VON YOKO TAWADA
Während ich schreibe, setze ich Buchstaben. Es hört sich etwas seltsam an, aber Buchstaben zu schreiben ist eine andere Tätigkeit als einen Text zu schreiben. Deshalb benutzte ich das Wort «setzen», obwohl ich keine Schriftsetzerin bin. Man setzt Buchstaben aufs Papier, damit ein Platz für die Entstehung des Textes geschaffen wird. Ähnlich verhält es sich mit dem Fussboden und der Meditation. Der Fussboden hat nichts mit der Meditation zu tun, aber es wäre schwierig zu meditieren, wenn es keinen Boden gäbe, auf dem man sitzen kann.
Buchstaben sehen manchmal nicht aus wie der stabile Fussboden, sondern eher wie Hindernisse, die mir im Wege stehen. Indem ich weiterschreibe, setze ich noch mehr Hindernisse. Ein unvermeidlicher Widerspruch: Ich setze Buchstaben, während ich schreibe.
Warte, warte noch ein Weilchen
Setzt man sie aber wirklich, während man schreibt? Mir kommt es vor, als würde ich sie zuerst aufs Papier setzen, damit ich überhaupt beginnen kann zu schreiben. Das heisst, ich weiss noch nicht genau, was ich schreiben will, aber beginne schon mit dem Text, indem ich Buchstaben setze. Manchmal ist es aber auch umgekehrt: Ich befinde mich schon längst im Zustand des Schreibens und setze nachträglich Buchstaben.
Es ist nicht leicht, in den Zustand des Schreibens einzutreten. Der gleiche Versuch wiederholt sich jeden Morgen. Zuerst muss ich ein Räucherstäbchen anzünden. Mit Hilfe dieses Geruchs soll die Schreibzeit, die durch einen Schlaf unterbrochen wurde, fortgesetzt werden. Der Matetee muss schon auf dem Schreibtisch stehen. Denn die Bezeichnung für das südamerikanische Stechpalmengewächs «Mate» erinnert mich an das japanische Wort «mate» («Warte!»). Jeder kleine Akt vor dem Schreiben wirkt wie eine rote Ampel, die mir sagt: «Warte! Es ist noch nicht so weit!» Das obere linke Fenster des Schreibzimmers muss noch geöffnet werden. Dann muss ich mich hinsetzen, Schreibzeug sortieren und zweimal in die Hände klatschen: Ritualisierte Handlungen, die mich vor dem Schreiben aufhalten, sind anscheinend doch notwendig, um vom alltäglichen Zustand in einen anderen Zustand nämlich in den Zustand des Schreibens überzugehen. Das Setzen der Buchstaben kann schliesslich auch ein Ritual sein, durch das der Zustand des Schreibens erreicht werden soll.
Wie eine Teezeremonie
Buchstaben sitzen auch im Kopf eines Menschen. Schliesse ich die Augen, sehe ich bald
auf der Rückseite der Augenlider die vagen Schatten der Schriftzeichen. Bei längerer
Betrachtung stelle ich fest, dass sie alle japanische Schriftzeichen Ideogramme und
Silbenschrift sind. Wo bleibt aber das Alphabet? Es ist merkwürdig, dass das
Alphabet nicht auf meiner inneren Leinwand zu sehen ist, obwohl ich meistens in der
deutschen Sprache denke. Seitdem ich auf deutsch denke, denke ich in Dialogform. Es wird
dort geredet, diskutiert, argumentiert, gefragt, geantwortet oder protestiert. Dabei
stelle ich mir keinen einzigen Buchstaben bildlich vor.
Das Alphabet ist für mich gegenständlich und befindet sich ausserhalb meines Körpers.
Daher kommt mir das Schreiben auf deutsch oft vor wie eine Teezeremonie mit dreissig
kleinen Gegenständen. Es gibt eine Teedose «D», eine Teeschale «U», einen Kessel
«K», eine Feuerzange «Y», einen Löffel «L» usw. Man muss sie nach einer
vorbestimmten Reihenfolge in die Hand nehmen. Es ist auch festgelegt, an welcher Stelle
eine Pause gemacht werden muss.
Von Pinsel und PC
Buchstaben beeinflussen Gedanken. Durch das Aufschreiben fliessen ganz andere Elemente in den Text ein als das, was man nur im Kopf denkt. Solange ich im Kopf mit meinem zweiten Ich rede, bleibt die Sprache kommunikativ, logisch und eindeutig. Wenn ich aber Buchstaben aufschreibe, verwandeln sie sich zum Teil in unverständliche, geisterhafte oder traumähnliche Figuren. Sie zerstören den Ablauf der Argumentation, stellen die Thesen auf den Kopf und bringen so viele Bilder hinein, dass das Thema nicht mehr erkennbar wird. Als Autor sollte man diese Geister vernichten, um den Text zu Ende zu bringen. Es ist nicht schwer, Buchstaben auf dem Bildschirm zum Verschwinden zu bringen. Aber welche Buchstaben sind störende Geister, und welche sind Bausteine für den Text?
Man kann sie kaum auseinanderhalten. Genauer gesagt scheint jedes Zeichen gleichzeitig beides zu sein. Solche, die meine Gedanken anständig begleiten und transportieren, können sich plötzlich in Geister verwandeln. Dann entgleise ich aus der noch nicht festen Schiene des Textes und falle in den türkisen Ozean des Bildschirmes.
«Jeder Buchstabe ist wie der Rücken einer Person. Er
kann sich jederzeit umdrehen.»
(Bild aus: Yoko Towada, Nur da wo du bist da ist nichts, konkursbuch Verlag)
Klick auf das Bild, um es zu vergrössern
Die Buchstaben im Bildschirm sind einerseits leicht zu löschen, andererseits ist man nie sicher, ob sie wirklich verschwunden sind oder ob sie sich nur im Meer versteckt haben und unerwartet wieder auftauchen könnten. Diese Unsicherheit gibt es beim Löschen mit TippEx oder dem Radiergummi nicht, weil die Spur der Korrektur mehr oder weniger sichtbar bleibt. Das TippEx hinterlässt einen Schneehügel. Was den Radiergummi betrifft, erinnert die Spur des Bleistiftes an eine alte Naht auf der Haut: Sie glänzt, wenn sie von der Seite beleuchtet wird. Diese Spuren waren aber für meinen Grossvater, der immer mit dem Pinsel schrieb, nicht deutlich genug. Was einmal geschrieben sei, solle man nicht tilgen, sagte er. Wenn er sich verschrieb, strich er das Wort durch und schrieb ein neues daneben. Er schrieb mit Pinsel und Tusche, so dass das Schreiben automatisch einen rituellen Charakter bekam. Zuerst muss man mit einer winzigen Kanne in die Vertiefung des Tuschreibsteins etwas Wasser geben. Dann reibt man darin ein Stück Tusche so lange, bis das Wasser dunkelschwarz wird. Es dauert eine Weile. Man taucht dann den Pinsel vorsichtig in die Tusche ein. Für jedes Schriftzeichen ist die Reihenfolge, nach der die Striche gezogen werden müssen, festgelegt.
Die Buchstaben auf dem Bildschirm wirken auf mich gespenstischer als eine Pinselschrift auf Papier, denn sie sind da und doch nicht da. Sie sind nur Schatten auf der Oberfläche des elektronischen Wassers oder Erinnerungen an Gegenstände, die einmal im Wasser verlorengegangen sind. Sie haben kein Gewicht und können jetzt hier sein und im nächsten Moment an einem entfernten Ort in einem anderen Computer erscheinen, so wie Geister es können.
Buchstaben- und andere Gespenster
Es gibt zahllose Erscheinungsformen der Geister, die man in Japan normalerweise in drei Gruppen einteilt: Die erste Gruppe ist die der «Yôkai», der Gespenster, die aussergewöhnliche Gestalten besitzen. Zu der zweiten Gruppe gehören «Henge», Gespenster, die sich verwandelt haben. Und die dritte Gruppe der «Yûrei» besteht aus den Seelen der Toten und der Lebenden, die sich von ihrem Körper gelöst haben. Diese Yûrei erscheinen gezielt vor bestimmten Menschen oft mit einer Botschaft , während die Yôkai und die Henge an bestimmte Orte gebunden sind.
Es gibt nicht nur traditionelle Geister, sondern immer wieder neue. Die Computergeister kenne ich erst seit zwei Jahren. Damals kaufte ich mir einen Computer, mit dem man nicht nur Deutsch, sondern auch japanische Texte mit ungefähr 8500 Schriftzeichen schreiben kann. Der Techniker, der mir damals das Gerät verkaufte, erzählte mir vom «Buchstabengespenst». Mit dem Programm könne man sich grundsätzlich ohne Problem zwischen zwei Schriftsystemen bewegen, nur manchmal in bestimmten Bereichen verwandeln sich einige Buchstaben des Alphabets plötzlich in japanische. Das Phänomen bezeichne man als Buchstabengespenster.
Als ich zum ersten Mal mit eigenen Augen diese Gespenster sah, waren sie mir
unheimlich. Damals verwandelten sich plötzlich deutsche Umlaute in Kombination mit «f»
oder «ch» in Ideogramme. Jubeln, Peinigen und Niesen bedeuteten diese Schriftzeichen,
die mitten in meinem Text auftauchten. Es war, als wollten die kleinen Gespenster, die
unter der Textoberfläche leben, mich peinigen und dabei jubeln. Wenn unter jedem
deutschen Text, den ich schreibe, zahllose ideographische Gespenster leben würden, die
durch irgendeinen Anlass auf der Oberfläche erscheinen könnten. Diese Vorstellung
beunruhigte mich, bis ich auf die Idee kam, dass die Gespenster eventuell Bilder, Rhythmus
und Bewegungsarten verkörperten, die ich um einen verständlichen deutschen Text
zu schreiben unterdrücken musste.
Jeder Buchstabe ist wie der Rücken einer Person. Er kann sich jederzeit umdrehen. Ein
Autor, der glaubt, sein eigener Text müsste ihm bis zum letzten Buchstaben vertraut sein,
täuscht sich: Wenn ein Buchstabe sich umdreht, wird ein fremdes Gesicht sichtbar.
Ich erinnerte mich an eine Gespenstergeschichte, in der ein junger Mann nachts auf einem einsamen Weg einer Frau begegnet, die weder Augen noch Nase noch Mund hat. Erschrocken läuft er weg und kommt an einem Imbisstand vorbei, in dem ein alter Mann ihm den Rücken zugewandt Nudelsuppe kocht. Der junge Mann erzählt ihm von seinem schauderhaften Erlebnis. Der alte Mann dreht sich daraufhin um und fragt, ob die Frau so ausgesehen habe wie er: Sein Gesicht sieht genauso aus wie das der Frau wie ein unbeschriebenes Blatt Papier.
Ein toter Arzt im Bildschirm
Der Computer ist ein gespensterfreundlicher Platz. Wenn man Japanisch mit dem Computer schreiben will, muss man den Text entweder mit japanischer Silbenschrift oder in der Umschrift mit europäischem Alphabet eingeben. Der Computer setzt ihn dann in Ideogramme um. Ein normaler Computer kann nicht 8500 Tasten haben, so dass man sie nicht direkt tippen kann. Die Umsetzung läuft aber nicht immer richtig. Vor allem trennt der Computer manchmal Komposita anders, als ich will. Jedes Mal, wenn ich das Wort «Schlafwagen» («shindaisha») schreibe «shin» bedeutet «Schlafen», «dai» «Liegeplatz» und «sha» «Wagen» , schreibt der Computer «shinda» («toter») und «isha» («Arzt»). Plötzlich liegt ein toter Arzt im Bildschirm, der noch begraben werden muss. Wenn man aber jeden Toten, der durch Programmfehler entsteht, im Bildschirm begraben würde, würde er bald einem Friedhof ähneln, an dem man nachts nicht gerne vorbeigeht. Da erinnerte ich mich an einen Traum, den ich schon längst vergessen hatte: Ich lag im Bett eines Schlafwagens, und unter mir lag ein Mann. Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, wusste ich, dass er tot war und einen weissen Kittel anhatte. So kann man durch das Tippen auf die Computertasten einen vergessenen Traum ins Gedächtnis zurückrufen.
Ein anderes Wort, das mein Computer immer in falsche Ideogramme umsetzt, ist der «Literaturpreis», («bungakusho»). Anstatt die «Literatur» («bungaku») und den «Preis» («sho») zu schreiben, schreibt er immer «bun», «ga» und «kusho», daraus ergibt sich ein ganzer Satz, der bedeutet: «Die Sätze lächeln bitter.» Sicher lächelt der Computer bitter über bestimmte Literaturpreise. Die Geister sind also nicht nur wunderbare Missgestalten, sondern auch verdrängte Gedanken. Mit solchen Einfällen verwirren mich die Buchstabengespenster, während ich schreibe. Sie bewegen sich ständig auf der Textoberfläche, verziehen ihre Mienen, schneiden Grimassen oder lachen laut auf. Der schreibende Mensch muss souverän vor dem Computer Hausaltar sitzenbleiben, sich von der eigenen Emotion befreien und weiter unheimliche Buchstaben setzen. Ein Ritual muss zu Ende geführt werden.
Die Schriftstellerin Yoko Tawada wurde 1960 in Tokio geboren, seit 1982 lebt sie in Hamburg. Zuletzt erschienen von ihr 1996 «Talisman. Literarische Essays» und 1997 «Aber die Mandarinen müssen heute abend noch geraubt werden». Beide im konkursbuch Verlag.
unipressedienst
Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 12.05.98