Erfolgreiche Forschung bewirkt Wissenschaftsskepsis

In der Konsequenz ihrer Erfolge verändert sich die kulturelle Geltung der Wissenschaften. Die Neigung zur Wissenschaftskritik nimmt zu. Wieso? Drei Ursachen dieses Vorgangs werden hier dargestellt: abnehmender Grenznutzen wissenschaftsabhängiger Wohlfahrt, Erinnerungsverluste, aufklärungsbewirkte Verunsicherung.

VON HERMANN LÜBBE

Niemals zuvor haben die Hochschulen und ihre Professoren in einem Ausmass wie heute statt mit Forschung und Lehre sich mit öffentlicher Nachweisung des guten Sinns ihres Tuns beschäftigt. Selbst an kleinen Hochschulen sind seit langem Pressestellen eingerichtet. Forschungsberichte, die noch vor wenigen Jahrzehnten unüblich waren, werden alljährlich im Umfang grosser Bücher vorgelegt. Universitätseigene Wissenschaftsmagazine bemühen sich, buntbebildert Laien über Forschungsfortschritte unterhaltsam zu informieren. Jahresfeiern werden heute wenig feierlich vor allem als Gelegenheiten der Rechenschaftsablegung sowie der Begründung unabweisbarer budgetärer Forderungen benutzt. Das alles bedeutet: Die Hochschulen finden sich heute verschärfter Relevanznachweispflicht unterworfen.

Kultureller Geltungswandel der Wissenschaften

Wieso ist das so? Das hat viele Gründe ­ von der wachsenden kulturellen und politischen Mächtigkeit öffentlicher Meinung in einer massenmedial integrierten Gesellschaft bis hin zu Knappheitserfahrungen, deren Intensität rascher zunimmt als der Zuwachs öffentlicher Haushalte abnimmt. Hier soll exklusiv von einigen Veränderungen in der öffentlichen Geltung der Wissenschaften die Rede sein, von deren Auswirkungen auch die Hochschulen betroffen sind.

Gewiss: Der universitäre Anteil an der insgesamt geleisteten Forschungsarbeit ist, gemessen anden nationalen Forschungsmittelaufwendungen insgesamt, überall stark zurückgegangen. In der Schweiz, wo über siebzig Prozent dieser Mittel ausserhalb der Hochschulen, vor allem in der Industrie, ausgegeben werden, ist er sogar grösser als in jedem anderen europäischen Land. Nichtsdestoweniger unterliegen auch die Universitäten und sonstigen Hochschulen als Forschungsinstitutionen dem kulturellen Geltungswandel der Wissenschaften uneingeschränkt, und von drei Aspekten dieses Wandels soll hier die Rede sein.

Befindlichkeitskomplement der Erfolge der Wissenschaft

Erstens: Mit dem Niveau wissenschaftsabhängiger Wohlfahrt steigt zugleich die Empfindlichkeit gegenüber unangenehmen Folgelasten genutzter Wissenschaft. ­ Als reichlich dramatische Kennzeichnung dieses Effekts kam schon vor einem Vierteljahrhundert die Formel von der sich ausbreitenden Wissenschafts- und Technikfeindschaft auf. Nicht in Europa wurde diese neue Befindlichkeit zuerst diagnostiziert und demoskopisch vermessen, vielmehr in den USA und dort in Kalifornien. Mit neoromantischer Schätzung vermeintlicher Vorzüge vormoderner Lebensverbringung hat das wenig zu tun. Es handelt sich vielmehr um wissenschaftskulturelle Auswirkungen abnehmenden Grenznutzens weiterer Steigerung wissenschaftsabhängiger Wohlfahrt auf bereits erreichtem hohem Wohlfahrtsniveau. Exemplarisch bedeutet das: Mit der gesundheitsdienlichen Wirksamkeit moderner Pharmazeutika erhöhen sich zugleich unsere Ansprüche auf Risikofreiheit dieser Produkte, und die pharmaziekritische Literatur wird in eins mit der Pharmazie selber erfolgreich.

Und so in allem: Die forschungsabhängig erreichbar gewordenen Sicherheitsstandards technischer Geräte erhöhen zugleich die Publizität, die dennoch eintretende Unfälle finden, und das Haftungsrisiko, gegen das sich heute in einem Umfang wie nie zuvor unsere Ärzte zu versichern haben, wächst mit der therapeutischen Effizienz ihres Tuns.

Es wäre ein Missverständnis, und es bliebe eben deswegen auch wirkungslos, sich über die in allen modernen Gesellschaften wachsende Neigung zur Wissenschaftskritik moralisierend beklagen zu wollen. Diese Neigung ist vielmehr das Befindlichkeitskomplement der Erfolge der Wissenschaft, und sie ist überdies nützlich. Sie lenkt die Forschung in produktiver Weise auf Probleme der Nebenfolgenbeherrschung und Risikoabsenkung, und der Politik wachsen Potentiale der Zustimmung der Bürger zu den Kosten technisch möglich gewordener Erhöhung ökologischer Standards zu.

Kulturelle Folgen von Erinnerungsverlusten

Zweitens: Die Wissenschaften finden sich mit wachsender Dynamik des Forschungsfortschritts durch kulturelle Folgen von Erinnerungsverlusten belastet. ­ In Epochen zivilisatorischer Evolution mit niedrigen Innovationsraten sind Erinnerungen an frühere Zeiten relativ zuverlässig, weil die Konstanz der Lebensverhältnisse über die Zeiten hinweg relativ gross ist. Mit fortschrittsabhängig dynamisierter Veränderung unserer zivilisatorischen Lebensvoraussetzungen hingegen nimmt die Verlässlichkeit unseres Vergangenheitswissens ab, und wir neigen zu erinnerungsdefizitären Urteilen über Nutzen und Nachteil unserer Gegenwartslage.

Exemplarisch heisst das: Wir haben, fortschrittsabhängig, inzwischen zumeist vergessen, an welchen Krankheiten unsere Vorfahren noch vor vier, fünf Generationen überwiegend starben, und zwar im statistischen Durchschnitt früher als wir heute. Vom Anteil der Medizin an der Zurückdrängung dieser Krankheiten wissen wir gemeinhin wenig, und um so mehr überraschen uns heute die dramatisch anwachsenden Forschungskosten, die für den Kampf gegen die ganz anderen Krankheiten aufgebracht sein wollen, an denen wir, statt an den inzwischen einigermassen beherrschten, in einem höheren Durchschnittsalter heute sterben.

Für die ökologischen Aspekte moderner Lebensverbringung gilt Analoges. Berichte über Chemiewerksunfälle mit hohen Todesraten erschüttern uns medial. Aber im Regelfall sind wir mangels historischer Vergleichsmöglichkeiten nicht in der Lage, die Schreckensfolgen dieser Unfälle gegen die Hungerfolgen stark schwankender Ernteerträgnisse zu bilanzieren, zu deren Verstetigung nicht zuletzt die Chemie beigetragen hat. Der Wald, gewiss, ist geschädigt. Aber wissen wir noch, wie er aussah, als die Energieknappheit vor allem eine Holzknappheit war, von der uns dann erst die moderne Montantechnik befreit hat?

Man erkennt: In der modernen, dynamischen Zivilisation sind wir auf Wissen aus historischer Forschung angewiesen, um unsere Gegenwart, die uns zu schaffen macht, mit unseren Vergangenheiten verknüpft halten zu können, und ohne solche Verknüpfung der Zeiten sind wir zu einer angemessenen praktischen Einschätzung dessen, wie Wissenschaft und Technik unsere Lebensbedingungen verändert haben, nicht in der Lage.

Das bedeutet: Auch die Naturwissenschaften, die Medizin und die Technikwissenschaften sind heute zur Erhaltung und Stabilisierung ihrer kulturellen Geltung auf Leistungen des historischen Bewusstseins angewiesen. Zugleich aber scheint sich fortschrittsabhängig der Riss zwischen Gegenwart und Vergangenheit rascher zu öffnen als wir jenes historische Wissen erzeugen und kulturell wirksam machen können, das wir brauchen, um über diesen Riss hinweg den Lebenssinn des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts verständlich halten zu können.

Vertrauenskündigungen und Aufklärungsbedarf

Drittens: Mit der Lebensweltferne wissenschaftlichen Wissens wachsen die Kosten akzeptanzerhaltender Aufklärung über den wissenschaftlichen Fortschritt, und zugleich sind wissenschaftsskeptische Nebenwirkungen dieser Aufklärung unvermeidlich. – An den Unterschied von Laienwissen und Expertenwissen sind wir seit alters gewohnt. Vertrauen ist der Kitt, der beiderlei Wissen sozial zusammenbindet. JederPatient, der seinem Arzt vertraut, erfährt das, und für die Nutzung wissenschaftsbasierter technischer Systeme gilt dasselbe. Aber mit dem Ausmass der Wissenschaftsabhängigkeit moderner Lebensvoraussetzungen, an deren Vorzugsnatur wir normalerweise gar nicht zweifeln, wächst die Menge der Vertrauensakte, die wir alltäglich setzen müssen, um psychisch unbeschädigt durch den Tag zu kommen, dramatisch an – von der morgendlichen Einnahme eines von der Werbung mit Hinweis auf mögliche Nebenwirkungen empfohlenen Kräftigungsmittels bis hin zur Akzeptanz behördlicher Genehmigung der Leistungserhöhung eines benachbarten Kernenergiewerks auf der Basis wissenschaftlicher Expertisen, die minimale Restrisiken konstatieren.

Metaphorisch gesprochen heisst das: Der Blackbox-Charakter unserer Zivilisation gewinnt mit der Verwissenschaftlichung dieser Zivilisation an Aufdringlichkeit. Dabei nimmt mit der Komplexität dieser Zivilisation zugleich die Wahrscheinlichkeit realer oder auch vermeintlicher Anlässe für Vertrauensaufkündigungen zu, und komplementär dazu wächst der Aufklärungsbedarf, den die Wissenschaftler über die eingangs skizzierten wissenschaftspublizistischen Aktivitäten zu bedienen suchen.

In der Tat war in keiner früheren Zivilisationsepoche popularisiertes wissenschaftliches Wissen weiter verbreitet als heute. Gleichwohl bedeutet das nicht, dass das die Vertrauensbasis der Forschung eo ipso festigte. Es ist nämlich unvermeidlich, dass mit der Komplexität unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation zugleich auch die Menge prekärer Vorgänge und Ereignisse grösser wird, über die auch unter Experten vertrauensstabilisierende Meinungseinhelligkeit nicht erreichbar ist. Es ist nicht irrational, vielmehr rational, dass darauf der Laie und damit der Stimmbürger mit Zustimmungsenthaltung reagiert.

Zusammenfassend und in der Wiederholung gesagt bedeutet das: Für die Wissenschaften und mitfolgend auch für die Hochschulen als wichtigen Stätten der Forschung erhöht sich in der Konsequenz ihrer Erfolge – und nicht etwa ihrer Misserfolge – der Aufwand, den sie heute komplementär zum Forschungsaufwand für Nachweise des guten Sinns und der Unvermeidlichkeit dieses Aufwands zu erbringen haben.


Dr. Hermann Lübbe ist Honorarprofessor der Universität Zürich.


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Nicolas Jene (
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Last update: 09.07.97