VON HEINI RINGGER
Manchmal verbergen Wörter mehr als sie preisgeben. Mythos und Ritual zum Beispiel. Beide verweisen auf Geheimnisvolles, auf archaische Kulturen, in entfernte Zeiten. Modernen Menschen bleiben sie deshalb oft inhaltslos und fremd. Doch Wörter sind geduldig, überdauern Zeiten und können immer wieder neu verstanden und aktualisiert werden. Mythos und Ritual leben von dieser Aktualisierung.
Mythos und Ritual erleben seit den sechziger Jahren eine Renaissance: in der Kunst, in der Wissenschaft sowie in der sozialen und individuellen Lebenspraxis. Mythos griechisch Wort erzählt von den elementaren Dingen. Im Mythos drückt sich aus, was das Wesen des Lebens ist. Liebe, Lüge, Vertreibung, Untergang, Erlösung sind einige seiner Grundkonstanten.
Mythen sind daher keine Geschichtsschreibung, auch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Sie stehen ausserhalb der Zeit, der Uhrzeit wie der Urzeit. Das Wort in seiner vielschichtigen Bedeutung ist selber Grund und Inhalt der Mythen. Im Wort verbirgt sich das ganze Wissen. Im selben Wort, das von der Vergangenheit in die Gegenwart tradiert worden ist. Im Wort werden aber nicht nur Zeiten überbrückt, es verbindet auch Wirklichkeiten. Andere akausale, nur erzählbare Welten können sich auftun, die mit unserer kausal bestimmten Welt oft wenig gemeinsam haben.
Der Mythos manifestiert sich in dieser kausalen Welt. Im Ritual geht er in den Körper über. Was sich nicht körperlich auszudrücken vermag, ist kein Ritual. Im Ritual wird das Wort in Handlung übergeführt. Ein Protokoll zwischen Staatsmännern wird jeweils durch einen körperlichen Akt, einen Handschlag oder einen Bruderkuss, besiegelt. Im Erwerbs- und Familienleben vollführen wir täglich Verhaltensrituale, ohne uns des rituellen Charakters bewusst zu sein. Sei es um gesünder zu leben, Stress zu reduzieren oder um das Selbstvertrauen zu stärken. Auch in die grossen Lebensabschnitte zwischen Geburt und Tod können Rituale etwas Ordnung hineinbringen.
Rituale befriedigen offenbar grundlegende Bedürfnisse, beim einzelnen wie bei der Gemeinschaft. Gemeinschaftsrituale werden allerdings vermehrt durch Gesellschaftsrituale ergänzt. Etwa um kollektive Botschaften ritueller Art mitzuteilen. Zum Beispiel, dass man seine Abfallprodukte einer ritualisierten Reinigung, einer Abfalltrennung unterziehen müsse. Vielen ist dieses Ritual inzwischen zur zweiten Natur geworden. Das beruhigt das Gewissen über den verschwenderischen Luxus, rettet aber die Natur nicht vor weiterer Zerstörung.
Wer sich aufmacht, über Mythos und Ritual zu reden oder zu schreiben, nimmt von selbst eine Aussensicht ein. Er oder sie geht auf Distanz zum Ritual. Etwas anders sind Äusserungen in der Kunst. Wo Transzendenz und Religion aufgehoben sind, übernehmen oft Künstler die Rolle, Antworten auf die persönliche und globale Situation zu geben. Die aus ihrem Erlebnis konstruierten privaten Mythen weisen meist klare Struktur- und Ereignisordnungen auf. Nicht selten führt aber die Vorführung des künstlerisch inszenierten Rituals zum Bruch mit dem ursprünglich, quasireligiös motivierten Ritual. Der innere Ort, die Herkunft des Mythos verschwindet, geht unter in der öffentlichkeitswirksam konstruierten Versuchsanordnung des Künstlers. Wiederherstellung oder Erneuerung von Ordnung in Natur und Gesellschaft werden so zum Bumerang. In manchen Performances, Aktionen und Videos wird das deutlich: Die Körpersprache pervertiert eine theatralische Selbstdarstellung zum narzistischen Rollenspiel.
Die künstlerische Äusserung als Ritual ist auch Thema des vorliegenden Magazins. Vollzieht sich mit der Produktion und Rezeption von Kunst ein Ritual? Sind dem künstlerischen Ausdruck überhaupt rituelle Merkmale eingeschrieben? Oder läuft der künstlerische Ausdruck in seiner gestalterischen Freiheit und Kreativität dem Ritual nicht gerade entgegen?
In der interdisziplinären Vorlesungsreihe (KIV) vom Sommersemester 1997 zum Thema «Rituale» suchten die für Konzeption und Organisation Verantwortlichen, Corina Caduff (ccaduff@unizh.ch) und Joanna Pfaff, den gegenwärtigen Stand der Ritualforschung zu reflektieren. Acht Kurzfassungen von Referaten haben wir ins Magazin aufgenommen, ergänzt durch weitere Texte: aus aktuellem Anlass auch das Ritual des Dies academicus. Das Themenspektrum ist weit gespannt: von der Theorie des Rituals, der Komposition und der materiellen Beschaffenheit einzelner Ritualelemente, der Symbolbildung von Ritualen, der Differenz von religiösen und nichtreligiösen Ritualen, dem Ritual als kulturellem Gedächtnis bis zur Rolle des Rituals im juristischen Diskurs.
Die Innensicht des Rituals kann hier nicht vertreten sein. Im Alltag wird sie gelebt: ohne Absicht wach in allen Welten oder auch nicht.
unipressedienst
Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 12.05.98