Die Universität: jenseits der zwei Kulturen

Universitäten haben neben ihren überzeitlichen Aufgaben auch zeitabhängige Funktionen. Angesichts der dringenden Probleme ist heute die Übernahme von Aufgaben mit einer sozialen Relevanz besonders gefragt. Der Autor entwirft ein Bild der (europäischen) Universität jenseits der zwei Kulturen, die sich vor konkrete gesellschaftliche Herausforderungen gestellt sieht: vor die Herausforderung der Umwelt, der Nachhaltigkeit, des Pluralismus und der Verantwortung.

VON WALTHER CH. ZIMMERLI

Die Universitäten sind bienenfleissig dabei, sich aus einem ideologischen Arm des Staates in bürokratisch organisierte und relativ autonome, kundenorientierte Unternehmen zu verwandeln.» Dieser Satz stammt nicht etwa aus einer Zürcher Rektoratsrede oder einem politischen Manifest von Vertretern des «New Public Management»: Er bezieht sich gar nicht auf europäische Universitäten, sondern auf diejenigen Nordamerikas; er steht nachzulesen in Heft 26/1995 der «New Literary History». Und er ist kritisch gemeint! Wir sehen: Selbst in Kanada und in den Vereinigten Staaten wird die Transformation der Universitäten nicht mit ungeteilter Begeisterung begrüsst.

 
Jenseits der zwei Kulturen: Inwieweit kann die Universität ein Stück ETH und die ETH ein Stück Universität werden?

Die Idee der Universität

Auch in den gelobten Ländern der modernen, flexiblen und schlagkräftigen Hochschulen ist Nachdenklichkeit eingekehrt. Warum? Weil den Nachdenklichen unter den Universitätsreformern aufgefallen ist, dass ob all der Transformationen und Strukturveränderungen das abhanden gekommen ist, was Karl Jaspers 1923 und dann erneut 1946 «die Idee der Universität» genannt hat. Uns ist über der Veränderung der Form der Inhalt abhanden gekommen. Globalhaushalte, Dezentralisierung, flache Hierarchie, Profit Centers und individuelle Kreditverantwortung beschäftigen uns. Irgendwie hoffen wir, damit den Vorsprung, ein Stück weit jedenfalls, wieder aufzuholen, den die Universitäten in den genannten gelobten Ländern haben.

Und das ist auch sicher gut so! Aber die kritischen Stimmen, die sich in den USA und in Kanada gegen die dortigen Universitäten erheben, sollten uns zu denken geben. Sie sagen uns: Verwaltungs- und Verantwortungsstrukturen, privatwirtschaftliche und marktfähige Organisation der Universitäten sowie deren Qualitätskontrolle durch regelmässige «Peer review» sind nur notwendige, keinesfalls aber hinreichende Bedingungen für die Universität des 21. Jahrhunderts. Dafür braucht's neben dem Universitätsgesetz mehr und anderes – eben die «Idee der Universität»!

Neue Herausforderungen

Universitäten haben – darauf kann man sich allem Wertepluralismus zum Trotz vermutlich einigen – neben ihren überzeitlichen Aufgaben (Jaspers: «die Wahrheit in der Gemeinschaft von Forschern und Schülern zu suchen») auch zeitabhängige Funktionen. Diese rücken immer dann besonders deutlich ins Bewusstsein, wenn die eingeschliffenen Selbstverständlichkeiten einer Kultur nicht mehr greifen oder gar zerbrechen.

In einer solchen Situation leben wir heute; und vermutlich würden nicht wenige Menschen auf Befragen sagen, es sei die Globalisierung, die hinter all der Veränderung und Verunsicherung stecke. Aufgrund der Globalisierung ist die Welt ein Dorf geworden, eben ein «Global village», und es sieht nicht so aus, als könnte man irgendetwas dagegen tun, selbst wenn man wollte. Die andere Seite der Medaille ist jedoch ein kompensatorischer Trend zur Regionalisierung. Während die Globalisierung die Welt auf dörflich Masse zusammenschrumpfen lässt, dehnt die Regionalisierung sie umgekehrt auf ein fast unvorstellbares Mass an Diversität und Pluralität aus. Und während die Globalisierung die Menschen unter das Joch universaler Vorurteile zwingt, scheint die Regionalisierung in der Lage zu sein, sie wieder zu ihrer Individualität zu befreien, wenn man Denkern wie Michael Walzer oder Richard Rorty Glauben schenken darf.

Befragt man das Janusantlitz von Globalisierung und Regionalisierung jedoch weiter, so zeigt sich hinter ihm schon bald der dominierende Zug unseres Zeitalters, der auch diese Komplementarität erst möglich macht: Globalisierung und Regionalisierung haben die Technologisierung unserer Welt zur Voraussetzung. Nicht nur Wissenschaft und Wirtschaft ist von diesem Ultra-Megatrend betroffen; er greift mitten hinein in unsere Lebenswelt. Ohne extrem schnelle Supercray-Rechner und weltweite elektronische Datenbanken könnte unsere Wissenschaft ebensowenig funktionieren wie unsere Wirtschaft ohne CNC-Steuerungen oder CAD und CIP.

Unser Alltag ist nicht nur dadurch technologisch «kolonialisiert», dass E-mail und Netchats in interaktiven Multi User Domains (MUDs) an der Tagesordnung sind, sondern die Technologisierung hat, gleichsam hinter unserem Rücken, auch bereits ihren Siegeszug bis ins Herz unserer Kultur vorangetrieben: Die drei traditionellen Kulturtechniken von Sprechen/Hören, Rechnen und Schreiben/Lesen werden zunehmend von der integrativen vierten Kulturtechnik, der Nutzung von (vernetzten) Computern, abgelöst.

Dadurch aber verschieben sich auch zwei traditionelle Denkmuster, was die Aufgabe (um nicht zu sagen: Mission) der Universität betrifft: Zum einen nämlich wird die Vorstellung obsolet, Technik sei nur eine Art Anwendung (natur)wissenschaftlicher Ergebnisse; zum anderen erweist die von C. P. Snow wirkungsvoll vorgetragene These, unsere Gesellschaft zerfalle in «two cultures», die literarisch-künstlerische und die wissenschaftlich-technische, als dysfunktional, mehr noch: als zukunftsgefährdend.

Um es in eine knappe Formel zu fassen: Die (Natur)wissenschaften sind in dem Masse technisch geworden, in dem die Technik verwissenschaftlicht wurde. Und die meisten der dadurch nicht etwa gelösten, sondern allererst produzierten Probleme (Stichwort «Technikfolgenabschätzung») erfordern zu ihrer Lösung Kenntnisse und Fähigkeiten nicht allein aus dem Bereich von Natur- und Ingenieur-, sondern auch von Geistes- und Sozialwissenschaften. Das aber – und nicht allein Erfordernisse einer effizienteren Verwaltung oder eines besseren und kostengünstigeren Managements – ruft gebieterisch nach einem Paradigmenwechsel, was die Aufgaben der Hochschulen betrifft, und zwar sowohl im Bereich der Natur- und Ingenieurwissenschaften als auch in demjenigen der Geistes- und Sozialwissenschaften. Wir sind gehalten, uns auf die Universität jenseits der «Zwei Kulturen» zuzubewegen.

Dabei lassen sich im einzelnen mindestens vier Herausforderungen bereits heute identifizieren:

  1. Da ist zum einen, nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für alle aufmerksamen Zeitgenossen unübersehbar, die Umweltherausforderung. Jede wissenschaftliche, technische oder, wie ich lieber sage: jede technologische Lösung wird an ihrem Einfluss auf die Umwelt gemessen werden. Das aber setzt die Fähigkeit zu ökologischer Abwägung und zum Denken in Netzwerken voraus.
  2. Das führt uns zur Nachhaltigkeitsherausforderung. Die einzige Art von Entwicklung (oder gar Fortschritt), die wir heute noch akzeptieren können, ist nachhaltige Entwicklung ­ wenn auch die meisten von uns nicht wissen, was das ist! Nachhaltige Entwicklung («Sustainable development») ist zu einer Zielvorstellung nicht nur der entwickelten Industrienationen, sondern aller Länder dieser Welt geworden, denn damit ist eine Optimierungsfunktion von Umwelt-, Sozial- und Ökonomiever-träglichkeit über längere Zeit gemeint.
  3. Der politisch-soziale Rahmen, in dem solches Denken unabdingbar wird, scheint ebenfalls weltweit ähnlich zu sein: Nach dem Ende von Ideologien wie Sozialismus oder Apartheid stehen wir ­ negativ formuliert ­ vor dem Zusammenbruch der Einheit oder ­ positiv formuliert ­ vor der Pluralismusherausforderung. Dieser neue Pluralismus darf indessen nicht mit früheren Formen verwechselt werden. Es handelt sich dabei nicht um einen «netten» Pluralismus erster Ordnung, der sich in Toleranzpostulaten erschöpft. Gefordert ist vielmehr ein Denken und Handeln unter Bedingungen eines «radikalen» Pluralismus zweiter Ordnung, der nach Denkmodellen und Verfahren ruft, Diversität und Dissens nicht aufzulösen, sondern zu leben.
  4. Die übergreifende Herausforderung bildet daher die Verantwortungsherausforderung. Zu fordern, dass die Angehörigen der Hochschulen, seien es Lehrende oder Lernende, in der Lage sein sollten, verantwortlich zu denken, zu lehren, zu forschen und zu handeln, heisst: Sie sollen in ihrem Denken, Lehren, Forschen und Handeln sich nach den Prinzipien der Umweltherausforderung und der Nachhaltigkeit unter Bedingungen einer pluralistischen und zuweilen auch multikulturellen Gesellschaft richten.

Die neue Universitätskultur

Der Blick auf die nordamerikanischen Universitäten und deren Schwierigkeiten lehrt uns, dass es einen Fehler gibt, den wir auf jeden Fall vermeiden müssen. Wenn man dem Erziehungsphilosophen Bill Reading aus Montreal Glauben schenken will, dann besteht dieser Fehler darin, an die Stelle der alten Universitätsideen der nationalen oder kulturellen Identität nun die blosse Exzellenz zu setzen. So paradox es klingen mag: Exzellenz ist wertfrei. Das heisst, dass man in jeder beliebigen Hinsicht exzellent sein kann, wie sich etwa daran illustrieren lässt, dass, wie Jonathan Culler berichtet, das Cornell University Parking System 1994 einen Preis für «Excellence in parking» erhielt. Prämiert wurde damit übrigens die Effizienz, mit der Autobenutzer am Parken gehindert wurden (was im Fall Cornells geographisch leichter ist als bei anderen Universitäten).

«Centers of excellence» sind zwar etwas Erstrebenswertes, aber es bedarf über die blosse Exzellenzforderung hinaus einer Entscheidung dafür, worin man gerne besonders exzellent sein möchte; in der Terminologie des «New Public Management» ausgedrückt: wo und wie man sich am Markt plazieren möchte. Wenn das bisher Ausgeführte berücksichtigt wird, dann scheint mir evident zu sein, dass heute alle Hochschulen ­ die einen mehr, die anderen weniger ­ sich daran messen lassen müssen, ob und wie sie in ihrer Forschung und ihrer Lehre einen Beitrag zur Bewältigung der vier genannten Herausforderungen leisten. Wer sich an ihnen misst, stellt sein Leben aufs Denken, und zwar auf das der Zukunft.

Die neue Leitidee der Universität, ihre «Mission» ist es mithin, als Zukunftswerkstätte ihrer gesellschaftlichen Herausforderung gerecht zu werden. Und hier können wir nun wieder von einem Blick über den Grossen Teich lernen: Dort machen die staatlichen Universitäten mobil, weil sie ihren öffentlichen Auftrag wiederentdeckt haben: nicht in erster Linie privatwirtschaftlich gut funktionierende Unternehmen zu sein, sondern den öffentlichen Zukunftsauftrag der Gesellschaft wahrzunehmen, die sie bezahlt; «New Public Responsibility» statt bloss «New Public Management».

Brückenschlag ETH/Universität

Eine Universität , die sich auf diesen Auftrag «beyond the two cultures» einlässt, wird desto erfolgreicher sein, je besser es ihr gelingt, die schizoide Trennung zwischen der wissenschaftlich-technischen und der literarisch-künstlerischen Kultur zu überwinden. In Zürcher Geographie übersetzt: je besser ein Brückenschlag über die Karl Schmid-Strasse hinweg (H. H. Schmid) gelingt. Welche Universität der Welt hat schon das einmalige Privileg, eine ETH gleich nebenan zu haben; und welche Technische Hochschule kann sich rühmen, eine renommierte Universität als Nachbarn zu haben?

Nur reicht das allein eben noch nicht. «Haben oder sein» ­ das ist hier die Frage. Die Zukunftsfähigkeit der Menschen unter Bedingungen von Globalisierung, Regionalisierung und Technologisierung hängt auch davon ab, wie stark die Universität ein Stück weit ETH wird, und ob es der ETH gelingt, sich zu einem Teil universitär zu transformieren. Ein Kulturinstitut beider Hochschulen, das die Speerspitzenfunktion eines «Institute for Advanced Studies» in diesem Schnittbereich ausüben könnte, wäre ein erster, weltweit unübersehbarer Schritt in die richtige Richtung ­ wenn es auch die Richtung Europa ist, denn wer sollte den Schritt «beyond the two cultures» tun können, wenn nicht Europa, von dem sie beide ausgingen. Und warum sollte nicht auch einmal die Schweiz Vorreiter Europas sein?


Literatur

Walther Ch. Zimmerli (Hrsg.), Wider die «Zwei Kulturen». Fachübergreifende Inhalte in der Hochschulausbildung. Berlin/Heidelberg/New York: Springer, 1990 (ISBN 3-540-52387-1).

Walther Ch. Zimmerli, Technologie als «Kultur». Braunschweiger Texte. Hildesheim: Olms und Weidmann 1997 (ISBN 3-487-10290-0).


Dr. Walther Ch. Zimmerli ist ordentlicher Professor für Systematische Philosophie an der Philipps-Universität Marburg; er hat regelmässig einen Lehrauftrag an der Universität Zürich inne.


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Last update: 09.07.97