbe Kinder erweiterte Demokratie ist keine Freundin, sondern eher eine Feindin der Vernunft und Wissenschaft» (S. 13, Anm. 1).
Der hier gebotene Blick ist also Schau einer Elite. Der «Liebhaber der Literatur» hat fast keine Chance, mitgenommen zu werden. Mitgenommen auf das, was am Schluss des Buches «eine beschwerliche Wanderung» genannt wird, ein Stationenweg, «ein stufenförmiger Fortschritt und spiraliger Aufstieg», an dessen Ende «eine neue Anschauung vom inneren Zusammenhang der europäischen Literatur» gewonnen sei (S. 384f.). Um für diesen Vorgang bereitet zu werden, ist der Anfang des Buches zu einer stufenweisen Prüfung gestaltet, die den ungewollten Leser wie eben zum Beispiel halbe Kinder und Frauen abschreckt, den richtigen aber über ein Netz von Anspielungen und Assoziationen zum exklusiven Weggenossen macht. Dabei ist die dem Leser bereitete Initiation gleichzeitig Initiation des Autors in den Kreis der exklusivsten Leser, ist es dieser Anfang, über den sich der Autor als Teil jener Elite einführt, zu der sich schliesslich der über diesen Anfang initiierte Leser gern zählen möchte. Damit wird aber die eigentlich absurde Konstellation dieser spezifischen Form von Spiegelritualen in der Wissenschaftswelt deutlich, wo sich Eingeweihte gegenseitig initiieren. Der als Phantom zitierte Liebhaber der Literatur mag sich da an Don Quijotte erinnert fühlen.
«Man denke sich einen Menschen ( ), der alle Klassenbarrieren, alle Ausschliesslichkeiten bei sich niederreisst, ( ) einen Menschen, der alle Sprachen miteinander vermengt, mögen sie auch als unvereinbar gelten; der stumm erträgt, dass man ihn des Illogismus, der Treulosigkeit zeiht; ( ) Ein solcher Mensch wäre der Abschaum unserer Gesellschaft: Gericht, Schule, Irrenhaus und Konversation würden ihn zum Aussenseiter machen ( ). Nun, dieser Antiheld existiert: es ist der Leser eines Textes in dem Moment, wo er Lust empfindet.» (Roland Barthes, Le plaisir du texte. Paris 1973, S. 9)
Für die räumliche Anordnung des Rituals gilt eine hierarchische Ordnung sowie oft eine rhythmisierte, repetitive Raum- und Handlungsgliederung. Im Initiationsritus trennt sich der Initiand in einem ersten Schritt oft durch einen ritualisierten Akt der Willensbezeugung von seiner bisherigen Umwelt und schliesst sich einer gleichartigen Gruppe anderer Initianden an. Dadurch ist er nicht mehr Teil der gewohnten Welt, aber auch noch nicht Teil des Neuen, sondern in einer neutralen Zwischenstellung, deren Ambiguität gekennzeichnet sein kann durch: Unsichtbarkeit des Initianden (wenn auch nicht physisch, so doch strukturell) Statuslosigkeit (ausserhalb jeder sozialen Klassifizierung) Namenlosigkeit (alle werden mit demselben Namen bezeichnet) vollkommene Unterwerfung unter die Autorität des Initiators Distanzierung des Individuums von sich selber durch Rollenspiel und Maskierung. (Nach Victor Turner, The Forest of Symbols, New York 1967)
«Das Leben steht wie ein Kaffeehaus jedem ohne Unterschied offen, aber die Literatur
ist eine geschlossene Gesellschaft, ein enger Verein mit eignen Statuten; nur nach
vorhergegangener Auswahl, Beratung und Unterscheidung steht uns und unsern Gedanken und
Empfindungen der Zutritt in denselben offen.»
«In der Lektüre befinden wir uns im Zustande des Somnambulismus, aber eines
Somnambulismus mit wacher Vernunft; denn in ihr äussern wir ausserordentliche Kräfte;
wir sprechen mit fremden Zungen, wir werden frei von dem sonst uns beherrschenden Gesetze
der Gebundenheit an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit; wir werden entrückt dem
Kreise der gemeinen Sinneswahrnehmungen; wir schauen in das innerste Leben anderer
Menschen hinein, wir werden selbst durch sie mit den Geistern in Rapport gesetzt.»
(Ludwig Feuerbach, Abälard und Heloise. In: GS 1, hg. W. Schuffenhauer. Berlin 1981, S.
545 / 564)
Dr. Mireille Schnyder (mschnyd@ds.unizh.ch) ist Literaturwissenschaftlerin in Zürich.
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Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 13.05.98