Professionelles Recht begann mit Ritualen. Nur durch das Sprechen genau bestimmter Formeln wurde aus allfälligen und alltäglichen Konflikten ein Rechtsstreit. Das altrömische Verfahren hat damit die bis heute essentielle Trennung von «Lebenswirklichkeit» quaestio facti und «Recht» quaestio iuris eingeleitet.
Ein Mann beklagte sich, ein Bösewicht habe seine Weinstöcke abgesägt. Er verlangte eine Busse von dem angeblichen Täter. In der Klage sprach er von «gefällten Weinstöcken». Die Experten des Rechts teilten ihm mit, er habe seinen Prozess schon verloren. Denn das Gesetz spreche von gefällten «Bäumen» als Gattung, nicht von «Weinstöcken» als Spezies. Da der Geschädigte nicht «Bäume», das einzig richtige Wort sagte, konnte er nichts bewirken.
Ein Rechtsstreit vor dem Prätor.
Illustration zur Gesetzessammlung
von Kaiser Justitian, Friesland
17. Jahrhundert.
(aus: J. E. Spruit, Le droit romain,
sujet d'une dcoration murale du
17e sicle, Arnhem 1989)
Den Stab auflegen
Gaius, ein Jurist des 2. Jahrhunderts n. Chr., erzählt diese Geschichte; das Gesetz, das er erwähnt, ist das «Zwölftafelgesetz» aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Nach allem, was wir aus diesem Gesetz und aus den Berichten des Gaius wissen, hielten die Römer esüberaus genau mit dem Wortlaut von Erklärungen bei ihren Rechtsgeschäften und -streitigkeiten. Stritten sich zum Beispiel zwei Leute, A und B, um das Eigentum an einem Sklaven, veranstalteten sie folgenden Dialog vor Gericht:
Teil I
A: Ich behaupte, dass dieser Sklave nach dem Recht der römischen Bürger mir gehört. Meiner Behauptung entsprechend habe ich ihm, schau her!, den Stab aufgelegt.
B: Ich behaupte, dass dieser Sklave nach dem Recht der römischen Bürger mir gehört. Meiner Behauptung entsprechend habe ich ihm, schau her!, den Stab aufgelegt.
Teil II
A: Ich verlange, dass du [B] sagst, aus welchem Grund du den Sklaven vindiziert hast.
B: Ich habe Recht getan, als ich den Stab auflegte.
Teil III
A: Weil du zu Unrecht vindiziert hast, fordere ich dich durch «sacramentum» in Höhe von 500 As heraus.
B: Weil du zu Unrecht vindiziert hast, fordere ich dich durch «sacramentum» in Höhe von 500 As heraus.
So und mit keinem andern Wort wurde der Eigentumsstreit eröffnet. Historiker und Juristen haben diese und andere im alten Rom gebräuchliche Spruchformeln samt ihren Gesten und Requisiten, wie den Stab, seit langem als magische, religiöse,übersinnliche Mittel, als Zauber und besonders gerne als «Riten» und «Ritual» bezeichnet. Historiker und Juristen sind sich allerdings ebensowenig wie Ethnologen einig, was das eigentlich ist, ein Ritual. Statt sich um weitere Definitionen von Ritual zu bemühen, scheint es lohnender, einmal zu fragen, was denn die Funktion von Ritualen ist. Gibt es bestimmte Verfahrens- und Verhaltensweisen (nicht nur vor Gericht), die etwas können, was beliebige andere Formen des Verfahrens und Verhaltens nicht können? Erst wenn wir einen Unterschied fixieren können, macht es Sinn, ein eigenes Wort, eben «Ritual», zu benutzen und zum Beispiel nicht von Routine, Formalismus, Gewohnheit zu sprechen.
Ausschluss der Lebenswelt
Betrachten wir zu diesem Zweck etwas genauer, was im kurz vorgeführten Vindikationsstreit geschieht: Mit der Erfindung von Formeln und der Festlegung ihres Wortlauts (ursprünglich durch die römischen Priester) war eine grundlegende Entscheidung getroffen, nämlich welche Konflikte des Alltagslebens zu Rechtskonflikten werden konnten. Nicht jede Verärgerungüber des Nachbarn Verhalten, nicht allfällige Bosheiten in Ehe und Familie, nicht jede Unanständigkeit im sozialen Umgang konnte, wie heute weitgehend gewährleistet, zum Rechtsstreit führen. Vielmehr begrenzte die begrenzte Anzahl von Formeln zugleich die Menge von «Recht».
Warum aber mussten es exakt bestimmte Worte sein? In Teil I des Dialogs wird durch zwei strikt gleiche Behauptungen mit zwei gleichen eindeutigen Gesten, dem Stabauflegen, und dem herausfordernden «schau her! ecce tibi!» sichergestellt, um was man streitet: Um diesen Sklaven und um nichts sonst. Die Eröffnung grenzt also die Reichweite des Streites genau ein. In Teil II des Dialogs bekommt dann A auf die Frage, warum B den Sklaven vindiziert habe, eine scheinbar unbefriedigende Antwort: «Ich habe Recht getan.» B erzählt also keine Geschichte, zum Beispiel er habe den Sklaven von seiner Grossmutter geerbt; er rechtfertigt seine Vindikation auch nicht etwa mit niederträchtigem Verhalten seines Gegners. Er hat und es gibt nur ein einziges Argument. Und das heisst: «Recht»!
Alle Bezüge zur «Lebenswelt», die unzähligen persönlichen, wirtschaftlichen, familiären Beziehungen, die zu dem Streit geführt haben mögen, sind abgeschnitten. Die Parteien dürfen sie nicht erwähnen, sonst wäre der Prozess schon verloren wegen Formelverletzung. Ein realistisches Detail wie «Weinstöcke» statt «Bäume» beendet den Prozess wegen Formelverletzung.
Juristisches Programm
Die Vielfalt des Lebens zu einem juristischen Sachverhalt schrumpfen zu lassen, ist bis heute die Arbeit von Juristen und erbittert häufig Laien, die sich in diesem Sachverhalt nicht wiedererkennen, sichüberhört fühlen mit all den anrührenden Geschichten, die sie einem ungeduldigen Gericht erzählt haben. Die Spruchformel ist die radikalste Form, die Fülle des Lebens auf einen winzigen Ausschnitt das Eigentum an diesem Sklaven zu reduzieren. Teil III des Formelwortlauts macht schliesslich deutlich, dass sich zwei unvereinbare Rechtsbehauptungen gegenüberstehen. Welche ist die richtige?
Die Formel hat darauf natürlich keine Antwort. Sie ist ein juristisches Programm, ein Zugang, der einzige Zugang, durch den man vom Leben ins Recht gelangt. Das «Leben», die Welt der Fakten und Geschehnisse, wird später, im Beweisverfahren, wieder Einzug halten dürfen, aber nicht in seiner ganzen Fülle, sondern durch die Formel gefiltert. Das heisst: Die Tatsachenrichter werden nur zu berücksichtigen haben, was eben diesen Sklaven betrifft und das Eigentum an ihm. Nun wird B vielleicht gehört werden, wenn er dartut, dass er den Sklaven von seiner Grossmutter erhalten habe. Wenn er hingegen zum Beispiel behauptet, A sei ein habsüchtiger, reicher Mann, weshalb der Sklave eher ihm, dem armen, gutmütigen B, gebühre, wird er, obwohl es kein schlechtes Argument ist, kein Gehör finden. Denn Reichtum und Armut sind im Recht nicht vorgesehen; wohl aber langer Besitz und Erbschaft.
Reduktion von Komplexität
Im altrömischen Spruchformelverfahren ist für alle folgende Rechtsentwicklung ein fundamentaler Durchbruch gelungen. Die Formel enthält die Festlegung des Streitgegenstandes und die Rechtsfrage. Erst wenn (vom Prätor) festgestellt ist, dass es sich um eine zulässige Rechtsfrage handelt, wird ein (Laien-)Gerichtüber die Tatsachen entscheiden. Rechtsfrage, die quaestio iuris, von Tatsachenfrage, der quaestio facti, scharf zu trennen, ist der Beginn einer professionellen Jurisprudenz. Vielen alten Rechtsordnungen ist diese Trennung nicht gelungen; Laien beherrschen sie in der Regel auch heute nicht, Jus-Studierende erlernen sie mühsam.
Die Funktion der Spruchformel ist die
ffnung eines einzigen Weges, auf dem man von lebensweltlichen Konflikten ins Recht gelangt. Sie legt gleichzeitig fest, was in diesem Recht eine Rolle spielt. Das heisst: Durch die Spruchformel werden andere Möglichkeiten ausgeschlossen. Wenn man wissen will, wer Eigentümer ist, hat man die Formel zu performieren. Ausserhalb der Formel gibt es keine Alternative; und auch nicht innerhalb, denn ihr Wortlaut ist stets gleich. Darüber nachzudenken, lohnt sich nicht. Techniken, die es ermöglichen, nicht nachdenken zu müssen, andere Verhaltensweisen nicht abwägen und Folgen nicht bedenken zu müssen, dienen, wie man zu sagen pflegt, der Reduktion von Komplexität.
Ausschluss der Sinnfrage
Ist dies das Kennzeichen von Ritualen? Haben nicht auch Routinen, wie das allmorgendliche Zähneputzen, oder Gewohnheiten, wie das Krawattetragen, dieselbe Funktion, die Welt ein wenig einfacher zu machen, Alternativen nicht aufkommen zu lassen, jedenfalls nicht jeden Morgen neu zu diskutieren? In der Tat dient jedes standardisierte Verfahren der Entlastung von Entscheidungsdruck und Folgeneinschätzung.
Um Routinen von Ritualen zu unterscheiden, wird man ein weiteres Merkmal einführen müssen: Routinen kann man auf ihren Sinn befragen, zum Beispiel: «Was macht das Krawattetragen für einen Sinn seit der Erfindung des Knopfes?» Oder man kann ihnen einen neuen Sinn einhauchen, zum Beispiel: «Es dient nicht der Schliessung des Hemdes, sondern der Schönheit.» Trotz der Sinnfrage und selbst im Fall ihrer negativen Beantwortung können Routinen beibehalten werden und können ebensogut aufgegeben werden, ohne dass deshalb der Himmel einstürzt.
Anders bei Ritualen. Fragt man sie nach ihrem Sinn, sind sie tot. Denn nach Sinn fragen, heisst stets zu reflektieren, alsoüber andere Möglichkeiten, zum Beispiel einen Eigentumsstreit abzuwickeln, nachzudenken. In dem Moment aber, in dem diese Alternativen «in den Sinn» kommen, verliert das Ritual seine Funktion, ebendies zu verhindern, nämlich das Mitdenken und Verfügbarhalten anderer Möglichkeiten nicht zuzulassen. Nur dann kann es funktionieren; und wenn es funktioniert, ist es ein Ritual.
An die Spruchformeln wurde die verbotene Sinnfrage noch im Lauf der römischen Republik gestellt. Cicero versetzte ihnen dann den Todesstoss, indem er sie was kein Ritual aushält verspottete als «gänzlich allen Sinns entleert, aber voll des Betrugs und der Dummheit». Mit dem Verlust des Rituals begann ein neues Kapitel der Geschichte des Rechts. Die Spruchformeln der Parteien wurden ersetzt durch flexiblere Formeln, die der Gerichtsmagistrat erfand. Damit kam viel Bewegung ins Recht und zwangsläufig eine neue Unsicherheit. Denn nur Rituale reduzieren Risiken gründlich.
Heutzutage ist man stolz darauf, in der Rechtsfindung des Rituals nicht mehr zu bedürfen. Alle Alternativen zu erwägen und die Lebenswirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität auszudiskutieren gilt vielen als eine rationalen und freien Menschen angemessene Prozessmaxime. Juristinnen und Juristen wissen, dass das nicht geht. Sie wissen, dass moderne Rechtsfindung zumindest nicht ohne Routinen auskommt. Und manchmal geht es auch nicht ohne Rituale, die dieses eine und kein anderes Verhalten verlangen. Es war nur die Spitze des Ritualberges der Justiz, die sichtbar wurde, als ein Angeklagter, Fritz Teufel hiess er, vor Gericht stand: Eigentlich sass er, und als er aufgefordert wurde aufzustehen, kam er dem Begehren nach mit der Bemerkung, die das Ritual mit ciceronischem Spott entzaubern wollte: «Wenns denn der Wahrheitsfindung dient »
Der Stab heisst «vindicta», was sich von «vim dicere» («Gewalt ansagen») herleitet. Gleichen Ursprungs ist das bis heute gebräuchliche Wort für «das Eigentum von einem anderen herausverlangen»: «Vindikation», «vindizieren».
Das «sacramentum» ist ein Eid mit Selbstverfluchung für den Fall des Unterliegens. Eine der beiden Parteien musste ja im Unrecht sein. Der Einsatz bestand ursprünglich aus 5 Rindern, welche später durch 500 As vertreten wurden. Der Verlierer leistete diese einst an den Tempelschatz, später an die Staatskasse.
Dr. Marie Theres Fögen (foegenma@rws.unizh.ch) ist ordentliche Professorin für Römisches Recht, Privatrecht und Rechtsvergleichung am Rechtswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich.
unipressedienst Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update:
13.05.98