unimagazin Nr. 1/98

Ein Déjà-vu im Grand Hotel Dolder

Einem Wort, einem Rauschen oder Pochen sei die Gewalt verliehen, uns unvorbereitet in die kühle Gruft des Einst zu rufen, von deren Wölbung uns die Gegenwart nur als ein Echo zurückzuhallen scheine. So beschrieb Walter Benjamin in der «Berliner Kindheit um Neunzehnhundert» die Macht des Déjà-vu. Wer kennt ihn nicht, diesen Hauch einer Ahnung, der sich im Hinterkopf manifestiert und langsam den Rücken hinunterkräuselt, etwas schon einmal erlebt zu haben.

Dolder (38041 Byte)Mit Marcel Proust im Kopf im Zürcher Grand Hotel Dolder


Lesen können wir nur, weil wir gelebt haben, weil wir einen unerschöpflichen Vorrat von Bildern besitzen, die wir zur Illustration allfälliger Lokalitäten heranziehen können. Verstehen können wir die Helden unserer Lektüren und ihre Antagonisten, weil wir Menschen sind und Menschen kennen. Darauf aufbauend schaffen wir lesend das, was man heute eine virtuelle Realität nennt, wobei der Rechner, der diese erzeugt und steuert, unser eigenes Gehirn ist. Genau genommen leben wir schon immer in einer virtuellen Realität – und ich werde den Verdacht nicht los, dass diese selbstgemachte Welt einiger Leute bunter ist als die anderer…

Nun wird aber auch umgekehrt ein Schuh daraus: Erst illustriert das Leben das Lesen, dann das Lesen das Leben. Diese Einsicht wurde mir im Speisesaal des Grand Hotels Dolder zuteil, und zwar just in dem spannenden Augenblick, als drei uniformierte Kellner wie auf ein unhörbares Signal zugleich die silbernen Hauben von den Tellern des Hauptgangs hoben. Da hatte ich die unabweisbare Evidenz, das alles schon einmal gesehen zu haben – vor dem inneren Auge der Imagination: das Halbrund des Raumes, die stuckverzierte Decke, die gedämpfte vornehme Atmosphäre, die Palmenkübel und den Klavierspieler im Hintergrund. Da es draussen inzwischen dunkel geworden war, spiegelte sich der Saal in der Fensterfront, was den Eindruck erweckte, in ein riesiges Aquarium zu blicken. Das alles hatte ich schon einmal so – oder doch ganz ähnlich – erlebt, als ich mit Proust im modischen Seebad Balbec weilte, an der Küste der Normandie.

So lässt uns die Literatur Erfahrungen machen, die uns im Leben sehr viel später erst einholen. Auch dieses freilich weiss der erfahrene Leser, und die erfahrene Leserin weiss es schon lange. Die Fälle Madame Bovary und Don Quichotte lehren, dass so etwas tragisch enden kann und manchmal grotesk zugleich. Im Grunde sind wir Langstreckenleser alle ein wenig Don Quichotte oder Madame Bovary, und da Flaubert selber einmal höchst glaubwürdig versichert hat, Madame Bovary, das sei er selbst, können wir auf diese Weise alle auch ein wenig Flaubert sein, Cervantes oder vielleicht gar Proust. (Manche allerdings wären lieber Henry Miller…)

Wolfgang Marx


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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 13.05.98